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Ausgabe:

1912 Nr. 1

Spalte:

580-582

Autor/Hrsg.:

Möller, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Wider den Bann der Quellenscheidung. Anleitung zu einer neuen Erfassung des Pentateuch-Problems 1912

Rezensent:

Nowack, Wilhelm

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579

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 19.

d'Ollone, Command., Capit. de Fleurelle, Capit. Lepage,
Lieut. de Boyve: Recherches sur les Musulmans chinois.

(Mission d'Ollone 1906—1909.) Etudes de Prof. A.
Vissiere. Notes de E. Blochet et de divers savants.
(XII, 471 S. m. Abbildgn. u. 1 Karte.) Lex. 8°. Paris
E. Leroux 1911. fr. 15 —

Der Miffion d'Ollone 1906—1909 war als eigentliche
Aufgabe die Erforschung der von eingeborenen Völkern
bewohnten Regionen des Mittelreichs gefetzt. Es ift als
ein opus supererogationis anzufehen, daß fie ihre Auf-
merkfamkeit auch dem Islam in China zugewandt. Aber
als erfter der vorgefehenen neun Bände Documents scienti-
fiques, die uns die Refultate der Expedition bringen follen,
find uns nun die Recherches sur les Musulmans chinois
vorgelegt. Man wird befugt fein, ihren Wert bedeutend
höher einzufchätzen, als dies der Leiter der Miffion felbft
tut, wenn er mit der Befcheidenheit des echten Forfchers
erklärt: la seule conclusion ferme qu'il me paraisse legitime
de formuler, c'est la necessite d'une enquete nouvelle, j
conduite par les moyens et sur les points que nos lacunes
memes nous ont reveles (p. 440 f.). Ja, es müßte als
Undank geziehen werden, wollte man zurückhalten mit
der Anerkennung, daß die hier dargebotenen Forfchungs-
ergebniffe, über eine Reihe dunkel gewefener Punkte
neues Licht verbreitend, unfer Wiffen um ein ganz beträchtliches
gefördert haben. So etwas wie eine Inventuraufnahme
des bisher Erarbeiteten haben wir feit dem |
vergangenen Jahre in Broomhalls ,Islam in China', einem j
Buche, das Dabry de Thiersant's vor nun über drei Jahrzehnten
veröffentlichtes zweibändiges Werk ,Le Maho-
metisme en Chine et dans le Turkestan Orientale'
gewiffermaßen up to date gebracht. Der englifche
Kompilator mag es bedauern, daß ihm der d'Ollonefche
Thesaurus, deffen Ausbeutung feinem zufammenfaffenden
Werke fehr hätte zugute kommen muffen, nicht mehr
rechtzeitig vorgelegen.

Der hohe Wert der von d'Ollone und feinen Forfchungs-
genoffen in China gefammelten Dokumente fand bereits
darin Anerkennung, daß fie, von tüchtigen franzöfifchen
Fachautoritäten bearbeitet, zumeift in der Revue du
Monde Musulman zur erften Veröffentlichung gelangten.
In den Recherches hat man diefe Einzelarbeiten nun
bequem beifammen. Vorausgefchickt find ihnen die in
den bereiften Gebieten gemachten perfönlichen Beobachtungen
. Ein Schlußkapitel faßt die gewonnenen
Ergebniffe kurz und klar zufammen. Entgegen der gemeinhin
angenommenen Schätzung der muslimifchen
Chinefen auf 20—25 oder gar 33 Millionen wird — und
das wird überrafchen — ihre wirkliche Zahl hier nur auf
ungefähr 4 Millionen berechnet. Selbft in den meift
islamifierten weltlichen Provinzen (Kanfu und Yünnan)
machen fie allerhöchltens 3°/0 der Bevölkerung aus. In
ihrem Ausfehen find fie im allgemeinen von den übrigen |
Chinefen nicht zu unterfcheiden. Bei weitem die meiften I
Mohammedaner find chinefifchen Geblütes, Sprößlinge
aus urfprünglichen Mifchehen oder Chinefen, die fchon
als Kinder von einem Gläubigen adoptiert oder gekauft
und dann natürlich islamifch erzogen wurden. Treten,
was heute feltener als früher vorkommt, Erwachfene über,
fo gefchieht das nicht infolge miffionarifcher Predigt,
fondern zumeift aus fozialen Gründen, und einmal dem
Islam gewonnen, denkt keiner mehr fo leicht daran, dem
religiöfen Verbände abtrünnig zu werden, der jedem feiner
Angehörigen Hilfe in Not gewährleiftet.

