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Ausgabe:

1912 Nr. 17

Spalte:

523-524

Autor/Hrsg.:

Loisy, Alfred

Titel/Untertitel:

Jésus et la Tradition évangélique 1912

Rezensent:

Wernle, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 17.

524

muffen, das in dem Nebeneinander der realiftifch-finnlichen
und der ethifchen Bedeutung liegt. Wir finden in einer
Infchrift der Kaiferzeit aus Pifidien (Licht vom Offen 2/3
S. 12), die zweifellos heidnifch ift (Würfelorakel), das
wohl ficher ergänzbare ayamq von der fexuellen Liebe
gebraucht. Genau diefen Gebrauch zeigten aber fchon
früher das Hohelied und andere altteftamentliche Texte
in der LXX-Uberfetzung an mehreren Stellen. Daß die
jüdifchen Uberfetzer oder ihr Kreis ein Wort für die
finnliche Liebe neu erfunden haben follten und diefes
Wort dann in den ,heidnifchen' Sprachgebrauch übergegangen
wäre, ift ausgefchloffen. Vielmehr liegt die
Sache fo, daß ayänr in der realiftifchen Bedeutung ein
Wort der lebendigen Volksfprache ift und als folches
fowohl im LXX-Hohenlied wie in dem Würfelorakel aus
der Tiefe an die Oberfläche kommt. Für diefe Ein-
fchätzung des Wortes fpricht auch eine Tatfache, die
mir früher immer auffallend gewefen ift: die in den Papyri
erhaltenen neuen Fragmente helleniftifch-erotifcher Literatur
haben das Wort nicht. Ich fchließe daraus, daß
es für die bis jetzt bekannten Erotiker ein literarifches
Wort nicht oder noch nicht gewefen ift. In die Literatur
dringt es, foweit wir bis jetzt wiffen, zuerft empor durch die
LXX; ich würde mich aber nicht wundern, wenn es auch
noch in einem Komiker oder einem ftärker vulgär fchrei-
benden Erotiker auftauchen würde.

Daß die realiftifche Bedeutung die urfprüngliche ift,
die ethifche und die ethifch-religiöfe Bedeutung dagegen
die abgeleitete, fcheint mir ebenfo ficher zu fein. Ein
vulgäres Wort wird alfo nicht bloß literarifch, fondern
ein derbes Wort wird auch verfeinert. Daß diefer Verfeinerungsprozeß
, der felbft wieder mehrere Stadien
durchlaufen hat, fichhauptfächlich im Kreife des griechifchen
Juden- und Urchriftentums abgefpielt hat, zeigen die Belege
: LXX, Philo und Arifteas (beide find von Kögel
berückfichtigth Philo allerdings mit einer bereits von
Cremer9 formulierten fonderbaren Schlußfolgerung, die
mir abfolut nicht einleuchtet), NT etc. Immerhin follte
nicht überfehen werden, daß Crönert mit dem Gebrauche
des Wortes auch bei Philodem rechnet (Licht vom Offen
2/3 S. 48) und es wäre, falls er Recht hat, zu prüfen, ob
nicht auch hier das Wort die realiftifche Bedeutung fchon
abgeftreift hat.

Die Sorgfalt in den Zitaten und in der Korrektur
des komplizierten Textes verdient, foweit ich bis jetzt
gefehen habe, vollfte Anerkennung. Zweifpaltendruck
wäre allerdings bei dem großen Format wohl vorzuziehen
gewefen.

Berlin-Wilmersdorf. Adolf Deißmann.

Loisy, Alfred: Jesus et la Tradition evangelique. Paris,
E. Nourry 1910. (288 p.) 8°.

Vorliegende Schrift ift ein erweiterter Neudruck von
drei Einleitungskapiteln aus Loifys Kommentar zu den
Synoptikern, ergänzt durch eine Vorrede, worin der
Autor fowohl die Mythenthefe als die extreme Skepfis
der neueften Lebenjefuforfchung ablehnt. Loifys Skizze
ftimmt imwefentlichenmitdemGrosderdeutfchenkritifchen
Evangelienforfchung überein uud bietet uns wenig Eigentümliches
, rechnet aber mit franzöfifchen Lefern, denen
diefe Dinge noch neu find. Ich hebe immerhin hervor,
daß er unfern Markus den beiden andern Evangelien
zu Grunde liegen läßt, dann aber für Markus felbft Vor-
ftufen poftuliert und zwar literarifche Vorftufen. Er
fpricht Jefus das meffianifche Bewußtfein zu und zwar
von Beginn feines öffentlichen Auftretens an, jedoch ohne
auf die Tauferzählung ein Gewicht zu legen; ein Bekenntnis
der Meffianität läßt er Jefus ablegen vor Pilatus,
aber nicht vor dem Synedrium. Der Meffiastitel ift aber

