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Ausgabe:

1912 Nr. 15

Spalte:

460-461

Autor/Hrsg.:

Rouët de Journel, M. J.

Titel/Untertitel:

Enchiridion Patristicum 1912

Rezensent:

Koch, Hugo

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459

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 15.

460

I 1—4a faßt Haafe felbft in dem Satz zufammen: Jede
Kirche hat ihre eigene Dogmengefchichte auf Grundlage
ihres Dogmenbegriffs zu fchreiben; die chriftliche Dogmengefchichte
ift die Geiftesgefchichte des Chriftentums, d. h.
fie zeigt die Auffaffungen des Chriftentums in den ver-
fchiedenen Bekenntniffen' (S. 45). Demgemäß werden die
,chriftlichen' Dogmen, ,rein hiftorifch betrachtet', definiert
als ,die durch theoretifche und praktifche Gründe ausgebildeten
chriftlichen Wahrheiten' (S. 55), während die
kirchlichen' Dogmen ,die begrifflich formulierten Glaubenswahrheiten
find, welche in der Offenbarung begründet und
von deren Anerkennung die Zugehörigkeit zur Kirche
abhängig gemacht wird' (S. 58). Für die Dogmengefchichte
ergibt fich daraus die Spaltung in eine chriftliche und
kirchliche Dogmengefchichte. Während die erfte die allgemeine
Bewegung des chriftlichen Geiftes mit grundfätz-
licher Berückfichtigung der ,Härefien' und der allgemeinen
Religionsgefchichte fchildern, die Entftehung der verfchie-
denen Auffaffungen vom Christentum in den einzelnen
chriftlichen Religionsparteien gefchichtlich darftellen und
erklären foll, hat die kirchliche Dogmengefchichte nur die
Dogmen einer Kirche zu behandeln (S. 70), allen Stoff,
der nicht zur Entwicklung des kirchlichen Dogmas beigetragen
hat, forgfältig fern zu halten und auf der Bafis
der noch zu Schreibenden ,chriftlichen' Dogmengefchichte,
aber bei ftrenger Wahrung der kirchlichen und religiöfen
Vorausfetzungen, die Entwicklung darzuftellen.

Haafes Programm bedeutet den intereffanten und
aufrichtig gemeinten Verfuch, der Kirche zu geben, was
ihr gehört, und der gefchichtlichen Wiffenfchaft, was ihr
gehört. Darum wird die von Schwane der Dogmengefchichte
geftellte Aufgabe vorbehaltlos zurückgewiefen.
Dem Verfaffer ift es ernfthaft um Anerkennung des
hiftorifchen Denkens zu tun. In Harnacks Dogmengefchichte
fieht er fogar ,in methodifcher Hinficht das Ideal einer
römifch katholifchen Dogmengefchichte' (S. 70) vorgezeichnet
. Darum will er auch grundfätzlich in der ,chriftlichen'
Dogmengefchichte die Religionspfychologie und Religionsgefchichte
anerkannt fehen. ,Die einzelnen Abfchnitte
des chriftlichen Lebens' werden ,nach rein chronologifcher j
Ordnung' durchforfcht, ,um zu erfahren, was geglaubt, j
gedacht, gelehrt, gehofft, gefordert und erftrebt worden
ift, um auf Grund deffen feftzuftellen, was man in den
einzelnen religiöfen Genoffenfchaften glauben mußte, um I
als Chrift zu gelten; bei diefer Methode durchlebt der
Hiftoriker den ganzen dogmengefchichtlichen Entwicklungsprozeß
' (S. 83). Auch der Modernifteneid bedeutet
keine Einfchnürung des wiffenfchaftlichen Gewiffens. Denn
mit Mausbach ift der Verfaffer davon überzeugt, daß die
Dogmengefchichte ihre eigene wiffenfchaftliche Methode
beibehält, und der ,Einfluß der religiöfen Autorität und
des Glaubens fich nur auf das Forschungsergebnis, nicht
auch auf den Forfchungsprozeß erftreckt' (S. 68).

An diefem Punkt wird freilich fofort deutlich, daß
Haafes Verfuch nicht geglückt ift. Denn Haafe hat fo
wenig wie bisher Mausbach das Geheimnis des wiffen-
fchaftlich möglichen Ausgleichs des unabhängig von aller
Forfchung begrenzten Forfchungsergebniffes mit dem
freien Forfchungsprozeße aufzuhellen vermocht. Ebenfo
wenig hat er gezeigt, wie die .kirchliche' Dogmengefchichte
felbftändig neben der .chriftlichen' foll beliehen können.
Möglich wäre dies nur, wenn die .kirchliche' Dogmengefchichte
bloß zeigen foll, wie eine beftimmte Kirche
die Dogmen und deren Entwicklung angefehen wiffen
will. Dann wäre aber die .kirchliche' Dogmengefchichte
nur eine, nicht einmal hiftorifch vollständige Monographie
zur Dogmengefchichte, wenn nicht gar nur ein Ausfchnitt
aus der Konfeffionskunde. Eine gefchichtlich felbftändige
Erklärung der Entftehung und Entwicklung des .kirchlichen
' Dogmas wäre ja nicht gewonnen. Für die prote-
ftantifche Dogmengefchichte würde vollends diefe Scheidung
unhaltbar. Denn daß jedes .Dogma' kirchlich Sanktioniert
fei und kirchliche Sanktion bedürfe, um Dogma,

