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Ausgabe:

1912 Nr. 19

Spalte:

588-589

Autor/Hrsg.:

Waltzing, Ioh. P. (Ed.)

Titel/Untertitel:

M. Minucii Felicis Octavius 1912

Rezensent:

Soden, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 19.

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krepanz zwifchen feiner theoretifchen Einficht und feiner
gefühlsmäßigen Neigung zum jüdifchen Volke und zu
dem Leben im Gefetz, das er von Jugend auf gewöhnt
war. Diefe Diskrepanz lähmte bald feine Wirkfamkeit in
der Urgemeinde. Paulus auf der einen, Jakobus auf der
anderen Seite {teilten ihn durch ihre konfequente Energie
in den Schatten. Gegen Ende feines Lebens — das zeigen
nach E. die Petrusbriefe — ergab fich dann ein drittes
Mal eine ganz ähnliche Diskrepanz zwifchen Vorfteilen
und Fühlen des Petrus: die Leiden der Gegenwart und
feine Überzeugung von der Herrlichkeit und Größe Jefu
drohten für Petrus in Widerfpruch zu geraten. Er überwand
jedoch diefe Schwierigkeit durch eine lebhafte Steigerung
feiner Hoffnung auf die Nähe des Weltendes. Von
Paulus und Johannes unterfcheidet fich Petrus nach E.
dadurch, daß er weniger theoretifch und fpekulativ veranlagt
war als jene. Seine chriftliche Frömmigkeit wird
vor allem dadurch charakteriftifch beftimmt, daß er Je-
fum perfönlich gekannt hat. Uns geht diefes perfönliche
Bekanntfein mit Jefus ab. ,Und doch kann vielleicht die
unmittelbare Einheit von Gefühl und Handeln, die im
Leben des Petrus oft und ergreifend zutage tritt, als
typifch gelten für alle echte, heiße Religiofität.' — So
gibt alfo E. ,eine pfychologifche Paraphrafe des religiöfen
Entwicklungsganges des Petrus'. Zu diefem Unternehmen
hält er das im N. T. vorliegende Material für ausreichend.
So dankenswert es ift, daß E. mit feiner Arbeit den Anfang
zur religionspfychologifchen Bearbeitung des N. T.s
hat vorlegen wollen, fo wenig halte ich feine Art reli-
gionspfychologifcher Unterfuchung des N. T.s für vorbildlich
. Es geht doch nicht an, heutzutage, wo nicht
mit Unrecht das Vertrauen zu der durchgängigen Ge-
fchichtlichkeit der Angaben des N. T.s Hark erfchüttert
ift, diefe Fragen nach der Gefchichtlichkeit des Überlieferten
fo gut wie völlig zu ignorieren und fich auf eine ,pfycho-
logifche Paraphrafe' zu befchränken. E. hätte ferner —
und das ift vor allem der Grund dafür, daß mich feine
Arbeit enttäufcht hat — nicht von vornherein jede um-
faffendere religionsgefchichtliche und religionspfychologi-
fche, insbefondere völkerpfychologifche, Orientierung feiner
Unterfuchung abweifen dürfen. E. hätte doch nicht nur
den religiöfen Entwicklungsgang des Petrus zu fchildern
gehabt, fondern er hätte außerdem im Ganzen und Einzelnen
die Eigenart diefes Frömmigkeitsgebildes fixieren
müffen.* Zu diefem Zweck wären die jüdifchen und die
chriftlichen Elemente zu fcheiden gewefen, es hätte die
Frage nach der antiken Art diefer Frömmigkeit, ihre
Stellung innerhalb der Religionsgefchichte (vgl. z. B.
Weineis Einleitung zu feiner ,Neuteftamentlichen Theologie
'), es hätte das foziale, religiöfe, ,völkifche' Milieu
eines Mannes wie Petrus behandelt werden müffen. Seine
religiöfen Gedanken, Gefühle, Willensregungen, fein Temperament
, feine Ausdrucksweife und religiöfe Sprache,
der Zufammenhang feiner Religiofität und feiner Sittlichkeit
: alle diefe Fragen hätten nicht nur geftreift, fondern
ex professo behandelt werden müffen. Sie kommen im
Rahmen einer Schilderung des Entwicklungsganges des
Petrus nicht zu vollem Recht. Von einem Zufammenhang
der Ausführungen E.s mit der heutigen Völkerpfychologie
und Religionspfychologie ift ebenfo wenig etwas zu fpüren
wie von einem Zufammenhang feiner Ausführungen mit
den Forfchungen über die jüdifche Pfyche der Zeit Jefu.
Für die Petrusbriefe hätte ein Hinweis auf die jüdifche
Apokalyptik nicht fehlen dürfen, ebenfo wenig der Verbuch
, die Frage nach der Originalität der Ethik diefer
Briefe im Verhältnis zur jüdifchen Ethik jener Zeit zu
unterfuchen. E. kennt als Faktoren, die die religiöfe Pfyche
des Petrus konftituieren, nur: I. das A. T. 2. Jefu Perfön-
lichkeit, 3. die Individualität des Petrus, 4. Ereigniffe, z.
B. die Auferftehung Jefu, 5. andere Perfönlichkeiten jener
Zeit. Das jüdifch-helleniftifche Milieu der Zeit Jefu fcheint
für E. nicht zu exiftieren. Ich fürchte, daß E.s pfycho-
logifch-konftruierende Art religionspfychologifcher Ünter-

