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Ausgabe:

1912 Nr. 14

Spalte:

436-437

Autor/Hrsg.:

Kierkegaard, Sören

Titel/Untertitel:

Gesammelte Werke. 8. Bd. Die Krankheit zum Tode 1912

Rezensent:

Hoffmann, Raoul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 14.

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als die kleineren Sekten, in Betracht gekommen wären.kennen
zu lernen, und vor allem, weil es ihm an allem und jedem
Verfländnis für Chriftentum und Kirche überhaupt fehlte.

So ift es zunächft (wenn es einer folchen bedurfte)
eine Ehrenrettung des deutfchamerikanifchen Lehrer-
ftandes, wenn jetzt ein anderer ehemaliger Schuldirektor,
der 35 Jahre drüben gewefen ift und jetzt in Heppenheim
an der Bergftraße wohnt, dem wir auch fchon ein treffliches
Buch über das amerikanifche Volksbildungswefen
verdanken, über dasfelbe Thema, wie Kno rtz, ja vielleicht
im ftillfchweigenden Gegenfatz zu ihm, ein ganz andersartiges
Werk gefchrieben hat. Er kennt das religiöfe
Leben nicht nur auf chriftlicher, fondern auch auf
jüdifcher Seite wenigftens in den meiften Gegenden der
Vereinigten Staaten (fie allein werden auch hier unter
Amerika verftanden), hat jede Form desfelben nach den
verfchiedenften Richtungen hin gründlich ftudiert und
gibt über jede auftauchende Frage ein wohlabgewogenes,
verftändnisvolles Urteil ab. So bildet fein Buch die befte
Behandlung der Frage, die wir bisher haben (auch in
englifcher oder franzöfifcher Sprache wüßte ich ihm nichts
an die Seite zu ftellen); man kann fich aus ihm nicht
nur über das religiöfe Leben in Amerika zuverläffig
unterrichten, fondern aus diefer Darftellung auch für
feine eigene Arbeit allerlei lernen.

Das Buch ift vielleicht nicht recht glücklich disponiert.
Es zerfällt in zwei Teile, die aber keine genaueren Über-
fchriften tragen und fich in der Tat fchwer im Unter -
fchied voneinander charakterifieren laffen. Der erfte
enthält mehr hiftorifche und allgemeine Ausführungen,
der zweite behandelt mehr die Gegenwart und befondere
Erfcheinungen; doch wird diefes Teilungsprinzip nicht
ftreng durchgeführt. Gleichwohl folge ich dem Gang des
Buches, wenn ich nun, foweit das feine Reichhaltigkeit
geblattet, einen Überblick über feinen Inhalt zu geben fuche.

Der Verf. beginnt mit einer kurzen Schilderung der
älteften puritanifchen Kirchen, zu der zur Ergänzung
H.Haupts Ausführungen über Staat und Kirche in den
Vereinigten Staaten von Nordamerika (Studien zur prakt.
Theologie III, 3) verglichen werden können. Die Entfremdung
zwifchen Kirche und Leben, wie he anfangs
des 18. Jahrhunderts eintrat, buchte der Unitarismus zu
überwinden, ohne doch größeren Einfluß zu gewinnen.
Der von Channing ausgehende Transfzendentalismus
kümmerte fleh nicht um die Kirchen; erbt Emerfon wirkte,
weil er der Stimmung feiner Zeit entgegenkam, auf he
ein, ja nach meinem Eindruck ift diefer ethifche Optimismus
für das moderne amerikanifche Chriftentum vor allem
charakteribtifch.

Müller führt das nicht weiter aus, fondern fchildert
fernerhin einige vor allem in den Mittelftaaten verbreitete
Kirchen, nur kurz das Quäkertum, ausführlicher
den Methodismus, am eingehendbten den Katholizismus.
Dabei wird allerdings die neuere Entwicklung des Quäker-
tums, wie he namentlich von dem Seminar in Richmond,
Indiana, ausgeht, nicht berückhehtigt; auch unter den
Methodibten gewinnen moderne Anfchauungen immer
mehr an Boden. Allumfaffend ift dagegen die Schilderung
des Katholizismus, deffen amerikanifche Auffaffung ja
nicht nur auf andere Länder eingewirkt hat, fondern
auch für die Beurteilung des Katholizismus überhaupt
von höchbter Bedeutung ift.

Sehr wertvoll bind ferner die Mitteilungen aus dem
religiöfen Leben der Südbtaaten, in die der Ausländer
nicht fo leicht kommt und von denen man daher auch
nicht viel hört oder liebt. Hier ift befonders die angli-
kanifche Kirche, das Täufertum, wie Müller mit wohl
nicht recht angebrachtem Purismus für Baptismus fagt,
und der Methodismus verbreitet; das Bild, das er von
ihnen entwirft, zeigt, daß auch hier fehr erfreuliche und
vielverfprechende Fortfehritte gemacht werden.

