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Ausgabe:

1912 Nr. 13

Spalte:

409-410

Autor/Hrsg.:

Thudichum, Friedrich

Titel/Untertitel:

Geschichte des Eides 1912

Rezensent:

Kulemann, W.

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409

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 13.

410

verzweigen, wie fie es in der Gegenwart zu tun vermag.
Auch die evangelifche Kirche muß Rechtskirche fein,
nicht nur Glaubenskirche, Bekenntniskirche, nicht Volkskirche
. Und als Bekenntniskirche muß auch fie fich zur
Weltkirche ausbauen, zu der wir zunächft durch Vermittlung
der Bildung einer deutfchen Nationalkirche kommen
muffen. Diefe evangelifche Weltkirche wird im Parallelogramm
der geiftigen Kräfte ein geeignetes Mittel fein,
um den allein feligmachenden Staat einerfeits, die katho-
hche Weltkirche andererfeits in Schach zu halten. ,Wo
die Zentripetalkraft der evangelifchen Kirche aus dem
Rahmen des Staats (in dem fie fich beim Landeskirchen-
tum befindet) herausfällt, muß fie in die äußere Ordnung
der Kirche zurückkehren, als Nationalkirche, als Weltkirche'.

So viel Richtiges und Beherzigenswertes die geiftvolle,
die Probleme in der Tiefe faffende Schrift enthält: an die
evangelifche Weltkirche als an das Ziel der proteftantifch-
kirchlichen Entwicklung kann ich fo wenig glauben wie
an den Univerfalftaat, den Verf. als Ziel der ftaathchen
Entwicklung fchaut. Was über die Beftrebungen zur
Erreichung der deutfchen Nationalkirche als Etappe auf
dem Weg zur Weltkirche gefagt wird, ift fchief. Denn
jene Beftrebungen gingen und gehen, wie Verf. felbft hervorhebt
, Hand in Hand mit den politifchen Einigungsbeftre-
bungen in Deutfchland und weifen deshalb vielmehr in
die Richtung der vom Verf. fo verpönten Volkskirche (als
juriftifcher Begriff ift dies Wort übrigens nicht geprägt
worden; der juriftifche korrekte Begriff ift der der Landeskirche
) als in die der über die Schranken der Nationen
hinausgreifenden Weltkirche. Vor allem aber fcheint mir
die Entwicklung deshalb nicht in der vom Vf. angenommenen
Richtung verlaufen zu können, weil die notwendige
Bafis einer vom Staat organifatorifch losgelöften
Kirche, das formulierte Bekenntnis, auf proteftantifchem
Boden gar keine Einheitstendenzen zeigt, im Gegenteil.
Verf. hat es nicht vermocht, eine einleuchtende ,Wortfomel'
anzudeuten, in der fich das Bekenntnis der Weltkirche
ausprägen ibll — und er fcheint felbft nicht recht an die
Möglichkeit zu glauben, wenn er fagt: ,Das faßlichfte und
lautefte Bekenntnis aber foll der Bau felber fein'. Wenn
er von dem innerften und allgemeinften Gehalt des Chriften-
tums redet, wie er ,in den wahrhaft freien Chriften' lebt —
wo kommen dann die nicht wahrhaft freien Chriften hin,
die in die weltkirchliche Organifation doch auch hinein-

,Eidesfrage' ausgeführt, daß ein Amtsrichter durchfchnitt-
lich im Jahre 1000 Eide abzunehmen hat und daß diefe
Maffenhaftigkeit der Eidesleiftungen bei allen Perfonen,
die dabei mitzuwirken haben, das Gefühl der Erhebung
und Weihe, das mit dem Schwur verbunden fein follte,
bis auf den letzten Reft vernichtet. Es ift unbegreiflich,
daß der Gefetzgeber fich der außerordentlichen Gefahr
nicht bewußt ift, die er durch diefen Mißbrauch des
Eides heraufbefchwört. Wollte man wirklich ganz ab-
fehen von der fchweren fittlichen Schädigung, die mit
der Herabwürdigung des Eides in der Volksauffaffung
verbunden ift, fo follte man fich doch klar machen, daß
auch der ftaatliche Zweck, der mit der Anwendung des
Eides im Rechtsleben verfolgt wird, nur folange erreicht
werden kann, wie der Eid auf die Perfonen, die ihn
leiften, die Wirkung übt, daß er fie zu einer gefteigerten
Gewiffenhaftigkeit antreibt, daß aber nach pfychologifchen
Gefetzen diefe Wirkung verfagen muß, fobald der Eid
ein alltägliches Ereignis geworden ift.

Erfreulicherweife gewinnt die Auffaffung, daß der
bisherige Zuftand einen fchweren Mißbrauch des Eides
bedeutet, immer mehr Anhänger; insbefondere haben
zahlreiche kirchliche Körperfchaften in diefem Sinne Be-
fchlüffe gefaßt, und die neuere Gefetzgebung hat bereits
angefangen, ihnen Rechnung zu tragen.

