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Ausgabe:

1912 Nr. 1

Spalte:

26

Autor/Hrsg.:

Rendtorff, Franz

Titel/Untertitel:

Kirche, Landeskirche, Volkskirche. Drei Vorträge 1912

Rezensent:

Achelis, Ernst Christian

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 1.

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Hirn und Nieren befprochen werden; dann kommt die
Pflege des Verftandes, der ja über den richtigen Willens-
entfchluß zu entfcheiden hat, dann die Pflege der Gefühle,
wobei auch die Religion erfcheint. Hier zeigt fleh der
Verfaffer fehr bewandert in den neueften pädagogifchen
und zumal religionspädagogifehen Beftrebungen; in oft
fehr freien offnen Worten äußert er feinen Unmut über
alle Dreffur und feine Vorliebe für die Erziehung zur
Selbftändigkeit. Darauf befpricht er die direkte Willensbildung
; in ihrem Dienft empfiehlt er willkürliche Körperbewegungen
und Bewegungshemmungen; z.B. der Augen,
der Nafe, der Zunge — immer üben, üben! — Dazu follen
willkürliche Geiftesübungen treten, alfo die Konzentration
auf beftimmte gute Ideen. Endlich fpricht er verftändig
und praktifch über Suggeftion und Autofuggeftion, wie
überhaupt der Geift eines alten Praktikus aus dem Verfaffer
fpricht. Zum Schluß erfcheint Jefus Chriftus ganz
kurz als das Ideal des fittlichen Charakters.

Viel katholifcher ift das Buch von Faßbender — fo fehr
es fleh inhaltlich mit dem vorigen berührt. Gut katholifch
ift die philofophifche Grundlage aus Thomas von Aquino:
ohne Denkfehler wird der Wille nicht fchlecht; es ift
Sache des vernünftigen Menfchen, aus einem Triebwefen
zu einem Willenswefen fleh umzugeftalten. Klar und fef-
felnd wird dann die pfychologifche Grundlage gelegt:
zwifchen dem rechten Glücksftreben und der Mittelwahl
zur Verwirklichung diefes Strebens muß eine logifche
Verbindung in dem Erkenntnisvermögen hergeftelltwerden,
damit der Wille fleh folgerichtig und gewohnheitsmäßig
entfcheiden lernt. Die Hauptfache ift aber in dem Buch
die Übernahme der Idee der Exerzitien des h. Loyola
und die Empfehlung der ftrengen klöfterlichen Selbft-
prüfung mit Hilfe des Tagebuchs und der Tabelle.
Sportsmäßige Willensgymnaftik zur Anbahnung der richtigen
Gewohnheit — das ift die Seite der menfehlichen
Mitwirkung, die zu den religiöfen Hilfen hinzukommen
muß, wozu befonders die häufige Kommunion gehört,
ebenfo auch die innere Sammlung in der Einfamkeit.
Mit einem fchönen Gebet Sailers fchließt das Buch.

Beidemal bekommt man einen ftarken Eindruck von
dem pädagogifchen Willen der katholifchen Kirche. Wir
tun gut, uns nicht durch den Exerzitiengeift abfehrecken
zu laffen. Gewiß, wir vermiffen viel: uns fehlt es hier an
der Einheitlichkeit der Gefinnung und des guten Willens,
uns fehlt es an der Betonung des Lutherfchen Gedankens:
gute Werke machen nicht einen guten Mann u. f. w.
Aber wir können nicht leugnen, daß wir aus einer cre-
wiffen Scheu vor dem bewußten und methodifchen Drill
der Seele nicht genug die feinern Weifen der Selbftpflege
und der Pflege anderer bedacht haben. Wir fetzen ja
viel mehr, als es diefe Katholiken können, die Hoffnung I
auf die Gnade Gottes, die durch den Glauben den Menfchen
zu einer naiven einheitlichen Perfönlichkeit heiligt; aber
es ift kein Grund vorhanden, daß wir nicht, zumal in der
heutigen Zeit der ,Abulie' auf Grund pfychologifcher
Erkenntniffe raten follen, wie man feinen Willen überhaupt
und befonders den fittlichen ftärkt. Diefe merkwürdige
feelifche Kraft, die nicht nur zwifchen Denken
und Sollen, fondern auch zwifchen Wünfchen, Verlangen
und Sollen liegt, verfagt oft ganz. Wie man einen Magneten
durch Befchäftigung ftärkt, kann man auch fie
ftärken. Dazu gehört z. B. folgendes: niemals mehreres
Zhi lch wollen- etwas Gewolltes feft anfaffen, ohne fleh
ahff*? ZU laffen> wozu der Nervöfe fo leicht neigt u. a.
All folche Ratfchläge tun der Gnadenlehre keinen Abbruch
noch dem Ideal der naiven einheitlichen Perfönlichkeit,
wenn diefe ganze Behandlung als vorübergehender Zuftand
des Gefetzes aufgefaßt und erhofft wird, daß die Fähigkeit
der Seele, regelmäßige bewußte Taten ins Unbewußte
verfinken und zum feelifchen Sein werden zu laffen, in
den Dienft des Geiftes Gottes tritt und Perfönlichkeiten fchafft.
Heidelberg. Niebergall.

