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Ausgabe:

1912 Nr. 17

Spalte:

531-532

Autor/Hrsg.:

Schulte, Aloys

Titel/Untertitel:

Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter 1912

Rezensent:

Stimming, Manfred

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 17.

532

Identifizierung zu fprechen fcheint, fodann aber die Gegengründe
, und diefe find ftärker und ausfchlaggebend. Ift
der Spruch eine fpätere Fälfchung, fo begreift man nicht,
wie ein Chrift diefenMann an folcher Stelle nennen konnte,
es fei denn, daß Zacharias felbft ein Chrift war. Aber
war er felbft ein Chrift, der den Zeloten zum Opfer fiel,
was haben die Schriftgelehrten mit den Zeloten zu tun,
und wie unwahrfcheinlich ift es, daß Jofephus einen chrift-
lichen Märtyrer erwähnt hat, von dem die chriftliche Tradition
nichts weiß. Chapman zeigt nun, wie der urfprüng-
liche Wortlaut von Q hier aus Matth, und Luk. herzuftellen
ift und daß Zacharias, der Sohn des Jehojuda, hier ver-
ftanden werden muß, bei Matth, aber fehr früh durch einen
Schreiber das fo geläufige .Zacharias, Sohn des Barachias'
irrtümlich eingetragen ift. Das Hebräer-Ev. bietet den
korrekten Text, fei es als den feinem Verfaffer noch zugänglichen
echten Text des Matthäus, fei es als die richtige
Korrektur. In die ganze Frage fpielt bekanntlich auch das
Problem ,der Weisheit Gottes' hinein. Chapman denkt nicht
an eine apokryphe Schrift unter diefem Namen auch
nicht an ein Zitat, fondern glaubt, daß Jefus Proverb.
1,21—30 im Sinne gehabt und an diefe Ausführung erinnert
hat. ,We seem to have in Q only a very brief and
Condensed summary of our Lord's words.'

Berlin. A. Harnack.

Schulte, Prof. Dr. Aloys: Der Adel u. die deutlche Kirche

im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- u. Kir-
chengefchichte. (Kirchenrechtliche Abhandlungen 63.
u. 64. Heft.) (XII, 460 S.) gr. 8°. Stuttgart, F. Enke
1910. M. 16.40

Vor fechszehn Jahren erfchien die erfte Unterfuchung
Schuftes über die ftändifche Zufammenfetzung einiger
füddeutfcher Stifts- und Klofterkonvente, und ihr find
feitdem eine größere Anzahl von Schülerarbeiten auf
dem neuerfchloffenen Forfchungsgebiete gefolgt. Nunmehr
hat uns Schulte ein größeres zufammenfaffendes
Werk geliefert, welches, aus zahlreichen Einzelunterfu-
chungen zufammengefetzt, die Wechfelbeziehungen des
Adels und der kirchlichen Anftalten im Mittelalter behandelt
. Zwar find nicht alle Landfchaften Deutfchlands
gleichmäßig durchforfcht — vor allem fehlt noch das
wichtige Gebiet des Mittelrheins und Heften; aber das
verarbeitete Material genügte, um eine Fülle intereffanter
und bedeutungsvoller Ergebniffe ans Licht zu bringen.
Schuftes Buch tut, wie der Verfaffer felbft ausfpricht,
einen erheblichen Schritt vorwärts in der Erkenntnis der
mittelalterlichen Gefchichte. Es erbringt den Nachweis,
daß die im bürgerlichen Leben ftreng durchgeführte
Scheidung der Geburtsftände auch in der Kirche des
früheren Mittelalters herrfchte. Faft alle bedeutenderen
kirchlichen Anftalten waren dem Adel referviert, fofehr
diefe Exklufivität auch mit dem Wefen des Chriftentums,
das alle Menfchen gleichftellt, mit den Satzungen des kano-
nifchen Rechtes und der Ordensregel des heiligen Benedikt
im Widerfpruche ftand. Der Adel füllte nicht nur zum
großen Teile die Domkapitel der deutfchen Erz- und
Hochftifter, fondern auch die Konvente der Reichsabteien
und zahlreicher andrer Klöfter und Stifter fetzten
fich im früheren Mittelalter ausfchließlich aus edelfreien
und gemeinfreien Mitgliedern zufammen. Der Adel be-
herrfchte das gefamte politifche und kirchliche Leben;
er war auch der Träger der geiftigen Kultur, denn die
Reichsklöfter wie St. Gallen, Fulda etc. bildeten in jenen
Zeiten die Sammelpunkte der wiffenfchaftlichen und lite-
rarifchen Beftrebungen.

