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Ausgabe:

1912 Nr. 15

Spalte:

473-474

Autor/Hrsg.:

Gelderblom, Ernst

Titel/Untertitel:

Vom Himmelreich. Gedanken für Suchende über Religion, Christentum, Frömmigkeit. 24., durchges. Aufl 1912

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 15.

474

unfere Aufgabe die Befferung des Gefellfchaftszuftandes
ift, fo kann das nicht ohne Regeneration der Individuen
gefchehen, ohne Seelforge. Aber die wichtigfte Sache
ift die verabfäumtefte: ein Geiftlicher des 20. Jahrhunderts
weiß nichts Anderes als einer des 16., ja noch weniger,
fofern der letztere über Höllenftrafen verfügte. Die Ur-
fachen diefer Mängel feien in der Theologie zu fuchen;
Beifpiele von Gleichgiltigkeit gegen Seelforge aus der
franzöfifchen Literatur mögen für die deutfche weniger
gravierend fein, aber der Grundton jener Anklagen trifft
auch uns. Es fehlt an empirifcher Beobachtung und
Verarbeitung; auch liegt das Chriftentumsideal noch zu
fehr im Jenfeits. Der Weg wirklich wiffenfchaftlicher
Seelforge wird an dem Beifpiel, die Trunkenheit zu behandeln
erörtert, fofern diefe nicht einfeitig von der Seele,
fondern auch vom Körper aus bekämpft wird.

EL Pathogenefe der Sünde (S. 49—250), Kap. 3:
.Zwei äußerfte Fälle', Irrfinn und Epilepfie bannen den
Weg zur Betrachtung in Kap. 4 über .Bedingtheit des
Moralifchen vom Phyfiologifchen' (die umgekehrt in Kap. 12
wiederkehrt), wobei die ,Sünde als feelifcher Akt,' die
.Phyfiologie des Denkens', das .Prinzip der Wechfelwirkung'
(zwifchen Leib und Seele), ein ,Experimentalbeweis' (aus
Daten der fiamefifchen Zwillinge, die übrigens auch für
die Pfychologie gefpaltener Perfönlichkeit fruchtbar find)
behandelt werden. Kap. 5 betrachtet Gewohnheitsfünde
und zwar Zellengedächtnis und Sünde beim phyfiologifch
Normalen. Dabei läuft die gewagte Behauptung unter,
daß jene Mneme (vergl. die deutfche Literatur von und
über Semon) nicht fo kompliziert fei als biblifche Kritik.
Kap. 6 und 7 betrachten Sündenknechtfchaft und Krankheit
. Jede Sünde ftrebt nach ,materieller' Knechtfchaft,
d. h. der Nervenfubftanz; etwas gewaltfam ift die Erläuterung
am Gleichnis vom Pharifäer und Zöllner (S. 147 f.).
Erörterungen über Herz und Blutkreislauf, Intoxikation,
Digeftion, Schilddrüfe, Urogenitalfyftem ufw. dienen der
Darlegung jenes Zufammenhangs von Sorna und Pfyche.
Kap. 8 und 9: Urfachen von Zorn und Neurafthenie
bereiten den eigentlichen Abfchnitt über Seelforge vor.
III. Kampf gegen die Sünde (S. 251 —388), dem noch
30 in praktifche Schlußfolgerungen ausmündende, fchon
fonft veröffentlichte Thefen angehängt find. Kap. 10
bringt eine Gefamtüberficht über das Problem, wobei
Verf. als dreifache Aufgabe des evangelifchen Paftors
hinftellt: Heilsverkündigung, Befreiung der Seele und Hinleitung
zu Heiligkeit. Kap. 11 legt die medizinifche Behandlung
dar z. B. des Zorns; es kommt auf die Überzeugung
des Kranken an, daß er feinen unbeftändigen
phyfiologifchen Gleichgewichtszuftand zwar nicht allein
aus gutem Willen, wohl aber durch gleichzeitige Fürforge
für den Körper beffern könne. Eingehend wird die Neurafthenie
, namentlich auch im Gegenfatz zur Hyfterie (in
der ja fo oft religiöfe Motive fich bergen) behandelt.
Kap. 12 erörtert u. A. die zwei Pfychismen, das Ober-
und Unterbewußtfein, Hypnotismus, Suggeftion und Überredung
, bei der vorletzten Art auch Freuds Pfychoanalyfe
und Boris Sidis' Hypnoidifation. Kap. 13 endlich gibt
die eigentliche Seelforge und zwar unter den Überfchriften:
,Der heut tätige Paftor' in feiner .Stellung zu böfen Willensregungen
' und den auf .Befreiung' davon gerichteten,
,Geiftesmedezin' und auf nur 8 Seiten, die fpezififch religiöfe
Seelforge'.

Alt-Jeßnitz. G. Vorbrodt.