Der zweite Teil beginnt mit einer Abhandlung über
den deutfehen Proteftantismus und die Achtundvierziger,

in der fich die Gerechtigkeit und Objektivität des Urteils
Müllers vielleicht im glänzendften Lichte zeigt.
Sehr verdienbtlich ift auch die Schilderung des ameri-
kanifchen Judentums, man erkennt daraus von neuem,
wie nahe deffen modernbte Richtung dem Chriftentum
kommt, und wundert fich dann nicht mehr fo, daß dort
Chriften und Juden auch auf Gebieten zufammenarbeiten,
auf denen das bei uns noch unmöglich wäre. Von den
Neubildungen, die Müller weiterhin befpricht, find der
Mormonismus, Spiritualismus, die Chriftian Science und
der Zionismus Dowie's ja bekannt genug, weniger wohl
der ,neue Gedanke' (New Thought), befonders von Trine
und Drebber vertreten, der von einem proteftantifchen
Prediger Newton, einem Rabbiner Silbermann und dem
Chinefen Wu Ting Fang gegründete Bund zur Befolgung
der goldnen Regel, der Walt-Whitman-Kultus und die
Bruderfchaften Mills', die vor einigen Jahren in Kalifornien
entftanden. Die Gefellfchaft für ethifche Kultur und die
Heilsarmee kennen wir wieder zur Genüge, kaum aber
die neuere Entwicklung der Vereine chriftlicher junger
Männer und der Societies of Chriftian Endeavor. Die
Kapitel: Erweckungsverfammlungen und Bekehrungen,
fowie: Glaubensheilungen ftellen zugleich Beiträge zur
religiöfen Pfychologie dar; die hibtorifch-btatiftifchen Angaben
des letzteren werden in etwa durch meinen in der
Chribtl. Welt 1909 Sp. 633 ff. veröffentlichten Artikel über
die pfychotherapeutifche Bewegung in Nordamerika
ergänzt. Mit wehmütigem Neid lieft man, was Müller
über Kirche und Arbeiterfchaft und auch, was er über
Kirchlichkeit in Amerika fagt und prophezeit, ja jetzt
fchon fteht es auch in letzterer Beziehung doch viel
beffer als bei uns — man muß bei Vergleichung der
Zahl der Kirchgänger nur beachten, was leider bloß in
einer Anmerkung nachgetragen wird, ,daß in Amerika
nicht wie in Deutfchland die Kinder, fondern nur diejenigen
einem Bekenntnis zugerechnet werden, die ihren
Beitritt (aus eigenem Antrieb) in der Konfirmation vor
der Gemeinde erklärt haben'. Was endlich in den letzten
beiden Abfchnitten über Liberalismus und die Religion
der Zukunft ausgeführt wird, läßt erkennen, wie weitverbreitet
das Intereffe für religiöfe Anfchauungen ift, die
auch unfre und künftige Generationen befriedigen können.
So gewinnt man aus dem Buche von neuem den Eindruck
, nicht nur, was für ein gefundes, zukunftreiches
Volk das amerikanifche ift, fondern auch, wie wenig wir
felbft an einem endlichen Erfolg unferer gleichen Be-
btrebungen zu verzweifeln brauchen. Jeder, der es liebt,
wird es erhoben und gebtärkt aus der Hand legen.

So möchte ich daran auch (außer durch die Ergänzungen
, die ich fchon in mein Referat eingeflochten
habe), keine weitere Kritik üben. Ich mache nur noch
auf einige Verfehen aufmerkfam, die in einer zweiten
Auflage verbeffert werden follten.

Lyman Beecher (S. 15) war nicht Presbyterianer, fondern Kongre-
gationalift, Channing (ebd.) hieß nicht Thomas, fondern, wie S. 252
richtig fteht, William Ellery. Montefiore (S. 93) hielt keine Gibbert,
fondern Hibbert-Vorträge, an deren Stelle allerdings fpäter die Gifford
Lectures traten; endlich Goblet d'Alviella (S. 247) ift, wenngleich er
fein Buch über l'evolution religieuse contemporaine chez les Anglais, les
Americains et les Hindous vor feiner Habilitation für Religionsgefchichte
fchrieb, doch fpäter vor allem durch feine Arbeiten auf diefem Gebiet,
nicht dem der Nationalökonomie, bekannt geworden. Übrigens hätte
wohl diefer Buchtitel angegeben und ebenfo fonft gleichmäßiger und
genauer zitiert werden können; im übrigen ift der Druck ja fo forgfältig,
wie es bei Veröffentlichungen des Diederichs'fchen Verlags die Regel bildet.

Bonn. Carl Clemen.

Kierkegaard,Sören: GefammelteWerke. 8.Bd. Die Krankheit
zum Tode. (Eine chriftlich-pfycholog. Entwickig.
zur Erbaug. u. Erweckg. v. Anti-Climacus. Hrsg. v.
S. K.) (Überf. u. m. Nachwort v. H. Gottfched.) (133 S.)
Jena, E. Diederichs 1911. M. 2—; geb. M. 3 —

Erbte Bedingung zur Genefung ift, zu wiflen wie krank
man ift.