fuchung, falls fie Schule machen follte, in die Exegefe
des N. T.s jenes pfychologifierende Konfluieren wieder
hineinbringt, das u. a. Wrede mit Recht im Namen der
Gefchichtsforfchung bekämpft hat. Paulus wird von E.
S. 6 als ,klaffifcher Typus derer, die den ftärkften religiöfen
Antrieb aus der Gefchichte empfangen haben',
bezeichnet. Über Johannes deutet er S. 15 an, daß er
deffen Charakter als fehr kompliziert anfleht. Lehrreich
wäre es, wenn E. uns auch die Religiofität des Paulus
und Johannes fchildern würde. Sicherlich würde fich dann
herausftellen, daß E.s Methode religionspfychologifcher
Unterfuchung des N. T.s nur dann fruchtbar wird, wenn
er fie durch unmittelbare Fühlung mit der heutigen Völkerpfychologie
und Gefchichtswiffenfchaft bereichert und
vertieft. Weder bei Paulus noch bei Johannes dürfte E.
ungeftraft die helleniftifche Myftik, die rabbinifche Theologie
, eine religionsgefchichtliche Orientierung in der Art
der neuteftamentlichen Theologie Weineis oder die z. B.
aus Wundts Völkerpfychologie fich ergebenden Gefichts-
punkte ignorieren.

Gotha. Fiebig.

M. Minucii Felicis Octavius, recognovit et commen-
tario critico instruxit loh. P. Waltzing. (XII, 76 S.)
kl 8°. Leipzig, B. G Teubner 1912. M. 1—; geb. M. 1.40

An Ausgaben des Octavius ift gewiß keine Mangel;
die zur Befprechung vorliegende rechtfertigt ihr Erfcheinen
als ein Beftandteil der Bibliotheca Teubneriana, fowie
durch ihren wohlfeilen Preis. In dem Herausgeber Waltzing
hat der Verlag denjenigen unter den lebenden Gelehrten
gewonnen, der mit dem Text des Oktavius wohl
am meiften vertraut ift; hat er ihn doch bereits vorher
fchon zweimal ediert und in zahlreichen diefen Editionen
beigegebenen oder feparat oder in Zeitfchriften publizierten
Unterfuchungen die text- und literarkritifchen
Probleme der Schrift befprochen. Die kritifchen Grund-
fätze, die fich ihm dabei ergeben haben und auf denen
die recensio aufgebaut ift, find durchaus zu billigen: der
durch Schreiberfehler aller Art außerordentlich korrumpierte
Text unterer einzigen felbftändigen Handfchrift
(Paris 1661 saec. IX, dazu nur eine Abfchrift Bruxell. 11847
saec. XI, Proben beider Codices in Waltzings Ausgabe
von 1903) ift von diefen Fehlern zu reinigen, in feiner fo
gewonnenen Vorlage aber möglichft zu refpektieren und
nicht auf Grund ftiliftifcher und fprachlicher Poftulate
nach Willkür zu korrigieren.

Der Apparat zu dem fo hergeftellten Text bietet in
einer Abteilung die Lefungen der Handfchrift, foweit fie
noch irgend kritifches Intereffe haben, und eine glücklich
befchränkte Auswahl aus der erdrückenden Maffe von
Konjekturen, die im Lauf der Jahrhunderte geliefert worden
find. Eine zweite Abteilung des Apparats führt in zwei
Streifen die von Minucius benutzten und die ihn benutzenden
Autoren auf. In beiden Gruppen find nicht nur die
ficheren, fondern auch die nur möglichen, etwa zum Vergleich
heranzuziehenden literarifchen Berührungen (darunter
auch ganz fragwürdige) aufgenommen. Es wäre nicht
fchwierig und dabei fehr wertvoll gewefen, diefe verfchie-
denen Arten von loci kenntlich zu machen; ohne diefe
Scheidung bekommt der Unkundige ein irreführendes
Bild von den literarifchen Beziehungen des Dialogs, wenn
z. B. aus Tertullian Stellen aus dem Apologeticum (und
adv. nationes) promiscue mit folchen aus anderen Werken
desfelben Autors angeführt werden, während es doch eben
fo fleht, daß literarifche Beziehung mit dem Apologeticum
unbeftreitbar, mit den anderen Tertullianfchriften höchft
fraglich ift, und daß gerade auf diefe Frage viel für die
Beurteilung des Prioritätsverhältniffes von Minucius und
Tertullian ankommt. Waltzing hat fich übrigens für die
Priorität des Minucius (m. E. irrig, f.Th.L.Ztg. d.J. Sp. 140T.)
entfchieden. — Ein Index der Autoren und Eigennamen