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Ausgabe:

1912 Nr. 11

Spalte:

343-346

Autor/Hrsg.:

Niebergall, Friedrich

Titel/Untertitel:

Person und Persönlichkeit 1912

Rezensent:

Schuster, Hermann

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343

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. II.

344

Rofikat, Gymn.-Prof. A.: Individualität und Perlönlichkeit.

Ein Klärungsverfuch. (87 S.) 8°. Leipzig, Krüger & Co.
1911. M. 1.20

Niebergall, Prof.D.F.: Perron und Perlönlichkeit. (VI, 170S.)
8°. Leipzig, Quelle & Meyer 1911. M.3.50; geb.M.4 —

Naumann, Friedrich: Geilt und Glaube. (Gefammelte Schriften
Bd. 4.) (263 S.) Berlin-Schöneberg, Fortfehritt 1911.

M. 3 —; geb. M. 4 —; Luxusausg. geb. M. 6 —

Rofikats Arbeit ift aus einem Vortrag in der
Königlichen deutfehen Gefellfchaft zu Königsberg i. Pr.
erwachfen; daraus erklärt fich nicht nur ,die Knappheit,
mit der das tiefgründige, zahlreiche Gebiete der Wiffen-
fchaft und des Lebens berührende Thema in der Bro-
fchüre behandelt ift', fondern auch der Mangel eines In-
haltsverzeichniffes und die lofe Gedankenführung.

Nach einer die Spärlichkeit guter Literatur beklagenden
Einleitung gibt R. auf Grund einer fprachwiffenfehaft-
lichen Worterklärung (Individuum-Individualität; Persona-
Perfönlichkeit) eine kurze vorläufige Definition der beiden
fraglichen Ausdrücke: ,des Menfchen Individualität ift
demnach feine Eigenart, foweit fie durch die Natur benimmt
ift' und ,Wille als Bewußtheit menfehlicher Betätigung
ift das konftitutive Merkmal von Perfönlichkeit'.
Daß der Menfch beides ift, ein Naturwefen und eine
Perfon, darin liegt das große Problem für Denken und
Handeln. — R. fchildert nun anfehaulich das Wefen der
Individualität, befonders den ,Individualitätspunkt' (Simmel

— Vergleich mit dem ,Dämonifchen' Goethes und dem
öai/iöviov des Sokrates), und ihren Wert für die ver-
fchiedenen Lebensgebiete, Religion, Kunft, Wiffenfchaft
und handelndes Leben; er warnt dann andererfeits vor
den Gefahren des fchrankenlofen Individualismus, der
zum ethifchen Nihilismus führt und fich fchließlich felbft
aufhebt — wenn nicht die Individualität erhoben wird
zur Perfönlichkeit. Das führt R. zur genaueren Schilderung
diefes Begriffs. Seine wefentlichen Merkmale find
Wille, der zum ,Handeln' (an Stelle des bloßen ,Tuns')
führt, und innere Gefchloffenheit. Die wird freilich manchmal
fchon der Individualität als ein Gnadengefchenk der
Natur zuteil; dann deckt fich der ,Wille' mit dem zum
Bewußtfein erhobenen Triebe der Natur, und wir haben
den Fall einer Identität von Perfönlichkeit und Individualität
. Glückliche Menfchen! Aber eine höhere, die
höchfte, Stufe der Perfönlichkeit wird von denen erklommen
, die im Gehorfam gegen den kategorifchen Imperativ
fich felbft bezwingen: .Perfönlichkeit ift die objektivierte
Idee der Freiheit' (Chamberlain, Kant). .Allein
die Idee, der Gedanke des Sollens begründet Perfönlichkeit
' (Natorp).

Damit ift die Gedankenentwicklung zum Ziel gebracht
. Ein lofe angefügter Nachtrag behandelt die Bedeutung
der Perfönlichkeit für das foziale und nationale
Leben (,das Vaterland mit feinen Zielen und Aufgaben

— es weckt Perfönlichkeiten, und es hat Beftand nur
durch Perfönlichkeiten'), die Stellung unferer klaffifchen
Dichter zum Problem: Perfönlichkeit und Vaterland, die
Gefahr der Sozialdemokratie und — gewiffer Schulreformer
für die Pflege der Perfönlichkeit.

Die Arbeit zeigt folide Gelehrfamkeit und reiche
Belefenheit, fie bringt gefunde gute Gedanken; es fehlt
an deutlicher Gliederung und gleichmäßiger Ausführung.

