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Ausgabe:

1912 Nr. 14

Spalte:

434-436

Autor/Hrsg.:

Müller, Wilh.

Titel/Untertitel:

Das religiöse Leben in Amerika 1912

Rezensent:

Clemen, Carl

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 14.

434

Der Verfaffer hat unleugbar Talent zur hiftonfchen
Charakteriftik. Und abgefehen von einigen Flüchtigkeiten
— auch zahlreiche Druckfehler find flehen geblieben
— ift feine Darftellung gewandt und anfprechend.
Doch hat er fich der Betätigung diefer Fähigkeiten ohne
die nötige Selbftkritik überlaffen und fo die Zuverlaffig-
keit feiner Ausführungen mehr oder weniger beeinträchtigt.
Teils nämlich verallgemeinert er gern Züge, die in be-
fchränkterem Umfange wohl zutreffen, teils rechnet er,
wie z. B. in der Charakteriftik Abraham Calovs, manches
einem einzelnen zu, was diefer doch nur mit feinen Ge-
finnungsgenoffen teilte. Ferner fetzt er bald zu viel voraus,
indem er als bekannt unterftellt, was wenigftens in einem
Populären Buche erfh hätte klar gemacht werden muffen;
bald zu wenig, indem er wichtige Dinge einfach beifeite
läßt, die in einer Gefchichtsdarftellung wie der feinigen
nicht hätten fehlen dürfen. So ift das Buch ungleichmäßig
gearbeitet. Die Spezialgebiete, in denen der Verfaffer
zu Haufe ift und vielfach fleißig gearbeitet hat,
kommen in einer reichlichen Fülle von Mitteilungen zur
Geltung. Andererfeits find neben direkt unrichtigen Angaben
auch erhebliche Lücken vorhanden, die der Verfaffer
jedoch als folche gar nicht empfunden zu haben
fcheint.

Gleich fchon die Reformation wird eigentlich nur
unter dem Gefichtspunkt betrachtet, daß durch fie die
lutherifche Kirche gegründet worden fei. Daß dabei die
Differenzen und Auseinanderfetzungen mit der römifchen
Kirche bloß gelegentlich angedeutet, nicht aber eigens
erörtert werden, mag einer auch wieder im Belieben des
Verfaffers fliehenden Begrenzung feines Arbeitsplanes zugute
gehalten werden. Doch hat fich der Verfaffer auch
jede zufammenhängende Darftellung des religiöfen und
theologifchen Standpunktes der deutfchen Reformatoren
erfpart. Diefer Verzicht aber kann nicht ebenfo als ftatt-
haft angefehen werden, da der Verfaffer je länger, je
mehr auf die theologifchen Leiftungen und Richtungen
des fpäteren Proteftantismus eingeht und meiftens mit
fehr beftimmten Urteilen über fie zu Gericht fitzt. Entweder
nun hätte ein folches Urteilen, um nicht zum willkürlichen
Aburteilen auszuarten, durch eine von vorn
herein zureichende dogmengefchichtliche Würdigung des
alten Proteftantismus unterbaut werden müffen. Dann
wären jene fpäteren Urteile des Verfaffers vielleicht doch
zum Teil anders ausgefallen. Oder der Verfaffer hätte die
fpätere proteftantifche Theologie ebenfo zurückhaltend
wie die reformatorifche behandeln müffen. Dann hätte
fein Buch allerdings wohl an ftofflichem Intereffe verloren
, dagegen an Objektivität und hiftorifcher Gerechtigkeit
nur gewinnen können. So aber hat fich der Verfaffer
nirgends um die Aufgabe einer immanenten Kritik
bemüht, fondern fein perfönlicher Standpunkt fleht im
Sinne der in der hannoverfchen Landeskirche feit einer
Reihe von Jahrzehnten vorherrfchenden theologifchen
Richtuno- feft, und an diefer Norm werden alle anderen
Anflehten gemeffen. Verleugnet fich allerdings bei dem
Sohne Gerhard Uhlhorns im einzelnen nicht eine gewiffe
von diefem überkommene Weitherzigkeit, fo kann doch
der lediglich dogmatifche Maßftab feiner Urteile in einem
Werke, das .Gefchichte' fein will, grundfätzlich nicht als
wiffenfehaftlich zuläffig anerkannt werden.