Tudichum hat fich ein Verdienft damit erworben,
daß er ein umfangreiches Tatfachenmaterial zufammen-
ftellt, aus dem hervorgeht, wie diefer Eidesunfug fchon
das ganze Mittelalter beherrfcht hat, obgleich wiederholt
von den Vertretern echter Religiofität darauf hingewiefen
wurde, daß er mit der Stellung, die Jefus zum Eide einnahm
, im fchroffften Widerfpruche fteht. Es ift von
großem Intereffe, zu verfolgen, wie man beftrebt war, rein
egoiftifche Zwecke dadurch zu fördern, daß man Anderen
den Gewiffenszwang des Eides auferlegte. Könige, Reichs-
fürften und Beamte mußten in derfelben Weife beim Antritte
ihres Amtes eidliche Gelöbniffe abgeben, wie
Päpfte, Bifchöfe, Äbte und Priefter. Außerdem mußten
fämtliche Staatsbürger in den Pluldigungs- und Bürger -
Eid en die Verpflichtungen, die ihnen ohnehin oblagen,
nochmals eidlich bekräftigen. Von noch größerer Bedeutung
war die Verwendung des Eides im Gerichtsverfahren
, ja hier erfand man eine Einrichtung, die uns
heute völlig unverftändlich geworden ift, nämlich die der

gehören, wenn fie fich evangelifch fromm wiffen? Es gibt j Eideshelfer. Sie waren nicht Perfonen, die nach Art

m. E. nur zwei mögliche Hauptformen in der Organifation
evangelifch-religiöfen Gemeinfchaftslebens: Anlehnung der
.Kirche' an die im ftaatlichen Rechtsorganismus organifierte
natürliche Volksgemeinfchaft (hier kann dem vomProteftan-
tismus hochgehaltenen Recht des religiöfen Individuums
dadurch Rechnung getragen werden, daß der Rechtszwang
des formulierten Bekenntniffes hinter dem Bewußtfein der
gefchichtlich gewordenen Zufammengehörigkeit auf dem
gemeinfamen evangelifchen Boden zurücktritt) oder Be-
kenntnisgemeinfchaften, die aber kraft des ftarken fubjek-
tiven Moments in der evangelifchen Glaubensüberzeugung
immer in der Mehrzahl auftreten werden. Zwifchen den
verfchiedenen Landeskirchen und Bekenntnisgemeinfchaften
ift nur eine freie, höchftens nach Analogie des Völkerrechts
rechtlich zu fixierende Fühlungnahme möglich. Mag man
das bedauern oder begrüßen, es liegt nun einmal im
Wehen des Proteftantismus, der wegen der Verfchieden-
heit der letzten Prinzipien keine der römifchen analoge
Kirchenbildung zu ftande bringen kann.

Friedberg i. H. K. Eger.

Thudichum, Prof. Friedr.: Gefchichte des Eides. (VII,
150 S.) 8°. Tübingen, H. Laupp 19"- M- 5~

Wenn man den unerhörten Mißbrauch beobachtet,
der mit dem Eide getrieben wird, fo muß man fich
wundern, daß er noch immer eine erhebliche Bedeutung
tür das Volksleben behalten hat. Ich habe in meiner

unferer heutigen Zeugen eine Tatfache aus eigener Wahrnehmung
bekundeten, fondern fie unterftützten nur den
Eid des unmittelbar Beteiligten. Wenn, wie es den Regelfall
bildet, zwei folche fich gegenüberftanden, fo fiegte
derjenige, der die meiften Eideshelfer brachte, und das
war meiftens der Angehörige der ausgebreiteteren Sippe,
denn es galt als Verwandtenpflicht, fich in diefer Weife
zu helfen. Hatte der Eine 6 oder 12 Eideshelfer, fo
konnte der Andere ihn mit der doppelten Zahl .überbieten
*. Verfucht man die Grundauffaffung zu verliehen,
cu'^, Einrichtung hervortritt, fo gewinnt man den
bchluffel zu der Stellung des Eides, die er in der Hand-
u ugc CnS des Staates und der Kirche von jeher
M .und di.e noch heute nicnt völlig verfchwunden
r u n w'rd *~le *m Gegenfatze zu der oben erwähnten
pfychologifchen als die mechanifche bezeichnen dürfen.
Man behandelt den Eid wie ein Zaubermittel; auch von
einem folchen erwartet man eine rein mechanifche Wirkung
. Diefer Zaubergedanke tritt auch hervor in dem
äußeren Zeremoniell, insbefondere in der Verwendung
heiliger Gegenftände, wie Evangelienbücher und Reliquien
, die ganz diefelbe Stellung einnahmen, wie in heidnischer
Zeit die Lanzen und Schwerter. So gewährt die
Handhabung des Eides zugleich einen Einblick in die
religiöfe Vorftellungswelt der betreffenden Zeit.

Das Buch von Thudichum ift allen, die fich für die
Eidesfrage intereffieren, warm zu empfehlen.

Göttingen. W. Kulemann.