Die erfte Reaktion gegen die Vorherrfchaft des Adels
in der Kirche ging von der klöfterlichen Reformbewegung
aus, die in den romanifchen Ländern ihren Urfprung
hatte. Die Kluniazenfer, Hirfauer, Zifterzienfer und Prä-
menftratenfer fuchten dem geiftlichen Ideal des Mönchs-

tums wieder näher zu kommen, fie bekämpften das Eigen-
kirchenwefen, verfchmähten die ritterliche Dienftmann-
fchaft, wie fie die adeligen Benediktinerklöfter befaßen,
und achteten keine Standesvorrechte. Noch wichtiger
war, daß der Beftand der altadeligen Gefchlechter im
Laufe der Jahrhunderte ftark zurückging, eine Erfchei-
nung, zu der nicht zum geringften der Umftand beitrug,
daß durch maffenhaften Eintritt von Söhnen in den geiftlichen
Stand ein ftarker Prozentfatz der Nachkommenschaft
für die Fortpflanzung verloren ging. Das geift-
liche Zölibat war für zahlreiche Familien die Urfache
des Ausfterbens. Die Zahl der edelfreien Mönche und
Nonnen war fchließlich nicht mehr ausreichend, um die
Kapitel und Konvente zu füllen. Die Folge war, daß
die Exklufivität durch Aufnahme des niederen Adels
durchbrochen werden mußte, um die Klöfter und Stifter
vor Verfall und dem fchließlichen Untergang zu bewahren.

Schulte Stellt zwei Perioden in dem politischen Leben
Deutfchlands im Mittelalter feft: die ältere bis zum 12.
Jahrhundert, welche die Zeit der Allgewalt des freien
Elements gewefen fei, die jüngere, in der der edelfreie
Adel nur noch als Landesherr dominierte. Einen Verbuch
, für die Vorherrfchaft des Adels im früheren Mittelalter
eine Erklärung zu finden, hat Schulte nicht gemacht,
obwohl fie nahe liegt. Die Adelsherrfchaft erfcheint als
etwas Selbstverständliches, wenn man an die freilich von
vielen Seiten heftig bekämpften Ausführungen Wittichs
anknüpft: nach jenem Autor bildete eine Herrenklaffe
von edlen und freien Grundherren in germanischer, frän-
kifcher und frühkarolingifcher Zeit den Kern des Volkes;
als ihre Nachkommen und Erben wären jene Edelherren
und Gemeinfreien zu betrachten, welche in Deutfchland
bis zum 12. Jahrhundert das politifche und kirchliche Leben
beherrschten Erft das Zufammenfchmelzen diefer
Aristokratie machte dem Emporkommen der unteren
Volksschichten Bahn.

Gießen. M. Stimming.

Pont, Hoogl. Pred. Dr. J. W.: Geschiedenis van het Luthe-
ranisme in de Nederlanden tot 1618. (Verhandelingen
rakende den natuurlijken en geopenbaarden Godsdienst,
uitg. door Teyler's godgeleerd Genootschap. N. S.
17. deel.) (XVI, 632 S.) gr. 8°. Haarlem, De Erven
F. Bohn 1911.

Als 1908 die Teylerfche godgeleerd genootschap die
Preisfrage ausfchrieb: ,Welche Stelle hat das Luthertum
eingenommen innerhalb des niederländischen Protestantismus
vor 1618, welchen Einfluß haben Luther und die
deutfche Reformation auf die Niederlande und die Niederländer
ausgeübt, und wie ift es zu erklären, daß diefe
Richtung in diefer Zeit gegenüber anderen in den Hintergrund
getreten ift?', war es für den Kenner der Sachlage
nahezu felbftverftändlich, daß, wenn einer, Pont, der
unermüdlicheErforfcher der Gefchichte des niederländischen
Luthertums, zur Löfung berufen war. Die mit dem Preife
gekrönte Arbeit liegt nun vor und Stellt fich, wie nicht
anders zu erwarten, als eine fehr forgfame, im Wesentlichen
erfchöpfende Leistung dar. Alle Seiten des kirchlichen
Lebens find in Urfprung und Gefchichte behandelt,
und wenn über das foziale Leben fo wenig berichtet wird,
fo liegt das daran, daß hier das Luthertum gegenüber
dem Calvinismus unfruchtbar war, genau wie in Deutfchland
. Denn — das ift ein zweifellos richtiger Grundgedanke
Pont's — das Luthertum auf niederlän-
difchem Boden ift deutfches Gewächs, in das nur
hin und wieder einheimische Pflanzen fich eingemifcht
haben. Ein zweiter richtiger Grundgedanke ift der von
der Stets relativ unbedeutenden Zahl der Lutheraner;
man darf fich durch den Namen nicht täufchen laffen,
der bedeutet oft nur ,ketzerifch' (wie in der Schweizerischen
Reformationsgefchichte auch).