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Ausgabe:

1912 Nr. 12

Spalte:

373-376

Autor/Hrsg.:

Heinrici, C. F. Georg

Titel/Untertitel:

Die Eigenart des Christentums 1912

Rezensent:

Dorner, August

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 12.

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über Plato (er hätte viel triftiger auf Descartes verweifen
können) den deus ex machina energifch abgelehnt, aber
in der Differtation hat Kant keineswegs die Erkenntnis
(Urfprung und Gültigkeit) logifch auf Gott gegründet.
Er hat wohl Gott als das objektive Prinzip der intelle-
giblen Welt bezeichnet und nur dem divinus intuitus die
volle intellektuale Anfchauung zugeftanden, dem Menfchen
aber nur die fymbolifche Erkenntnis eingeräumt und damit
eben dem divinus intuitus gegenübergeftellt. Er hat
ja gerade in den Reflexionen und fonft das Negative diefes
Unterfchiedes des Intellektuellen vom Senfitiven betont
(Refl. II, 6). Er war auf dem Wege, die Grenzen der Erkenntnis
zu ftatuieren, nicht aber wollte er die Erkenntnis
in der Gottesidee logifch begründet wiffen. Die
folgenden Abfchnitte bauen die eigentümliche Leiftung
Kants auf diefem Eundamente auf. Das Apriori wird
metaphyfifch als Eigenbefitz des Menfchengeiftes gedeutet
und die echte Erkenntnis a priori herausgeftellt, fodann
die freie Tätigkeit des Menfchengeiftes in der Spontaneität
gefunden und deren Bauftoff unterfucht, endlich die
Transzendental-Philofophie als die Formung des Gegen-
ftändliehen gemäß dem Eigenbefitze des Menfchengeiftes
gefaßt Diele Deutung des Inhaltes der Differtation trägt
m. E. viel zu viel Metaphyfifches in fie hinein. Im letzten
Abfchnitt, der die Vorausfetzungen und den Inhalt der
Kritik der reinen Vernunft darlegen foll, wird die Leiftung
des fubftantialifierten Menfchengeiftes im Einzelnen vorgeführt
.

Ich kann unmöglich auf die fcharffinnigen Erörterungen
hier im Einzelnen eingehen. Ich will nur noch einmal
kurz meinen Standpunkt dahin präzifieren, daß nach
meiner Überzeugung der Verfaffer einen metaphyfifchen
Hintergrund der Erkenntnistheorie als fyftembildenden
Faktor mit Unrecht konftruiert hat. Andererfeits möchte
ich aber ausdrücklich betonen, daß m. E. die überaus
fcharffinnigen Erörterungen des kenntnisreichen Verfaffers
fehr viel zum Verftändnis der kantifchen Kritik beitragen,
und daß fie geeignet erfcheinen, erneut die Aufmerk-
famkeit auf fehr wenig beachtete Probleme der hiftorifchen
Forfchung zu lenken. Es find Fragen in Fluß gebracht,
für deren endgültige, auf breiter hiftorifcher Bafis fundierte
Löfung wir am liebften ihrem Anreger felber dankbar
fein möchten.

Einbeck. Bruno Jordan.

Eucken, Rud.: Können wir noch Chriften fein? (VII, 236 S.)

8°. Leipzig, Veit & Comp. 1911. M. 3.60; geb. M. 4.50
Heinrici, C. F. Geo.: Die Eigenart des Chriftentums. Rektorats
-Rede. (23 S.) 8°. Leipzig, J. C. Hinrichs 1911. M.—6b
In diefer Schrift wendet Eucken feine früher aus-
gefprochene Anficht, daß der chriftliche Perfonalismus
mit den berechtigten Elementen des modernen Naturalismus
und Intellektualismus fleh verbinden müffe, auf die
Beurteilung des gegenwärtigen Chriftentums an und redet
einem den Anforderungen des modernen Bewußtfeins
gerecht werdenden Chriftentum das Wort. Demgemäß
Bellt er zuerft die Frage: Was ift und was will das
Chriftentum? Er lehnt ab, dasfelbe auf die einfache
Formel eines Begriffs zu bringen, er will nur ,aus der unendlichen
Fülle der Erfcheinungen durchgehende Charakterzüge
herausheben und aus ihnen ein faßbares Gefamt-
bild entwerfen'. Demnach macht das Chriftentum die
Religion zur fouveränen Beherrfcherin des menfehlichen
Lebens und Seins, will volle Weltherrfchaft der reinen
Geiftigkeit, will aus den Widerfprüchen des Dafeins er-
löfen und zwar auf ethifche, nicht auf intellektuelle Weife,
will nicht wunderbare Erleuchtung (?), fondern Umwälzung
der Geflnnung, Überlegenheit des Geiftes gegen alle
verfeinerte Natur, reine Durchbildung feines ethifchen
Charakters. Diefes Ziel foll erreicht werden durch die
Verkündigung des Gottesreiches und der Gotteskindfchaft