Der Islam hat fich in China nicht wie anderwärts
durchs Schwert eingeführt. Die feit dem 7. und 8. Jahrh.
auf dem Seewege nach Canton und in andere große
Häfen gelangten Araber, nur darauf aus, Handel zu
treiben, dachten nicht ans Miffionieren, und find in der
Folge völlig wieder verfchwunden. Den Urftamm der
muslimifchen Chinefen bilden. 3000 im Jahre 755 von dem

Kalifen Abu Giafer entfandte Mohammedaner, die dem
chinefifchen Kaifer gegen einen Rebellen Hilfe leifteten.
Bedeutung aber hatten auch diefe vom Welten gekommenen
Mohammedaner, die fich mit Chinefinnen verheirateten
und beftändig, aber unmerklich durch neue
Ankömmlinge von Perfien und Turkeftan, durch Heiraten
und Adoption wuchfen, nicht. 1070 ließen fich einige
taufend Mohammedaner aus Bokhara an der mongolifch-
chinefifchen Grenze nieder. Indem er diefe nach Yünnan
brachte, wurde Seyyid Edjell Omar (geft. 1279), der
wichtige Dienfte bei der Aufrichtung der Mongolen-
(Yüan-) Dynaftie (1280—1367) leiftete und die neue
Provinz Yünnan organifierte, der eigentliche Ein-
führer des Islam. Einem Enkel von ihm ift es zu
verdanken, daß 1335 der Mohammedanismus vom Kaifer
als Wahre und Reine Religion anerkannt wurde. Zu
rechter Bedeutung aber gelangte diefe erft in der Folge
unter der Dynaftie Ming (1368—1644) und unter den
Mandfchus (1644—1912). Nicht vor 1642 hört man von
Produktion einer chinefifchen Literatur des Islam, nach
der vorher kein Bedürfnis vorgelegen zu haben fcheint,
und erft in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten kommt
es zu chronifch fich wiederholenden muslimifchen Infur-
rektionen, ein Zeugnis dafür, daß erft in diefer Periode
die Mohammedaner fich ftark genug fühlen konnten,
Kämpfe für ihre Unabhängigkeit aufzunehmen.

Von irgendwelcher Organifation des chinefifchen
Islam ift unferen Forfchern nichts entgegengetreten. Die
einzelnen Gemeinden find völlig unabhängig voneinander
und überhaupt autonom. Die Priefter (Ahong), deren
Rolle eine untergeordnete ift und die keine Hierarchie
bilden, werden von den Gemeinden gewählt, unterhalten
und nach Belieben verabfchiedet. Neben der ,alten
Religion' fand fich jedoch in Kanfu, Shenfi und Yünnan
die ,neue Religion' (sin kiao) vertreten, d. i. fufitifche
Sekten, die fich durch den von ihnen gepflegten Kult
der Heiligen und ihrer Gräber unterfcheiden und ein
erbliches Prieftertum kennen, das mit den heiligen Stätten
des Urfprungslandes des Mohammedanismus Beziehungen
unterhält. Während die Maffe der Gläubigen außerftande
ift, den niemals ins Chinefifche überfetzten Koran zu lefen,
find die Ahong des Arabifchen, daneben auch des Per-
fifchen und Türkifchen kundig. Hingegen ift ihnen die
chinefifch abgefaßte muslimifche Literatur unzugänglich.
Sie kann nur von gelehrten Mohammedanern gelefen und
gefchrieben werden, die ihrerfeits wieder kein Arabifch
können. So ift es nicht zu verwundern, daß diefe Literatur
, die im ganzen wenig bedeutend ift, mehr konfu-
zianifchen als orthodoxen Charakter trägt. Die von
d'Ollone in China gefammelten mohammedanifchen Werke,
im ganzen 36, die A. Vissiere befchreibt, behandeln
zumeift die islamifche Dogmatik und Liturgie, zwei den
Kalender, fechs find Gefchichts- und Geographiebücher,
eines ift eine .Erklärung des Sinnes der Buchftaben des
arabifchen Alphabets', alfo ein ganz elementares lingu-
iftifches Lehrbuch.

Coburg. Hans Haas.

Möller, Paft. Lic. Willi.: Wider den Bann der Quellenfchei-
dung. Anleitung zu einer neuen Erfaffung des Penta-
teuch-Problems. (229 S.) gr. 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann
1912. M. 3—; geb. M. 3.50

Der Verf. diefer Schrift hat eine bewegte Vergangenheit
hinter fich. Einft, wie er behauptet, ein Anhänger
der Graf-Wellhaufenfchen Hypothefe, wurde er in diefer
Anfchauung erfchüttert und verfaßte 1899 feine hiftorifch-
kritifchen Bedenken gegen diefe Hypothefe. 1903 machte
er folche gegen moderne Auffaffungen in der Entwicklung
der altteftamentlichen Gottesidee geltend, und 1906
folgte zugleich als ein Proteft gegen moderne Textzer-
fplitterung ,Die meffianifche Erwartung der vorexilifchen
Propheten'. In all diefen Schriften ftand B. noch prinzi-