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Ausgabe:

1912 Nr. 11

Spalte:

342

Autor/Hrsg.:

Delage, Y.

Titel/Untertitel:

Die Entwicklungstheorien 1912

Rezensent:

Beth, Karl

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Seite 1

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34i

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 11.

342

von der Art unferer Gebete aus läßt fich deren Erhörbar-
keit beftimmen, fondern vom Wefen Gottes aus. Könnte
die Erfüllung der für das Gebet aufgeftellten Forderungen
pofitiv die Erhörung bewirken, fo würde das Gebet zu
einem Zaubermittel herabfinken. Die dem Betenden
geltenden Vorfchriften haben durchaus keine andere Bedeutung
, als daß ihre Nichterfüllung die Erhörung unmöglich
machen kann. Am ftärkften ift die Forderung
des Glaubens beim Beten mißverftanden worden. Nur
Gott vermag zu entfcheiden, ob der Glaube eines Betenden
zur Erlangung der Erhörung hinreicht, d. h. ob in diefem
Falle eine Erhörung zum Segen fein würde oder nicht
(98-129).

Blicken wir auf die Schrift zurück, deren Hauptinhalt
wir im Vorhergehenden wiedergegeben haben, fo wird
man dem Vert. nicht Unrecht tun, wenn man urteilt, daß
der Wert derfelben viel mehr in den polemifchen Aus-
einanderfetzungen als in den pofitiven Ergebniffen zu
fuchen ift. Die polemifche Spitze der Erörterungen W's
richtet fich einerfeits gegen die gefamte liberale Theologie,
die eine wirkliche Gebetserhörung für unmöglich hält (ob
in diefer Beziehung Jul. Kaftan nicht über P, Chrift hinausfuhrt
, dürfte wohl fraglich fein), andrerfeits gegen die
fchwärmerifche von Aberglauben durchfetzte Anfchauung
der Gemeinfchaftsleute. Die Bekämpfung des natura-
liftifchen Determinismus würde überzeugender wirken,
wenn W's Auffaffung vom Naturgefetz zu einem be-
ftimmteren und einwandfreieren Ausdruck gekommen
wäre. Am gelungenften ift die Begründung des gegen
die Schwarmgeifter gekehrten Gegenfatzes (5—6. 55 fg.
76—84. 112—114. 117—120. 122—129); die in diefem Zu-
fammenhang auftretenden Aufforderungen zur Nüchternheit
und zur Demut, die Richtigftellung des Glaubensbegriffs,
die Warnung vor einem verkehrten Schriftgebrauch und
andere an diefelben Kreife fich wendenden Ratfchläge
find gewiß wohl angebracht und finden in manchen
Ereigniffen der unmittelbaren Gegenwart ihre Rechtfertigung
.

Viel weniger befriedigend fcheint mir der pofitive
Löfungsverfuch des Verfaffers. Kann überhaupt von einer
einheitlichen Löfung gefprochen werden? Den Grundgedanken
, daß die neuen Erkenntniffe, die unferer Zeit
aufgegangen find, uns keineswegs zur Preisgabe der

einen Weg eingefchlagen, der m. E. ficherer zum Ziele
führt, als die von Walther gegebene Unterweifung.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

D e I a g e, Y., u. M. G 01 d s m i t h: Die Entwicklungstheorien.

Autorifierte Überfetzg. nach der 2. franzöf. Aufl. v.
Dr. Rofe Thefing. Mit Abbildgn. (VIII, 189 S.)

M. 2—; geb. M. 2.80

Wenn man heute den Blick über die biologifchen
Entwicklungstheorien — nur mit diefen befchäftigt
fich das Buch — gleiten läßt, fo fcheint fich unfchwer
eine Zweiteilung derfelben anzubieten, fofern die einen
mehr nach der Weife Darwins, die anderen mehr nach
Lamarcks Hauptgedanken eingerichtet find. Haben fich
auch in letzter Zeit eine Reihe von Theorien eingeftellt,
die weder den einen noch den andern diefer beiden
Namen für fich fordern wollen oder können, fo läßt fich
doch nicht grundfätzlich diefe Unterfcheidung anfechten,
die auch die Verfaffer des vorliegenden Buches zugrunde
gelegt haben, indem fie zuerft die einzelnen Thefen und
Betrachtungsweifen der Darwinfchen Anfchauung (Kap. 2
—8) und im Anfchluß daran die Weismannfche Theorie
(Kap. 9. 10) zur Sprache bringen, von da zur eigentümlichen
Geftaltung der Vererbungstheorie durch W. Roux
(Kap. 11) übergehen, um bei dem Problem der Vererbung
erworbener Eigenfchaften flehen zu bleiben,
welches nach Galton und Mendel, dem älteren und neueren
Lamarckismus fowie von den Tatfachen der Orthogenefe
und von der Mutationstheorie aus betrachtet wird (bis
Kap. 20). Somit ließe fich das Buch auch in zwei Teile
zerlegen, deren erfter eine fachgemäße Kritik des Darwinismus
enthält, während der zweite den gegenwärtigen
Stand der für die entwicklungstheoretifche Seite der
Biologie wichtigften Frage nach der Vererbung erworbener
Eigenfchaften zur Darfteilung bringt. Was Darwin
felbft anlangt, fo wird hier klar ausgefprochen, daß er
,in der Hauptfache nur beweifen will, daß von den fo
verfchieden gebauten Lebewefen die einen von den anderen
abftammen' und daß ihm der Beweis hierfür unter
den Händen zufammenfließt und identifch wird mit dem
Beweife der fpeziellen Selektionstheorie. Zur Kritik
diefer letzteren werden vor allem die Beobachtungen
I Therreucnino- von der Möglichkeit und Wirklichkeit von von Burbank, Korfchinsky und Kellogg benutzt, um feft-