Im einzelnen befchränke ich mich darauf, die folgenden
Irrtümer und Mißgriffe hervorzuheben:

Band i S. 13 hätte erwähnt werden dürfen, daß im Unterfchiede
von Butzer und Calvin gerade Luther noch ganz die mittelalterliche Anseht
von der Verwerflichkeit des Zinsnehmens vertreten hat. — S. 22 f.
OQer 34 f. hätten auch die Anfänge des von den Wittenberger Reformatoren
1535 eingeführten Ordinationsverfahrens berückfichtigt werden
follen. _ Zu S. 23. Nicht Melanchthons Loci, für die erft bei der
Ourchfetzung des Corpus Philippicum (1560) in Kurfachfen ein folcher
Anfpruch erhoben worden ift, fondern fein von Luther revidierter Untergeht
der Vifitatoren ift in den älteften Kirchenordnungen zuweilen ,als
Vorm der evangelifchen Predigt aufgeftellt' worden. — Zu S. 62:
. lelanchthon hat keineswegs das Augsburger Interim gebilligt, fondern
m feinen charakteriftifchften Stücken ohne Schwanken abgelehnt. — Zu

S. 73: Mindeftens ungenau ift die Behauptung, daß Melanchthon Agri-
cola eine neue Profeflur in Wittenberg nicht .gegeben' habe. Denn
das war gar nicht feine, fondern des Kurfürften Sache. — Zu S. 74:
,Verfaßt' hat die Confessio Saxonica Melanchthon, die Confessio Wirtem-
bergica Brenz, und diefe ift 1552 zu Trient von den Wiirttembergifchen
Gefandten auch wirklich übergeben worden. — S. 74 oder 77 hätte die
Angabe Platz finden dürfen, daß Moritz von Sachten Magdeburg über
ein Jahr belagert hat, bis die Stadt unter annehmbaren Bedingungen
kapitulierte. — Zu S. 80: Nicht nur neue Kirchenordnungen, fondern
auch ein ganze Anzahl von Corpora doctrinae find zwifchen 1560 und
dem Zuftandekommen des Konkordienbuches in den verfchiedenften pro-
teftantifchen Landeskirchen eingeführt worden. — Zu S. 93: Die
„Schuld" an der konfeffionellen Spaltung unter den Proteftanten ift nicht
„vornehmlich" den Reformierten, fondern den Lutheranern beizumeffen,
da fich diefe erft durch die Annahme der Concordienformel von jenen
definitiv getrennt haben. — Zu S. 94: Der Gegenfatz zwifchen Luther
und Zwingli, der als das Gegenüberftehen zweier Weltanfchauungen, der
Myftik und des Rationalismus, charakterifiert wird, ift ohne Rückficht
auf das, was beiden auch gemeinfam war, ftark übertrieben. — S. 100
hätte Luthers kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (1544) und
die der Herausgabe diefer Schrift unmittelbar vorangehende Spannung
zwifchen Melanchthon und Luther wohl erwähnt werden dürfen. —
Zu S. 102: Im majoriftifchen Streit hat es fich nicht um einen ,wefent-
lichen Anteil' der guten Werke an der ,Erlangung' der Gnade und des
ewigen Lebens gehandelt, fondern um ihre Notwendigkeit zur Seligkeit,
fofern fie nach der Anficht der Majoriften vor allem als Mittel zur Erhaltung
des rechtfertigenden Glaubens den endgiltigen Gewinn der
Seligkeit mitbedingen follen. Ferner wird auf derfelben Seite wohl von
Ofianders .Anficht' geredet, aber nicht im entfernteften angedeutet, worin
diefe denn eigentlich beftanden hat. Direkt unrichtig aber ift es, fie
(S. 110) als eine .extrem' lutherifche Anficht zu kennzeichnen. — In
Kapitel 8 oder 9 hätte notwendig auch von dem weftfälifchen Frieden
und der durch ihn gefchaffenen allgemeinen kirchlichen Lage, vor allem
was die nunmehrige ftaatsrechtliche Anerkennung auch der reformierten
Konfeffion betrifft, gehandelt werden müffen. — Zu S. 207. Nicht bloß
Calixt, fondern auch die gleichzeitigen orthodoxen Lutheraner wußten
zwifchen fundamentalen und weniger wichtigen Glaubensartikeln zu unter-
fcheiden. Nur tat er es in mechanifch traditionaliftifcher Weife, die orthodoxen
Theologen dagegen auf Grund einer tiefdringenden dogmatifchen
Denkarbeit. Ferner war nicht die von Calixt in die deutfehe proteftantifche
Theologie eingeführte analytifche Methode, fondern die in diefer
bis dahin herrfchende fynthetifche Methode, die in der von Calixt fo-
genannten akademifchen, d. h. in der polemifchen Theologie gepflegt
wurde, recht eigentlich ein Mittel, ,die Köpfe zu fchulen'. So wie
Calixt dagegen die analytifche Methode verftand, die für die gleichfalls
von ihm fo bezeichnete .pofitive' Theologie gelten follte, kam es ihm
nur auf den durchaus praktifchen Zweck an, die theologifchen Durch-
fchnittsftudenten durch Unterweifung in den Glaubensartikeln des Apo-
ftolikums und in der Lehre von der Kirche und deren Machtmitteln für
ihren künftigen geiftlichen Beruf auszurüften. —■ Wenn es ferner S. 234
Calixt und feiner Schule als hohes Verdienft nachgerühmt wird, den
Toleranzgedanken zuerft entfehieden vertreten und verbreitet zu haben
fo gilt dies material nur fehr cum grano salis. Andererfeits hat er darin
fchon im 16. Jahrhundert, befonders in Holland, wichtige Vorgänger
gehabt. Auch hätte der Verfaffer die fchon vor Calixt durch die reformierte
Irenik vertretenen fynkretiftifchen Beftrebungen nicht einfach übergehen
dürfen.

