Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1912 Nr. 19

Spalte:

600-601

Autor/Hrsg.:

Hold von Ferneck, Alexander Freiherr

Titel/Untertitel:

Die Idee der Schuld. Eine strafrechtliche Studie 1912

Rezensent:

Köhler, August

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

599

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 19.

600

bin, muß mich aber mit einzelnen Andeutungen begnügen,
nicht weil eine Auseinanderfetzung mit dem Buch fich
überhaupt nicht lohnte — das Gegenteil ift der Fall —,
fondern mit Rückficht auf den zur Verfügung flehenden
Raum.

Von vorn herein verzichte ich auf eine Diskuffion
über den .Inhalt' der reinen Religion. Der Autor gibt
felbft mit rückhaltlofer Offenheit zu, daß feine diesbezüglichen
Ausführungen im Grunde perfönlich und individuell
bedingt find, wie denn überhaupt die große, aller
Selbfttäufchung und Verfchleierung abholde Redlichkeit
ein fympathifcher Vorzug des vorliegenden Buches ift.

Dagegen beftreite ich, daß die Metaphyfik — gemeint
ift von Richter felbft die rein theoretifch fundierte
Metaphyfik — eine unentbehrliche Vorausfetzung der
Religion fei. Ich beftreite das in Ubereinftimmung nicht
nur mit zahlreichen Religionsphilofophen von Schleiermacher
bis auf H. Maier, fondern auch mit folchen Theologen
, die, wie Wobbermin und Wendland, zwar die
Metaphyfik zur Religion hinzurechnen, aber unter der
Metaphyfik wefentlich eine emotional und praktifch fundierte
Weltanfchauung verliehen. Die Gefchichte lehrt
ja auch, daß wo immer eine theoretifche Metaphyfik in
die Religion hineingetragen wird, in diefe etwas Fremdes
hineinkommt; man denke nur, um von andern Beifpielen
zu fchweigen, an das landläufige Urteil über den Brah-
manismus. Umgekehrt behaupte ich, daß die allerdings
mit der Religion ftets verknüpfte Weltanfchauung, die
religiöfe Weltanfchauung emotional fundiert, daß die
religiöfen Vorftellungen und Urteile durchweg, mit Reifchle
zu fprechen, ,thymetifche Urteile' feien. Daß es fo ift,
läßt fich durch eine pfychologifche Analyfe erhärten.

Was aber den Wahrheitsbeweis für diefe emotional
begründete religiöfe Weltanfchauung betrifft, fo beftreite
ich gleichfalls, daß er durch eine rein theoretifche Metaphyfik
zu erbringen fei. Vielmehr läßt fich die Wahrheit
der Religion und der religiöfen Urteile vor dem Forum
des theoretifchen Erkennens wesentlich nur dartun durch
den Nachweis, daß die Religion für den denkenden j
Menfchen eine notwendige Vorausfetzung der Weltbe-
herrfchung, mithin auch des theoretifchen Erkennens oder,
genauer gefprochen, einer unantaftbaren Wahrheits- und
Gültigkeitsgewißheit des theoretifchen Erkennens ift.

Diefe wenigen Bemerkungen dürften genügen, um
zur Anfchauung zu bringen, daß das Richterfche Buch
trotz des mancherlei Anfechtbaren, das es enthält, reich
ift an Anregungen, auch für den Theologen. Denn es
wirft ein neues, aber freilich auch wieder altes, Ferment
in die religionsphilofophifche Diskuffion. Ift es doch,
von anderem abgefehen, ein, zwar für den Unterzeichneten
entfchiedenes, für einzelne aber noch immer nicht ent-
fchiedenes und doch brennendes Problem, ob die religiöfen
Vorftellungen und Urteile durchweg theoretifchen,
das heißt, .kognitiven' oder aber emotionalenUrfprungs find.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Hunzinger, Prof. D. Dr. A. W.: Das Wunder. Eine dog-
matifch-apologet. Studie. (VIII, 165 S.) 8°. Leipzig,
Quelle & Meyer 1912. M. 3—; geb. M. 3.40

Hunzinger verwirft den alten Wunderbegriff, nach
welchem Wunder Ereigniffe contra naturam feien. Er
tadelt überhaupt an der orthodoxen Wunderapologetik,
daß fie die Wunderfrage nur im Rahmen der Fragen
nach Schöpfung und Natur behandle. Ein richtiges Ver-
ftändnis gewinne man erft durch die Erkenntnis, daß die
gefamte Heilsoffenbarung Gottes den Charakter des Wunders
trage, da fie dem bloß natürlichen Leben gegenüber
ein Übernatürliches wirke. H. geht wie R. Seeberg, mit
dem er am meiften übereinftimmt, davon aus: das Wort
Gottes wirkt im Menfchen eine wunderbare Umwandlung.
Weil in ihr ein transfzend enter Faktor wirkfam wird, fei
dies ein Wunder im ftrengen Sinne zu nennen. Diefe