Gelderblom, Dr. Ernft: Vom Himmelreich. Gedanken f.
Suchende über Religion, Chriftentum, Frömmigkeit.
24. durchgefeh. Aufl. (X, 212 S. kl. 8°.) Riga, Jonck &
Poliewsky 1911. Geb. M. 3 —

Das ift ein fchönes, helles und warmes Buch. Es
gehört zu denen, die wir allerlei Leuten fchenken oder
leihen oder als Gefchenke empfehlen follen, die etwas von

der heutigen Auffaffung des Chriftentums erfahren möchten.
Viel mehr fcheint es auf folche Eindruck machen zu
können, die noch einen Reft von Zuneigung zum Chriftentum
mit unklaren Vorftellungen verbinden, als auf folche,
die in klarer Skepfis fich von allen gemütlichen Beziehungen
zum Inhalt des Chriftentums fern halten. Im
erften Abfchnitt Religion wird die religionsgefchichtliche
Grundlage zum Verftändnis des Chriftentums gelegt,
darauf wird diefes im Sinne von Lhotzky und Johannes
Müller als innerliches Leben und als Neufchöpfung, im
Gegenfatz zu allem Religionswefen, befchrieben, und endlich
die Frömmigkeit in ihren mannigfaltigen Beziehungen
und Aufgaben dargeftellt. — Alles ift im Sinne unferer
kritifch-frommen heutigen Theologie gehalten und in
warmer verftändlicher Sprache ausgedrückt, fodaß man
das fchöne Büchlein wirklich zu denen rechnen darf, die
man Suchenden in die Hand geben kann.

Heidelberg. F. Niebergall.

Niedner, Prof. Dr. Johannes: Die Entwicklung des ftädtifchen
Patronats in der Mark Brandenburg. Ein Beitrag zur
Gefchichte der kirchlichen Lokalverwaltung. (Kirchenrechtliche
Abhandlungen 73. u. 74. Heft.) (VI, 286 S.)
gr. 8°. Stuttgart, F. Enke 1911. M. 10 —

Die Schrift verfolgt einen doppelten Zweck: einmal
will fie für die fchwierigen Entfcheidungen der Verwaltungsund
Gerichtsbehörden über Fragen des ftädtifchen Patro-
natsrechts und der entfprechenden Laften die nötige
gefchichtliche Einficht verfchaffen, um zu verftehen, ob
in den vielfach vorliegenden Abweichungen von den
Normalvorfchriften des kanonifchen Rechts und (für Preußen
) des allgemeinen Landrechts über das Patronat Abusus
oder anders begründetes Herkommen vorliegt. Dann
aber will fie einen Einblick in das gefchichtliche Werden
der Stellung gewähren, die die politifche Gemeinde zu
den kirchlichen Angelegenheiten einnimmt — alfo ein
Ausfchnitt aus dem allgemeineren Problem Staat und
Kirche. Angefichts der vielen noch zu leidenden Kleinarbeit
ift die intenfive Behandlung eines befchränkten
Gebiets vor allem geboten.

Diefen Grundfätzen entfprechend verfährt die Unter-
fuchung, unter Befchaffung zahlreichen urkundlichen
Materials auch aus den einzelnen Städten, bis in die Einzelheiten
hinein fehr forgfältig. Nachdem die ftädtifche
Kirchenverwaltung der Reformationszeit nach den be-
herrfchenden Grundanfchauungen und nach der tatfäch-
lichen Rechtsgeftaltung gefchildert ift, erfährt die Vifi-
tations- und Konfiftorialordnung von 1573 eingehende
Darftellung und Würdigung, foweit fie für die ftädtifche
Kirchenverwaltung von Bedeutung ift. Dann wird die
Rechtslage im 17. und 18. Jahrhundert befprochen, wo
unter äußerlicher Fortdauer des geltenden Rechtszuftandes
tiefgreifende innere Wandlungen fich vorbereiten. Dann
kommt der Einfluß des allgemeinen Landrechts und
fchließlich die Entwicklung des 19. Jahrhunderts (Änderung
der ftädtifchen Verfaffung, Begründung korporativ felb-
ftändiger Kirchengemeinden) zur Darfteilung.

Schon vor der Reformationszeit hatte man begonnen,
die kirchlichen Angelegenheiten auch als folche kommunalen
Intereffes zu betrachten: die Betätigung der Kommune
in diefer Hinficht wird aber mit der Reformation
fehr viel ftärker und vor allem unmittelbarer. Das ent-
fprach der reformatorifchen Auffafiung, die keine mit
Zwangsgewalt verbundene Leitung äußerlicher kirchlicher
Angelegenheiten in die Hände fpezififch geiftlicher Organe
zu legen geftattete und die der Gemeinde zumutete,
fich felbft als Trägerin kirchlichen Lebens zu fühlen.
Rechtlich organifiert kommt aber die kirchliche Gemeinde
damals nur in der Kommune zur Erfcheinung; ihre Vertretung
ift der Rat (event. unter Zuziehung von Abgeordneten
der Zünfte und der Bürgerfchaft). So wird die
kirchliche Verwaltung ein, allerdings befonders behandelter,