Im zweiten Bande hätte der auf S. 117 genannte Baron von Kott-
witz auch als einer der Hauptträger der f. g. Erweckungsbewegung nach
den Freiheitskriegen gewürdigt werden dürfen. — In dem Rückblick
ferner, der auf S. 242 auf die heffifche Kirchengefchichte gegeben wird,
hätte auch der Streitigkeiten zwifchen Reformierten und Lutheranern
gedacht werden follen, die im Anfange des 17. Jahrhunderts zur Gründung
der lutherifchen Univerfität Gießen geführt haben. — S 311 heißt
es, Bismarck fei in den pietiftifchen Kreifen Pommerns aufgewachfen.
Zu diefen trat er jedoch erft durch feine Verlobung in nähere Beziehungen,
wahrend er feine höhere Schulbildung in Berlin erhalten hat und dort
von Schleiermacher konfirmiert worden ift.

Im ganzen ift dem Verfaffer der zweite Band, namentlich in den
dogmatifch indifferenten Abfchnitten über das 19. Jahrhundert, beffer
gelungen als der erfte. Ausgebreitete Kenntnifle hat er befonders in der
Kirchengefchichte Hannovers, wohl unterrichtet aber ift er auch in derjenigen
anderer Provinzen und Länder, in denen die Union keinen Eingang
gefunden hat.

Bonn- O. Ritfchl.

Müller, Wilh.: Das religiöTe Leben in Amerika. (266 S.) 8".
Jena, E. Diederichs 1911. M. 4.50; geb. M. 5.30

Vor zwei Jahren erfchien von dem deutfehamerika-
nifchen Schulmann Karl Knortz im Sueviaverlag in
Jugenheim an der Bergftraße eine Schrift: Religiöfes Leben
in den Vereinigten Staaten, die fich felbft als einen unerfreulichen
Bericht charakterifierte. Sie war das auch
namentlich deshalb, weil der Verf., obwohl feit ziemlich
50 Jahren in Amerika lebend, fich doch nicht Mühe gegeben
hatte, die großen Kirchen, die für jenen Bericht vielmehr,