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Ausgabe:

1912 Nr. 1

Spalte:

14-15

Autor/Hrsg.:

Rücker, Adolf

Titel/Untertitel:

Die Lukas-Homilien des Hl. Cyrill v. Alexandrien 1912

Rezensent:

Jülicher, Adolf

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 1.

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ift verkannt, daß die Auffaffung und Darfteilung
des 4. Evangeliften nicht völlig ifoliert ift. Lukas ift ein
Mittelglied zwifchen den anderen Synoptikern und Johannes
, ein Mittelglied, welches zwar noch immer jenen
viel näher fteht als diefem, aber doch im Material und
in der Auffaffung zum 4. Evangeliften überleitet. Die
hierher gehörigen Beobachtungen find nur zum Teil anerkannt
(S. 277) und falfch gedeutet, wenn fie wefentlich
nur aus einer ftärkeren Benutzung des Lukas erklärt
werden; vielmehr fpricht eine Reihe von Wahrnehmungen
dafür, daß der 4. Evangelift aus manchen Überlieferungen
und Anfchauungen felbftändig fchöpfte, aus denen
auch Lukas gefchöpft hat. Ift die Zahl dieferWahrnehmungen
auch nicht fehr groß, fo laffen fie doch das Urteil nicht
mehr zu, daß ,dereinfameKopf mitlebendigerÜberlieferung
nicht (oder nur durch eine religiöfe Tradition über die
Perfon Jefu) verbunden war, fondern nur mit drei Büchern.
Auch ift es lediglich eine ganz fchlimme Verlegenheitsauskunft
, wenn (S. 287) behauptet wird, daß Matth. 11,27
den Ünterfchied zwifchen Johannes und den Synoptikern
,eigentlich viel mehr erhelle und fichtbar mache als aufhebe
'. Für die Annahme von Erfindungen, die ich in
ziemlich weiten Grenzen teile, bleibt noch Spielraum genug
. Ebenfo ift die Hypothefe wohl zu erwägen — ich
habe mich darüber fchon früher ausgefprochen —, ob
eine abfichtlicheMyftifikation in der frühen Gefchichte
des Buchs ftattgefunden hat, indem man es dem Apoftel
Johannes beilegte und zu diefem Zweck Eingriffe nicht
fcheute. Aber Overbeck meint etwas ganz anderes.

Hiermit könnte ich fchließen, doch find noch einige
Bemerkungen zur Charakteriftik der Overbeck'fchen Unter-
fuchung nötig. Er ftimmt (S. 343) dem Urteil von
H. Grimm bei, ,das Johannes-Evangelium fei das fchönfte
Stück griechifcher Literatur, das in dem 1. Jahrhundert
gefchrieben wurde'; aber mit dem Inhalte hat das nichts
zu tun; denn das Buch ift das Werk eines unwahrhaftigen,
fchwärmerifchen Theologen, und ,die Theologie ift eine fehr
frühe Korruption der chriftlichen Religion' (S.495). Er warnt
wiederholt davor, das Werk zeitlich nicht zu fehr herabzufetzen
, da feine Entftehung um fo rätfelhafter werde, je
fpäter man es gefchrieben fein läßt. Er hat fich mit dem
größten Fleiß mit zahlreichen Kritikern auseinandergesetzt
, wenn man auch Voilftändigkeit hier nicht erwarten
darf, und er hat eine Anzahl treffender Beobachtungen
über den Gefamtcharakter und über einzelne wichtige
Züge des Buchs vorgetragen. Dort und hier freut man
fich an der durch nichts zu beirrenden Sachlichkeit
und Stahlhärte feines formalen Wahrheitsfinns; aber
diefer Wahrheitsfinn hatte bei ihm eine fehr empfindliche
Schranke. Wenn es nach Goethe Wahrheitsliebe
ift, daß man überall das Gute zu finden und zu
fchätzen weiß, fo fehlte Overbeck diefe Wahrheitsliebe
durchaus. Starr, lieblos und ungerecht war fein Wahrheitsfinn
, ohne Zartheit gegenüber dem lebendigen Objekt
und gegenüber den Perfonen, ich möchte fagen un-
organifch, dabei aber verbunden mit einem Selbftgefühl
als Kritiker, das ftets beleidigte, weil es, bald verfteckt,
bald offen, die Perfon und den Charakter des Gegners
antaftete. Gutes und Richtiges, was er anerkennen mußte,
galten ihm nur als nichtige Abfchlagszahlungen; vor ihm
blanden alle Mitarbeiter als arme Schächer, an denen er
keine Freude empfand. Aber auch der große Gegenstand
, dem er diente, erweckte ihm keine Freude. Die
P^oqKche Note, die diefem eigenartigen Ingenium nicht
fehlte, ließ alle edle Heiterkeit und freudige Ruhe ver-
miffen. Wie konnte das anders fein, wenn die Religion
famt ihrer Gefchichte ins Nichts gehört? Auf ihrem Boden
können fich ja nur Dummköpfe oder Verfchwörer wider
die Wahrheit oder bemitleidenswerte Betrogene bewegen,
die mit einem Nichts Ernft machen 1 Die edle Heiterkeit
und freudige Ruhe fehlten diefem Gelehrten aber auch,
weil er von fich felbft niemals loskam und weil es ihm
an wirklicher Kraft, ein gefchichtliches Problem zu bezwingen
, gebrach — an der Kraft, die aus Kongenialität
entfpringt. Overbeck ift trotz feinen radikalen Löningen
ftets in den Problemen flecken geblieben; denn diefe
gewaltfamen Löfungen blieben abftrakt und ließen die
Fülle der Einzelheiten und des Lebens unerklärt. So
fteht auch der Ertrag der vorliegenden Unterfuchungen
in keinem Verhältnis zu ihrem Umfang, und der Kritiker
porträtiert fich felbft viel deutlicher als feinen Gegenftand.
Overbeck befaß ungemeine Anlagen zum Hiftoriker, aber
es fehlte etwas, und für die Ziele, wie er fie fich gefleckt
hat, haben fie nicht gereicht. Ein virtuofer Bohrer ift
noch kein virtuofer Baumeifterl