zu fein, ift gerade auf proteftantifchem Boden umftritten.
Es kann auch nicht als felbftverftändliches Ergebnis der
Entwicklung des Protestantismus hingeftellt werden. Haafe
beugt hier den Proteftantismus unter eine dem katholifch
kirchlichen Denken entflammende Anfchauung. Und wie
foll ferner, was für die .chriftliche' Dogmengefchichte
hiftorifch gefunden ift, für die .kirchliche' Dogmengefchichte
unter Umftänden nicht gelten? Oder anders ausgedrückt:
wie können beide konfliktlos neben einander hergehen?
Wie kann für die eine die Forderung der religionsgefchicht-
lichen Problemstellung gelten, für die andere diefe Forderung
abgewiefen werden? (S. 76). Die .kirchliche'
Dogmengefchichte Haafes ift entweder überhaupt keine
rein hiftorifche Disziplin, oder ihr fehlt jede Möglichkeit
einer fachlich berechtigten Abgrenzung gegen die .chriftliche
' Dogmengefchichte. Kann der katholifche Dogmen-
hiftoriker die gefchichtlichen Grundfätze der .chriftlichen'
Dogmengefchichte nicht in der engeren katholifchen
Dogmengefchichte zulaffen, fo tut er das auf eigene
Rechnung und Gefahr. Ein wiffenfchaftliches Recht zur
Unterscheidung der .kirchlichen' und .chriftlichen'Dogmengefchichte
kann daraus nicht abgeleitet werden. Haafes
Programm ift darum wohl beachtenswert, aber hiftorifch
undurchführbar.

Tübingen. Scheel.

Enchiridion Patristicum. Locos ss. patrum, doctorum, scrip-
torum ecclesiasticorum in usum scholarum collegit
M. J. Rouet de Journel, S. J. (XXIV, 887 S.) 8°. Freiburg
i. B., Herder 1911. M. 10—; geb. M. 11 —

Vorliegendes Enchiridion ift als Seitenftück zum Enchiridion
symbolorum et definitionum von Denzinger-Bann-
wart (11. Aufl. 1911) und zum Enchiridion fontium historiae
ecclesiasticae von Kirch (1910, vgl. ThLZ. 1911, Sp. 715 f.)
gedacht und begnügt fich darum bei Stücken, die in
Siefen beiden Sammlungen enthalten find, mit einem Hinweis
. Es ift chronologisch angelegt und erftreckt fich
von der Didache bis zu dem die patriftifche Theologie
des Oftens zufammenfaffenden und abschließenden Johannes
von Damaskus, im Abendland bis zu Gregor I. Bei den
griechifchen Schriften ift eine lateinifche Überfetzung beigegeben
, die fyrifchen Stellen aus Aphraates und Ephräm
werden begreiflicherweife nur lateinifch angeführt. Druck
und Ausftattung find vorzüglich, Verfehen, wie in Nr. 745
Z. 7 jcaQüei'is/tovöa ft. jiaQÜEvevovOa ganz vereinzelt. Die
Sammlung hat fich dem Vorwort zufolge dogmatifche und
praktifche Zwecke gefetzt, fie will den Studierenden, aber
auch im Amte flehenden Predigern, loci bieten, ,qui ad
stabiliendum dogma maxime valeant', Väterftellen, die den
.sensus catholicae traditionis' am beften bekunden. Demgemäß
ift das Augenmerk auf den consensus gerichtet,
nicht auf den dissensus, auf das Sic, nicht auf das Non.
Immerhin find einige wenige, im Index theologicus durch
eingeklammerte Ziffern gekennzeichnete, Stellen aufgenommen
, .quaedoctrinae communiter receptae adversentur',
die darum im theologifchen Unterricht als .objectiones'
behandelt zu werden pflegen. Von Literaturangabe wird
vollständig abgefehen.

Wie fehr die ganze Sammlung der Dogmatik dienen
will, zeigt der eben erwähnte, fichtlich unter dem Zeichen
des Antimodernifteneides flehende Index theologicus mit
aller Deutlichkeit. Diefer befteht nämlich in einer Zu-
fammenftellung Scholaftifcher Leitfätze, zu denen das
Enchiridion die dicta prqbantia, den Traditionsbeweis
: liefern foll, und bildet fo gewiffermaßen eine dogmatifche Ge-
| brauchsanweifung, einen Sterilifierapparat, um unbequeme
| dogmengefchichtlicheErkenntniffe, wie fie bei der Lektüre
der chronologisch geordneten Väterftücke trotz ihrer vor-
: fichtigen Auswahl aufsteigen könnten, im Keime zu ersticken
. Einige Beifpiele mögen dies veranschaulichen.
Sie find vor allem aus den Traktaten De ecclesia und De
Romano pontifice genommen, bei denen man ja katho-