Rendtorff, Prof. D. Franz: Kirche, Landeskirche, Volkskirche
. Drei Vorträge. (44 S.) 8°. Leipzig, J. C. Hin-
richs 1911. M. 1.80

Der Gefamttitel der Schrift deutet den Inhalt nur unvollkommen
an und erweckt andere Erwartungen, als die
Schrift erfüllt. Der erfte Vortrag behandelt ,die grundlegende
Bedeutung des Beichtinftituts für die Entftehung
und Ausgeftaltung der Kirche'. Der Verfaffer fleht in
der um des Heiligkeitscharakters der Gemeinde willen
notwendigen Einrichtung des Beichtinftituts den innern
Grund für die Wandlung der Heilsgemeinfchaft in eine
Heilsanftalt und für die Zufammenfaffung der Gemeinden
zu einer Kirche. Luther hat mit dem Zwang der Beichte
gebrochen, aber es nicht verhindern können, daß
bald, ob auch abgefchwächt, das Beichtinftitut wieder
feinen Einzug hielt. Verfaffer beklagt die gegenwärtige
Handhabung der Beichte vor dem Abendmahl, die viele
von der Teilnahme abfehrecke, und fleht eine Befferung
der Zuftände in evangelifcher Neuordnung des Beicht-
wefens. — Der zweite Vortrag behandelt das Thema:
,Zur Entftehungsgefchichte der Landeskirche'; er be-
fchränkt fleh ausfchließlich auf Schleswig-Holftein. Die
bis zur Reformation fleh erftreckende Vorarbeit von
Schuberts (1895) führt der Verfaffer bis zur Gegenwart
weiter. Er betont das Wort Kirche als die vom Staat
unterfchiedene relativ felbftändige Korporation und weift
nach, daß in diefem Sinne von Landeskirche erft feit den
Presb.- und Synodal-Ordnungen von 1869 und 1876 die
Rede fein könne. — Den dritten Vortrag: .Volkskirche,
Kirchengemeinde, Gemeinfchaft' hat der Verfaffer auf der
zweiten Konferenz für evangelifche Gemeindearbeit in
Darmftadt 1911 gehalten. Nach Erörterung des Problems:
.Kirchengemeinden in der Volkskirche' wird die Frage
nach der Bedeutung der Gemeinfchaftsbewegung für die
evangelifche Gemeindebewegung behandelt. Die Schwierigkeit
, wirkungskräftige Kirchengemeinden in der Volkskirche
zu fchaffen, ift in der gefchichtlichen Entwicklung
der deutfehen Landeskirche begründet, wodurch fie
einerfeits Staatskirche, anderfeits Kleruskirche geworden
ift. Eine Milderung der Abhängigkeit vom Staat ift in
der Gegenwart eingetreten, und die Gemeinden kommen
immer mehr neben dem Amte zur Geltung. Diefe Bewegung
zu fördern, ift die Aufgabe, die durch die Gemeinfchaftsbewegung
, wenn fie weife beeinflußt wird, nur
erleichtert werden kann. Das aktuelle Thema diefes Vortrags
nimmt das Intereffe vorzugsweife in Anfpruch.

Marburg. E. Chr. Achelis.

Dibelius, Landeskonfift.-Vizepräf. Ob.-Hofpred. Frz.: Apologetik
und Seelforge. [Aus: ,Die inn. Miff. im ev.
Deutfchl.'] (32 S.) 8°. Hamburg, Agentur des Rauhen
Haufes 1911. M. —60

Zwei Vorlefungen vom Berliner Apologetifchen
Inftruktionskurfus 1910. Sie rücken, dem Thema ent-
fprechend, die Apologetik nahe mit der Seelforge zufammen:
Jede Seelforge unferer Tage muß einen ftark ausgeprägten
apologetifchen Zug an fleh tragen.' Das ergibt fleh aus
der Situation: in der Maffe herrfcht Skeptizismus in religiöfen
Dingen; fie hat ungeheuren Refpekt vor den großen
Erfolgen der Naturwiffenfchaft; und der zerftreuende Zug
des modernen Lebens entzieht viele aller religiöfen Luft.
Mehr aber noch als den Feinden des Glaubens hat die
Seelforge apologetifch den Freunden zu dienen; es gilt
heut, fie vor Verzagtheit zu bewahren und Anftöße in
ihrem Glaubensleben zu befeitigen. Mittel der Apologetik
find die Predigt, die .eines lehrhaften Elements nicht entbehren
kann', für deren apologetifche Art aber allerhand
.Warnungsfignale' am Platz find; die Bibelftunde, wenn
fie ,den Anfprüchen nicht kleiner Kreife auf Anleitung zu
gründlichem Schriftftudiun entfpricht', der Konfirmandenunterricht
; die fpezielle Seelforge, wobei D. die von ihm ein-