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Ausgabe:

1912 Nr. 20

Spalte:

631-632

Autor/Hrsg.:

Suter, Jules

Titel/Untertitel:

Die Philosophie von Richard Avenarius 1912

Rezensent:

Kowalewski, Arnold

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 20.

632

— einleitend von Anlaß und Bedeutung der Einzeldokumente
gehandelt, den gefchichtlichen Zufammenhang, fo-
weit dies in Kürze tunlich, vorgelegt und die erforderlichen
literarifchen Nachweife reichlich beigefügt. So ift
es ihm gelungen, ein fehr zweckmäßiges Werk herzuftellen,
welches nicht allein bei feminariftifchen Übungen, auf die
es ja in erfter Linie zugefchnitten ift, fondern überhaupt
bei dem Studium der Reformationsgefchichte die beften
Dienfte leiften kann. Schade, daß der Umfang fo groß
werden mußte — mit dem Index 742 Seiten — und demgemäß
auch der Preis fo hoch, daß auf eine Verbreitung
in weiteren Kreifen, wenigftens in Deutfchland,
nicht gerechnet werden kann.

Königsberg. Benrath.

Briefe aus Klein-Afien von einem Frühvollendeten. Hrsg. v.
Julius Schönewolf. (211 S. m. 2 Bildniffen u. 1 Karte.)
Gr. Lichterfelde-Berlin, E. Runge 1910.

M. 3.50; geb. M. 4.50

Ein großer Teil der Schönewolffchen Briefe wurde
bereits in der ,Chriftl. Welt' veröffentlicht und hat dort
verdiente Achtung gefunden. Die Buchausgabe rechtfertigt
fich durch die Erweiterung des aufgenommenen
Stoffes und die in der Tat ungewöhnliche Perfönlichkeit
des fo früh abgerufenen Seelforgers der evangelifchen
Deutfchen im Bagdadbahngebiet. Aus den Briefen fpricht
vor allen Dingen eine zugleich ergreifend und pofitiv
fruchtbare religiöfe Natur, die fich in der kurzen Zeit ihres
Wirkens eine unbefchreibliche Liebe bei ihren geiftlichen
Pflegebefohlenen erwarb. Was fonft noch aus dem Buche
gewonnen werden kann, ift eine Vorftellung der im deutfch-
nationalen Intereffe jammervoll unwürdigen Zuftände an
der anatolifchen und Bagdadbahn. Schönewolf hat fich
in der urfprünglichen Geftalt feiner Briefe auch direkt fehr
deutlich ausgefprochen. Bereits in der ,Chriftl. Welt'
wurde aus Rückficht auf die Bahngefellfchaft Vieles ge-
ftrichen und gemildert; in der Buchausgabe ift das noch
mehr der Fall. Wer zwifchen den Zeilen zu lefen ver-
fteht, wird fich das Fehlende nur zu leicht ergänzen können.

Friedenau b. Berlin. Paul Rohrbach.

Suter, Dr. Jules: Die Philofophie v. Richard Avenarius. Dar-
ftellung u. erkenntniskrit. Würdigg. (166 S.) gr. 8°.
Zürich, Gebr. Leemann & Co. 1910. M. 3.50

Der Empiriokritizismus von Avenarius konnte trotz
eifrigfterBemühungen feiner Anhänger bisher kein größeres
Publikum finden. Man flößt fich fchon an feinem wunderlichen
terminologifchen Luxus, der faft fcholaftifch anmutet
. Auch die fchier erdrückende Fülle der verarbeiteten
fpezialwiffenfchaftlichen und fonftigen Erfahrungsdaten
überfteigt die Faffungskraft der meiften Lefer. Es
gehört großer intellektueller Mut dazu, fich von neuem
an diefe fpröde Philofophie heranzuwagen. Suter hat
feine Arbeit recht zweckmäßig angelegt. Er drängt die
Darftellung der Avenariusfchen Lehre auf den engen
Raum von 43 Seiten zufammen und weift dabei der
Analyfe der beiden Hauptwerke des Meifters (.Kritik der
reinen Erfahrung' und ,Der menfchliche Weltbegriff') ge-
fonderte Abfchnitte zu. In folcher Konzentration und
Dispofition gewinnen die Kerngedanken des Empiriokritizismus
bedeutend an Klarheit. Die .Kritik', die fich der
Zweigliederung des darftellenden Teils anfchließt, ift be-
fonders ausführlich gehalten. Hier findet S. Gelegenheit,
Einwände hervorragender Avenarius - Kritiker (Wundt,
Höffding u. a.) abzuwehren, deckt aber auch feinerfeits
manche fchwachen Punkte auf. Sehr intereffant ift u. a.
der Nachweis, daß der Empiriokritizismus transfzendente

Größen ftatuiert, die feinem Immanenzprinzip wider-
fprechen. Ein Schlußabfchnitt verfucht die hiftörifche
Einordnung von Avenarius.