Gebetserhörungen nötigen, diefen Grundgedanken, der zulegen, daß die Wirkung der Selektion mehr darin be"
ausdemimEvangeliumwurzelndenHeilsglaubenentftammt, ; fleht, die unter dem Durchfchnitt flehenden Individuen

hat der Vf. durch Erwägungen geftützt, die ihn viel eher
zu erfchüttern drohen. Wie kühn find die Behauptungen
über die mit der Umftimmung des göttlichen Willens gar
wohl vereinbare Unveränderlichkeit feines Wefens! Wie
künftlich und gewagt die Analogie mit dem Verhalten.
Jefu gegen das kananäifche Weibl (61 fg). Wie läßt fich
die Ausfage, daß nicht in der Befchaffenheit unferer Gebete
das Gott beftimmende Motiv der Gewährung oder
Ablehnung gefucht werden darf, mit dem einhelligen
Zeugnis der Heiligen Schrift vermitteln? Wie eigentümlich
nimmt fich die Ehrenrettung von Luthers Gebet um Me-
lanchthons Genefung aus (120 fg, 91 fg), und wie verträgt
fich die Verficherung: ,Melanchthons Tod wäre für Luther
eine Verfuchung über fein Vermögen gewefen' (121) mit
den treffenden Ausführungen des Vfs. über die Demut,
den Glauben und die rechte Gebetsftimmung desChriften?
Auch die Bemerkungen über die mannigfache Art der
im Beten fich äußernden Änderung des Menfchen (68 fg)
und über die Wirkungsart der Fürbitte (70 fg) gäbe zu
begründeten Ausftellungen Anlaß. — Daß die Lehre von
der Gebetserhörung einer Neubearbeitung bedarf, hat W.
mit großer Kraft und Klarheit dargetan; daß der von ihm
gelieferte Verfuch den zu erhebenden Forderungen ent-
fpricht, wird man leider nicht mit derfelben Beftimmtheit
behaupten können. In einer zu gleicher Zeit erfchienenen
Schrift über ,das Gebetsproblem im Anfchluß an Schleiermacher
neu geftellt und unterfucht' hatLic. theol. F. Menegoz

einer Art zu eliminieren, als darin, die über dem Durchfchnitt
flehenden zu noch größerer Vollkommenheit zu
züchten. Dies Ergebnis wird in das Urteil zufammen-
gefaßt: ,fie ift ein regulierender, kein fchöpferifcher Faktor
'. In das verwickelte Problem der Vererbung bieten
die folgenden Kapitel eine wirklich gute Einführung.
Mit vollem Rechte wird dabei Roux die Bedeutung zu-
gewiefen, daß er mit feiner Theorie der funktionellen
Reizung die belle Erklärung der Vererbung erworbener
Eigenfchaften gegeben hat, und zwar für die durch Gebrauch
oder Nichtgebrauch der Organe entfliehenden
Eigenfchaften. Aber angefichts diefer im allgemeinen
durchaus zutreffenden Beurteilung ift entfchieden zu bedauern
, daß aus den Anfchauungen von Roux nur ein
paar Stichproben gleichfam herausgegriffen find, während
doch die lichtvolle Betrachtung der Ontogenefe durch
Roux mittels der Kombination von Neoevolution und
Neoepigenefis erft die fortführende Bedeutfamkeit feiner
Theorie voll hätte erkennen laffen. Kommt ähnlich wie
diefe Theorie des Hallenfer Entwicklungsmechanikers
auch manche andere etwas kurz weg, fo wird doch die
Überfetzung diefes franzöfifchen Buches in vielen Punkten
eine treffliche Anleitung zur Beherrfchung entwick-
lungstheoretifcher Problemftellungen geben.

Wien. Beth.