1) Bei Arifteas kommt es nicht ,nur feiten' yor (Kögel), fondern, foweit
ich fehe, nur einmal.

mehr als Anfpruch auf die Zukunft gemeint, denn als
gegenwärtiger Befitz, wie auch das Gottesreich ganz
eschatologifch verftanden wird, immerhin mit dem Zuge-
ftändis einzelner Antecipationen. Der abfolute und wenn
man will chimärifche Charakter der Hoffnung Jefu foll
dann auch den abfoluten, idealen und unpraktifchen
Charakter der evangelifchen Moral erklären, deren escha-
tologifche Bedingtheit Loify ftark unterftreicht; ihre
gefellfchaftliche Durchführung würde den Ruin der Gefell-
fchaft bedeuten. Der letzte Teil behandelt ziemlich
ausführlich die allmähliche Entftehung des legendarifchen
Evangelienbildes. Gefchrieben ift die ganze Skizze mit
der größtmöglichen Kälte und Gleichgiltigkeit gegenüber
dem Stoff, die offenbar für den Autor bei einer faubern
hiftorifchen Unterfuchung geboten erfcheint. Man kann
j fich, wenn man diefe Studie lieft, fchwer denken, daß
irgend jemand von dem Autor den Stoß zu einer religiöfen
Bewegung erwarten könnte, wie dies doch früher gefchehen
ift. Und wenn das, was er uns von Jefus zu fagen hat,
das einzigeund letzte wäre, möchte man allerdings wünfchen,
daß fich künftig nur noch die Hiftoriker mit Jefus be-
fchäftigen möchten.

Bafel. Paul Wer nie.

Weiß, Prof. Johannes, Jefus im Glauben des Urchriftentums
. (VII, 57 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C.B.Mohr 1910.

M. 1 —

Weiß hat fich die Aufgabe gefleht, zu zeigen, welche
Stellung Jefus in der hinter allen Formen, Titeln und Begriffen
zum Ausdruck kommenden Religion der älteften
Chriften eingenommen habe. Man kann vielleicht die
Frage erheben, ob die Aufftellung diefes Problems nicht
etwas verfrüht erfcheinen könnte in einem Stadium der
Wiffenfchaft, in welchem gerade die Unterfuchung der
chriftologifchen Formeln von neuem in Fluß gekommen
ift (wie das ja auch die fchöne Unterfuchung von W. in
den Religionsgefchichtlichen Volksbüchern: ,Chriftus, die
Anfänge des Dogmas' zeigt). Es Hellen fich denn auch
gegenüber den Darlegungen W.'s eine Reihe von Bedenken
ein. So kann man doch nun nur dann mit W. behaupten
, daß der Glaube an Jefus bei den Jüngern fchon
zu deffen Lebzeiten eine nicht zu verkennende Rolle ge-
fpielt habe, wenn man den Begriff des Glaubens fehr weit
und fehr wenig beftimmt faßt. Wenn W. ferner die Stellung
der Erften Chriftengemeinde zu Jefus dahin zufammen-
faßt, daß fie zu ihm mit Innigkeit und Dankbarkeit ,unfer
Herr' fagen konnten, fo möchte ich zu bedenken geben,
daß diefer Titel ,Herr' oder ,unfer Herr' gerade in der
älteften Schicht unterer evangelifchen Literatur, die doch
das Werk der Urgemeinde ift, noch fo gut wie gänzlich
fehlt. Recht möcht ich W. darin geben, daß er als das
Grundverhältnis der erften Gemeinde zu Jefus das der
Nachfolge anfetzt und fich diefe Nachfolge wefentlich in
der Sammlung der Herrenworte wiederfpiegeln läßt. —
Als charakteriftifch für die Stellung Jefu in der paulini-
fchen Frömmigkeit nimmt W. die eigentümliche Chriftus-
Myftik des Apoftels. Tapfer zieht er hier die religionsgefchichtlichen
Paralellen zum paulinifchen kvXgiöTmdvui.
Nur hätte er hier nicht bei den maffivften und wiideften
Erfcheinungen der Gott-Befeffenheit flehen bleiben dürfen,
fondern fein Augenmerk in erfter Linie auf die verfeinerten
Stimmungen der fpäteren helleniftifchen Myfterien-
Religion richten müffen, bei denen tatfächlich alles auf
ein Gott-Schauen und ein in das Wefen der Gottheit Verwandeltwerden
hinaus kommt. Dann würde das Urteil
W's. auch feine Ermäßigung finden, daß Paulus mit der
ruhigen und jeder wilden Verzückung fremden Art feiner
Chriftus-Myftik ganz einzigartig daftehe. Aus S. 43 und
S. 56 fcheint hervorzugehen, daß W. andererfeits die
religiöfe Stellung Pauli zu Jefus als Gebetsverhältnis auf-
faffen möchte. Hier erhebt fich die Frage, in welcher