und durch die Menfchwerdung Gottes zum Zweck der
Erlöfung der Menfchheit. Deshalb ift das Einswerden
von Gott und Menfch in feiner Perfon und die dadurch
bewirkte Erlöfung das Zentraldogma des Chriftentums,
woraus alle weiteren Dogmen bis auf die jungfräuliche
Geburt ,fich mit zwingender Notwendigkeit ergeben'. Das
Chriftentum .unterfcheidet fleh von allen anderen Religionen
durch die untrennbare Einigung von Gefchichte
und Metaphyflk'. Um alle Verhältniffe zu durchdringen,
dazu bedarf es der Kirche als Hüterin und Verfechterin
der heiligen Güter. Aber die Hauptfache ift die Bildung
einer Welt reiner Innerlichkeit aus dem Verhältnis von
Geift zu Geift, von Perfönlichkeit zu Perfönlichkeit und
hiermit fteht das Vermögen im Zufammenhang, die
Gegenfätze des menfehlichen Lebens zu überwinden, ohne
fle abzufchwächen, es überwindet den Schmerz und die
Schuld, es befreit vom kleinen Ich, fchafft eine neue
Perfönlichkeit, die von Liebe erfüllt ift, gibt neuen Lebensmut
und hat fleh in der Kunft dargeftellt.

Es fragt fleh nun, ob die Neuzeit das Chriftentum
noch brauchen kann. Eucken antwortet mit Ja, verlangt
aber, daß es fleh ihr entfprechend modifiziere. Es ift
nicht möglich, hier feinen diefes Refultat vorbereitenden
Gedankengängen nachzugehen, die übrigens in dem
Wahrheits-Gehalt der Religion im wefentlichen fchon
enthalten find. Nur das Refultat foll mit ein paar Worten
fkizziert werden. Unter dem Einfluß der Gegenwart foll
das Chriftentum weder die Kultur beherrfchen, noch fleh
vor ihr zurückziehen, fondern von feinem innerften Kern
aus diefelbe indirekt beeinfluffen, diefer Kern aber foll
noch ftärker herausgearbeitet werden als die nicht bloß
in Chriftus erfchienene hiftorifche, fondern als
die innere Tatfächlichkeit der Wefensvereinigung des
Menfehlichen und Göttlichen, das aber zugleich transzendent
ift, wie immanent. Er verlangt wie Fichte eine
Vereinigung von Myftik und Ethik, der ethifchen und
fpekulativen Auffaffung des Chriftentums. Die Gerechtigkeit
und Liebe foll geeint werden, aber nicht nach der
Art des alten Verföhnungsdogmas, fondern fo, daß
durch die Einheit mit Gott das eigenfte Wefen zu voller
Selbftändigkeit erweckt wird, daß die Liebe als produktive
Kraft fleh bewährt, daß der Wert der Seele als
Organes der Gottheit erlebt wird. Dagegen müffe man
die Sühne Chrifti, die an ihm gefchehenen Wunder fallen
laffen. Er wendet fleh gegen die moderne Halbheit, die
die Lehre von feiner Gottmenfchheit fallen läßt, ihn aber
doch einen unbedingten Herrn und Meifter nennt und
uns alle Selbftändigkeit ihm gegenüber nimmt. Wenn
er auch Chriftus als fchöpferifche Perfönlichkeit ftehen
läßt, fo ift doch das Wichtigfte die Gewißheit des eigenen
Erlebniffes, die Verinnerlichung der Tatfächlichkeit, auf
die Alles zu beziehen ift, was Überlieferung und Umgebung
an uns bringt. Es kommt auf das unmittelbare
Verhältnis zu Gott an, das Zurücktreten des Sinnlichen
vor dem Unfinnlichen. Auch das Verhältnis zur Natur
foll ein anderes werden, nicht äußere Wunder, aber Herrfchaft
des Geiftes über die Natur auf Grund der
Unterfcheidung von Geift und Natur, die die innere Harmonie
beider aber zugleich anerkennt. Endlich wendet er
diefe Gedanken auf die Kirche an, deren Aufgabe es fei,
die fundamentalen Lebenswahrheiten einer kämpfenden
überwindenden Geiftigkeit als den zentralen Kern des
geiftigen Lebens zu vertreten und in diefem Sinne fordert
er auch eine Reform des theologifchen Studiums gegenüber
der philologifch-hiftorifchen Art der Bildung, bei
der gerade der Gegenwartscharakter der Religion verkannt
wird. Freilich meint er, daß die beftehenden
Kirchen außer Stande feien, den Anforderungen einer
folchen Fortbildung des Chriftentums zu genügen, da
auch der gegenwärtige Proteftantismus in feiner freieren
Richtung zu fehr an dem Panentheismus unferer Klafflker
hafte und wo er auf Jefus zurückgehe, zu eng werde, um
eine Bafis für eine Weltreligion abzugeben. ,Eine Feft-