Königsberg i. Pr. A. Kowalewski.

Wentlcher, Elfe: Der Wille. Verfuch einer pfychologifchen
Analyfe. (X, 189 S.) 8°. Leipzig, B. G. Teubner 1910.

M. 2.40; geb. M. 2.80

Das Buch ftellt fich die Aufgabe, .durch eine Analyfe
der Bewußtfeinsvorgänge und durch wiffenfchaftliche Deutung
der gegebenen Tatbeftände eine Erkenntnis der
Natur des menfchlichen Wollens zu gewinnen und dadurch
eine kritifche Stellung zu einigen modernen Willenspfycho-
logien zu erlangen'. Zugleich will es wenigftens andeuten,
wie die gewonnene pfychologifche Erkenntnis im Leben,
vor allem im Gebiete der Pädagogik, zu verwerten fei.

Die Refultate, zu denen es kommt und auf die es
Wert legt, dürften fich etwa folgendermaßen zufammen-
faffen laffen. Für den Willen ift es charakteriftifch, daß
es fich dabei ftets um eine .gebilligte Entfcheidung', um
eine .gebilligte Zielfetzung' handelt. Deshalb können
wir, wo wir wollen, der Macht augenblicklicher Reize
begegnen, .indem wir die momentanen Motive wägen und
werten nach dem Maßftab unferer Einficht und unferer
als dauernd verbindlich erkannten Wertgefühle und fitt-
lichen Ideale, die unwillkürlich oder willkürlich bei der
Entfcheidung wieder in uns erregt werden'. Somit find
auch die .menfchlichen Willenshandlungen' etwas anderes
als die .triebhaften Reaktionen, die wir im Leben der
Tiere fowie im feelifchen Beftande deffen finden, der fich
allein von feinem Begehren treiben läßt'. In diefen Reaktionen
wird nämlich allein der momentane Reiz, in jenen
dagegen ,eine Fülle von Gefühlen und Vorftellungen, ja
verwickelten Gedankengängen wirkfam, die den Reiz unter
Umftänden völlig kompenfieren', und ,in denen wir die
eigentliche Perfönlichkeit des Wollenden zu erblicken
haben'.

Mit alledem foll nicht behauptet werden, daß es ein
befonderes .Willenselement' neben dem Fühlen und Vor-
ftellen gebe. Vielmehr geht eben aus dem Gefagten hervor
, daß unfer Wollen ftets lediglich eine .Komplikation
unferes Fühlens und Vorftellens darfteilt', jedoch eine
folche, die gegenüber den niederen Formen, aus denen
fie hervorgegangen ift, ein Neues, ein .bisher nicht Ge-
wefenes', ein ,Höheres' bedeutet.

Aus der genaueren Betrachtung des gewonnenen Er-
gebniffes wird weiter gefolgert, daß ein .freies' Wollen
im Sinne des Indeterminismus nicht möglich fei. Zugleich
aber wird gezeigt, daß dadurch die Verantwortlichkeit
nicht ausgefchloffen fondern erft recht plaufibel werde.

Zum Schluß werden die aufgeftellten Beftimmungen
über das Wefen des Willens einerfeits abgegrenzt gegen
dieAnfchauungenEbbinghaus', Münfterbergs und Spencers.
Sieht doch der erftere in der Willenshandlung lediglich
einen .vorausfchauenden Trieb', während der zweite bei
der bekannten Definition ausmündet: ,der Wille befteht
aus nichts weiter als aus der von affoziierten Kopfmuskel-
Spannungsempfindungen häufig begleiteten Wahrnehmung
eines durch die eigene Körperbewegung erreichten Effektes
mit vorhergehender, aus der Phantafie, d. h., in letzter
Linie aus der Erinnerung gefchöpften Vorftellung des-
felben'. Desgleichen werden die aufgeftellten Beftimmungen
anderfeits abgegrenzt gegen die Anfchauungen
| James', Lipps' und Heinrich Maiers, von denen beifpiels-
| weife der letztere eine voluntariftifche Pfychologie in dem
! Sinne vertritt, daß das .Wollen für ihn die Grundform des
feelifchen Gefchehens darftellt' und er von einem .Ichwillen'
redet, ,der fich durch die Begehrungstendenzen hindurch
bewegt'. Dagegen wird ftark die Verwandtfchaft der vorgetragenen
Willenspfychologie mit derjenigen Meumanns
betont, von der fie fich indeffen noch immer infofern