Overbeck hat dies Werk nicht felbft herausgegeben,
aber die Herausgabe gewünfcht; es ift mir indes gewiß,
daß er diefe Geftalt nicht gewünfcht hätte; denn das
Werk ift nicht nur angefüllt von Wiederholungen, fondern
weift auch Widerfprüche (Overbeck hat felbft früher
anders geurteilt und davon find noch Spuren vorhanden)
und Unebenheiten im einzelnen auf, vor allem aber ganze
Abfchnitte, die fo nicht hätten gedruckt werden dürfen,
weil fie einfach unverftändlich find. Overbeck vermochte
ftoßweife ausgezeichnet zu fchreiben, fchrieb aber in der
Regel dickflüffig und fchlecht; allein folche Ausführungen,
wie fie fich zahlreich in diefem Werk finden, hätte er nur
nach wiederholter Durchficht drucken laffen oder überhaupt
verworfen. Dazu kommen zahlreiche Druckfehler und,
wie ich an einigen Stellen argwöhnen muß, auch finn-
ftörende Verlefungen des Manufkripts. Der Herausgeber
wäre verpflichtet gewefen, mehr Fleiß an feine Arbeit
zu wenden. Was feine eigene Zutat betrifft (S. 499—530),
um das Werk up to date zu bringen, d. h. Stellung zu
den neuen und wichtigen Arbeiten der letzten zehn Jahre
zu nehmen, fo muß ich davon abfehen, über fie zu berichten
; denn da er die Dreiftigkeit gehabt hat, eine
fchwere Infinuation Overbecks gegen mich zu wiederholen
, fcheidet diefer Herr aus dem wiffenfchaftlichen
Verkehr für mich aus.

Berlin. A. Harnack.

Rücker, Domvik. D. Dr. Adf.: Die Lukas-Homilien des Hl.
Cyrill V. Alexandrien. Ein Beitrag zur Gefchichte der
Exegefe. (III, 102 S.) gr. 8°. Breslau, Goerlich &
Coch 1911. M. 3.20

Der Verf. macht einen dankenswerten Anfang mit
der Verarbeitung der Überbleibfel von des alexandrini-
fchen Cyrillus exegetifchen Arbeiten. Von den mindeftens
156 Homilien, in denen diefer das Lukas-Evgl. (von cap. 2
an!) ausgelegt hat, find im griechifchen Urtext fall nur,
allerdings in Maffen, Fragmente in den Catenen erhalten,
dagegen in einer alten, und wie R. feftftellt, forgfältigen
und befonders in der Wiedergabe der zahlreichen Bibelzitate
bei Cyrill zuverläffigen, fyrifchen Überfetzung der
größte Teil der Homilien felber. Payne Smith hat fie
1858 in 2 Bänden ediert und 1859 eine treffliche englifche
Überfetzung hinzugefügt; aus cod. Sachau 220 kann R.
S. 87—94 einige neue fyrifche Stücke mitteilen und S. 95
I —IOI folgt die deutfche Überfetzung.

Den Kern der Differtation bildet nun S. 33—56 eine
Zufammenftellung des echten Textes der cyrillifchen
Lukas-Homilien, in der Weife, daß R., foweit die fyrifche
Überfetzung reicht, die Ausgabe bei Migne Patr. gr. 72
an ihr kontrolliert: Anfang und Ende der echten Stücke
werden notiert, die Interpolationen herausgehoben, gegebenenfalls
auch auf griechifche Quellen und Texte, die
bei Migne nicht benutzt wurden, hingewiefen.

In den Abfchnitten 1 u. 2, S. 1—32 referiert R. über
den Stand der Forfchung und die handfchriftliche wie
die gedruckte Überlieferung. Von S. 57 an fucht er den
Lukas-Kommentar im Leben Cyrills unterzubringen, jedenfalls
richtig .nicht vor 430'; beleuchtet mit einigen Beifpielen
den Wert diefer Homilien für die Gefchichte des Bibeltextes
: dem Kodex 8 und feinen Trabanten flehe Cyrill