Wandlung gefchieht aber nicht ohne Beziehung zu der in
der Bibel bezeugten Heilsgefchichte. Folglich trägt die
ganze Heilsgefchichte wunderhaften Charakter. Es kann
daher nicht auffallen, wenn auch einzelne Wunderberichte
in ihr vorkommen. Diefe Betrachtung foll nun zwar nicht
(wie es noch bei Fr. H. R. Frank der Fall ift) alle
Wunderberichte in Baufch und Bogen rechtfertigen. Die
hiftorifche Kritik folle ftets mitreden. Aber die Tatfache,
daß auffallende, unerklärliche Dinge berichtet werden,
dürfe nicht als Kriterium der Ungefchichtlichkeit des
Berichts gelten. H. befchränkt alfo nicht wie frühere
Apologeten den Wunderbegriff auf die biblifchen Wunder.
Er lobt Seeberg, Stange, Herrmann und den Referenten,
daß fie vom gegenwärtig erfahrbaren Wunder reden. Aber
der wunde Punkte von Hunzingers Beweisführung liegt
darin, daß er über den Unterfchied gegenwärtig erlebter
Gotteswirkungen und wunderbarer Fügungen von einer
Reihe biblifcher Wunderberichte viel zu fchnell hinwegkommt
. Wer die Gleichartigkeit heutiger Erlebniffe mit
den früheren fo ftark betont, wie H. es mit Recht tut,
dürfte nicht mit dem fpringenden Punkt fo fchnell fertig
werden, daß die biblifchen Erzählungen teilweife Ereigniffe
berichten, die fich den Analogien heutiger Erfahrung
entziehen und darum die Kritik herausfordern. Am be-
denklichften fcheint mir die Ausführung aufS. 153. Weil
von vielen Wundererzählungen auch heute noch religiöfe
Wirkungen ausgehen, feien fie gefchichtliche Wirklichkeit.
Als ob nicht religiöfe Wirkungen von Gefchichten ausgehen
können, die ungenau überliefert find. Auch Sagen,
die den Geilt einer Zeit richtig treffen, können nachhaltige
Wirkungen ausüben.

Auch darin kann ich H. nicht folgen, wenn er aus
dem Zufammentreffen vieler naturgefetzlicher Beziehungen
bei jedem konkreten Einzelgefchehen folgert, ,daß es
völlig unmöglich ift, zu fagen, was innerhalb des natur-
gefetzlichen Zufammenhangs gefchehen könne und was
nicht'. ,Liegt es aber fo, dann weiß ich nicht, wie vom
Standpunkt der Naturwiffenfchaft irgend ein, wenn auch
noch fo verblüffender und aller Erfahrung fpottender
Vorgang von der Möglichkeit desGefchehens ausgefchloffen
werden kann' (S. 106; cf. S. 126). In abstracto wird allerdings
die Möglichkeit beliehen, daß eine uns unbekannte
Urfache das wunderbare Gefchehen gewirkt hat. Denn
wir überblicken nie die Gefamtheit der wirkenden Naturkräfte
. Aber in concreto können wir mit einer der Gewißheit
nahe kommenden Wahrfcheinlichkeit fagen: Senkrecht
flehende Wellen, Wandeln auf dem Meer u. ä. gehört
zu dem Bereich des naturgefetzlich Unmöglichen. —
Im Übrigen freue ich mich mancher Ubereinftimmung
zwifchen H.s Schrift und der meinigen über das Wunder.
H. disponiert: 1. Zur Gefchichte der Lehre vom Wunder,
S. 1—30. 2. Wefen und Bedeutung des Wunders, S. 31
—61. 3. Die heilsgefchichtlichen Wunder, S. 62—92. 4.
Naturwiffenfchaft und Wunderglaube, S. 93 —122. 5. Das
Wunder und die Gefchichtswiffenfchaft, S. 123—154.

Bafel. Johannes Wendland.

Hold von Ferneck, Prof. Alexander Freih.: Die Idee der
Schuld. Eine ftrafrechtliche Studie. (IV, 99 S.) gr. 8°.
München, Duncker & Humblot 1911. M. 2.60

Der Verfaffer geht davon aus, zum wahren Verftänd-
nis der einzelnen Schuldformen gelange man nur auf dem
Umwege über den Begriff der rechtlichen Schuld (S. 3).
Allein wenn wir den Unterbau der von jeher im pofitiven
Recht vielfach verwerteten Schuld formen verfchmähen,
laufen wir Gefahr, mit der Deduktion aus dem gelegentlich
zurZufammenfaffung gebrauchten Oberbegriff,Schuld'
uns in rechtsfremde Begriffskonftruktionen zu verlieren.
Der Verfaffer nimmt weiter an, die herkömmliche Unter-
fcheidung von Vorfatz und Fahrläffigkeit beruhe auf
keinem einheitlichen Einteilungsprinzip. ,Vorfätzlich' bedeute
ein rechtsrelevantes Verhalten ohne Rückficht eines