Niebergall erleichtert uns dagegen die Lektüre
durch ein Inhaltsverzeichnis und .Sachregifterverzeichnis'.
(Warum aber fetzt er über die Seiten immer je links den
Titel des ganzen Buches und rechts den Namen des
1. oder 2. Hauptteils? Beides ift ganz überflüffig; man
möchte links den Inhalt des Kap. und rechts den diefer
2 Seiten lefen, das erleichtert die Lektüre!) Inhalt und
Abficht feines Buches faßt N. am Schluß felber klar zu-
fammen: .Perfon und Perfönlichkeit ftellen zwei Stufen

von Werten dar: die Perfon mit Eigenart und Eigenrecht
ift die eine, die Perfönlichkeit als eigenartiger
Befitz der höchften geiftigen Werte ift die andere. Zwei
verfchiedene . . . Welten . . . ftehen hinter den beiden
Werten: die Welt der Natur oder der erften Schöpfung,
und die Welt des Geiftes oder die höchfte und eigentliche
Welt Gottes. Wie diefe beiden Welten aus einer
Hand flammen, der Hand des Schöpfers, der zugleich
der Hort der Werte ift, fo find Perfon und Perfönlichkeit
beftimmt, in die engfte Beziehung zu einander zu
treten: die Perfon liefert das Eigne, ohne das eine Perfönlichkeit
nicht fein kann, was fie ift, aber die Perfönlichkeit
nimmt das Eigne als gewollt in fich auf und fetzt
es in Verbindung mit den höchften Werten und Idealen
des geiftigen Lebens. So ift die Perfon die Grundlage
der Perfönlichkeit, die Perfönlichkeit aber die Verklärung
der Perfon. Das Ewige eigenartig zu erfaffen und das
Eigne in das Ewige zu erheben, das ift unfere Aufgabe'.

Man fleht, N. gebraucht den Ausdruck ,Perfon' ungefähr
in demfelben Sinn, wie R. den der .Individualität'.
Aber nur ungefähr; denn mit .Perfon' bezeichnet N. nicht
nur die Eigenart des natürlichen Menfchen fondern auch
das Eigenrecht des Menfchen, das Eigenrecht im Sinne
des .Naturrechts', im Sinne der berühmten .Menfchen-
rechte' für ,alles was Menfchenantlitz trägt'. Wenn fich
nun von diefem bloßen Naturrecht der .Perfon' der
ewige fittliche Wert der .Perfönlichkeit' abhebt, fo
gibt diefe feine Unterfcheidung für den zweiten praktifchen
Teil, der das Wachfen und Wirken der Perfönlichkeit
auf den verfchiedenen Lebensgebieten befchreibt, den
gefchickten Anfatz zu einer Reihe von glücklichen Beobachtungen
und richtigen Forderungen, z. B. für die Ehe,
für das foziale Problem.

Diefer 2. Teil enthält überhaupt manche wertvolle Beiträge zur praktifchen
Ethik. Leider find nach meiner Empfindung nicht alle Abfchnitte
gleichwertig; einige (die Höflichkeit, die Perfon und die Sachen) fcheinen
mir zu fchnell hingeworfen zu fein. In dem fonft wohl gelungen Ab-
fchnitt über die Perfönlichkeit in der Religion muß ich, vom hiftorifchen
Standpunkt, die folgenden Sätze über Jefus beanftanden: ,Nach Jefus
fieht Gott gar nicht auf äußere Vorzüge, weder auf nationale, noch auf
kirchliche, noch auf geiftige, ja fogar auf fittliche fieht er nicht. Gleich-
fam der reine pure Menfch, wie er ift, ohne alles, was er hat, ift Gegen-
ftand feiner Aufmerkfamkeit. . . Vor Gott gilt nur das Verlangen nach
ihm und das Vertrauen zu ihm, alfo rein innerliche, ^erfönliche' Angelegenheiten
'. Wenn wir an Matth. 25 denken, fo find diefe Sätze doch
fehr mißverftändlich formuliert.

Leider hat N. im erften Hauptteil, der das Wefen
und Werden der Perfönlichkeit (ihre Entwicklung auf
dem Boden der Perfon) grundfätzlich befchreibt, feinen
Lefern den Weg zum Ziel nicht unerheblich verbaut. Er
entwickelt S. 40ff. den Begriff Perfönlichkeit (im Unter-
fchiede von Perfon) an den großen welthiftorifchen Perfönlichkeiten
. Er erklärt freilich diefen Ausblick auf die
Heroen des menfehlichen Geifteslebens felbft nur für eine
Sache der Methode, er will den Begriff Perfönlichkeit
damit nur deutlich beleuchten. Aber diefe Beleuchtung
blendet, diefe Methode führt irre. Wenn N. Perfönlichkeit
hier ungefähr mit Genie gleichfetzt, fo wird damit
das fittliche Charakteriftikum, auf das für N. felbft alles
ankommt, verdunkelt; denn gerade den genialen Naturen
ift es fchwer, fich zu reifen fittlichen Perfönlichkeiten
durchzuringen. Auch ift es für einen Lefer, der im 2. Teil
lernen foll, fich und andere zur Perfönlichkeit zu bilden,
recht entmutigend, an unerreichbaren Beifpielen fein Ziel
kennen zu lernen. Daß hier wirklich ein methodifcher
Fehler vorliegt, wird endlich noch dadurch erwiefen, daß
N. Seite 48f. auf das Problem: Heros und Gefchichte
abfehweift, das mit unterem Thema nichts gemein hat.

So kann ich leider, trotzdem ich die oben angeführten
Grundideen dankend unterfchreibe und mit manchen
einzelnen Anregungen bereichert bin, das Buch nicht
uneingefchränkt gelten laffen, hoffe aber fehr, daß eine
neue Auflage diefe Mängel befeitigt; denn N. ift der
Mann dazu, uns über diefen Gegenftand ein vollbefriedigendes
Buch zu liefern.