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Ausgabe:

1912 Nr. 1

Spalte:

310-313

Autor/Hrsg.:

Herzog, Hermann

Titel/Untertitel:

Zum Begriffe der ‚guten Sitten‘ im bürgerlichen Gesetzbuche. Auf Grund einer Untersuchung des Verhältnisses von Sitte, Recht und Moral 1912

Rezensent:

Bar, L.

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3°9

Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 10.

wiefen, wie ftark fich hier wieder der rein intellektualiftifche
Charakter diefer ganzen Religionsauffaffung verrät. Für
den religiöfen und evangelifchen Sinn, der den alten
Dogmen zu Grunde liegt, hat Campbell überhaupt kein
Intereffe. Die Trinität hat für ihn mit dem Verftändnis
Jefu nichts zu tun, fie ift eine reine Spekulation über
Gott, das Weltall und Gottes Wirken im Weltall, und
wir können auf die Trinität nicht verzichten, weil fie in
der wahren geiftigen Konftitution enthalten ift. Genau
fo hat es die Schellingfche und Hegelfche Spekulation
gehalten, aber aller dogmengefchichtliche Fortfehritt ge-
fchah in umgekehrter Richtung, durch das Verftändnis
der in den Dogmen fich fehr unvollkommen ausprägenden
Religion.

Sympathifch ift mir an Campbells Buch das praktifch
Religiöfe, das durch feine große Einfachheit zu Herzen
gehen muß: die Auffaffung der Sünde als Selbftfucht,
die fich felbft beftraft, der Appell an die Liebe, durch die
wir von uns frei und für das Ganze erfchloffen werden,
die einfache Zeichnung Jefu als des Vorbildes diefer
Liebe, der mutige Glaube an ein Gottes-Reich, das nicht
erft im Jenfeits, fondern hier auf Erden beginnen und
als Reich fozialer Bruderfchaft an Stelle der herrfchenden
Selbftfucht im Kampf ums Dafein treten foll. Daß alle
diefe praktifchen Überzeugungen im Glauben an unfern
göttlichen Urfprung und unfere gottebenbildliche Be-
ftimmung wurzeln oder einen folchen Glauben als Vor-
ausfetzung verlangen, ift ebenfalls klar. Aber ich finde
nicht, daß die praktifchen Grundgedanken durch den
Monismus etwas gewinnen, fie werden nur oberflächlich
und matt, wenn man fie aus der Welt realer Gegenfätze
und radikaler Entweder-Oder in die flache Denkweife
des Eins-ist-Eins verpflanzt. Man macht fie dadurch
dem Denken des gefunden Menfchenverftandes vertraut,
man gibt ihnen den Nimbus neuefter wiffenfehaftlicher
Begründung, aber dadurch bringt man fie um alle Kraft
und letzlich um alle innere Wahrheit. Man möchte doch
diefem Schwärmer für religiöfe Oberflächenkultur einmal
die Verfenkung in ein Glaubensleben von der Tiefe und
Paradoxie Luthers wünfehen, vielleicht würde er dann etwas
fpüren von dem Unterfchied zwifchen halbphilofophifchen
Gedanken, die, wie er meint, jeder Menfch glauben muß
und die einer dem andern nachreden kann, ohne das
geringfte eigene religiöfe Erlebnis, und der wirklichen
Welt perfönlich erlebter evangelifcher Religion, die ihm
bei feinem ganzen Kampf gegen die orthodoxe Kirchenlehre
merkwürdig fremd zu fein fcheint.

Auf den erften Blick fcheint es faft komifch, daß dies
Buch der Umdeutung der orthodoxen Kirchenlehre in
Glaubensfätze des Monismus bevorwortet wird von einem
deutfehen Theologen, deffen Stärke die unbedingte Wahrhaftigkeit
und radikale Abfage an alle Vermittlungskünfte
ift. Der Widerfinn erklärt fich fo, daß Traub an Campbells
Buch allein die kräftigen Gegenwartstöne heraushören
will und fich über die Vermittlungskünfte des Eng- j
länders hinwegfetzL Die Vorrede Traubs ift jedenfalls
das weitaus Intereffantefte an dem ganzen Buch, ein zeit-
gefchichtliches Dokument von fingulärer Bedeutung. Ein
an der Gefchichte und dem Reichtum der Gefchichte ge-
fättigter Theologe gibt hier für die deutfehe Religion die
Lofung aus: los von der Gefchichte und von einer ge-
fchichtlich orientierten Theologie. Der Glaube lebt vom
Unmittelbaren, nicht vom geftern, fondern vom morgen.
Der gefchichtliche Jefus ift mit feiner Wirkfamkeit an feine
Zeit gebunden. Man foll ihn da fliehen laffen, wo Gott
ihn der Welt gefchenkt hat; was mit uns geht in aller
Zeit, fo daß es uns unmittelbar gegenwärtig ift, das ift
nicht Jefus, fondern Gott. Die Hauptgründe find für
Traub einmal die Rarität gefchichtlichen Sinnes und
gefchichtlichen Verftändniffes, welche von vornherein die
Mehrzahl unferer Laien davon ausfchließt, und fodann der
Gegenwartscharakter lebendiger Religion, die Gottes gewiß
werden will und muß als des Sinns des heutigen

Lebens. Der erfte Grund gilt mit vollem Recht gegenüber
jedem Hiftorismus und jeder Begründung der Religion
auf moderne Bibelkritik, verfagt aber völlig, wenn es fich
um die einfache Beziehung zwifchen dem Evangelium
Jefu und der Seele handelt, um das religiöfe Verftändnis
Jefu, das zu keiner Zeit vom gefchichtlich-wiffenfchaftlichen
abhängig oder ihm proportional gewefen ift. Der zweite
Grund geht an der Tatfache vorüber, daß in der Gefchichte
die größten Jefusgläubigen auch die kräftigften Gegen-
wartsfrommenund Vorwärtsbeweger der Gefchichte gewefen
find, während Myftik und Rationalismus bis heute nur foweit
gefchichtsbildend waren, als Impulfe der gefchichtlichen
Religion und Jefu mit ihnen fich verbanden. Über Recht
und Unrecht von Traubs Thefe muß die Zukunft ent-
fcheiden, ich perfönlich kann in ihr lediglich das Ver-
kehrtefte fehen, was mir in der deutfehen Theologie der
letzten Jahre entgegentrat, und erwarte jeden kräftigen
Fortfehritt und jede Vertiefung der Religion unferer Zeit
von der Verfenkung in Jefus und feine Herrlichkeit. Um
fo lieber verweife ich darauf, wie außerordentlich feft
Traubs eigene Religion doch mit dem Jefusglauben ver-
wachfen ift nach feinen eigenen Worten. ,Die Geftalt Jefu
mag immer wieder fich von ferne zeigen, wo wir im
Suchen nach Gott troftlos werden wollen, und fie wird uns
dann tröften vom Kreuz. Sie wird immer wieder fich
von ferne zeigen, wo wir vergeffen wollten, daß wir ein
einig Menfchengefchlecht find und daß in keines Menfchen
Antlitz Gotteskindfchaft ganz verloren ift, und fie wird
uns ftärken bei vielen Enttäufchungen diefes fozialen Weges
der Volkserneuerung. Sie wird immer wieder von ferne
fich zeigen, wenn uns die Liebe verloren gehen follte,
nicht die fterbliche eines Worts, eines Tages, einer Sorte,
einer Klique, fondern die unerfchöpfliche Liebe, und dann
wird fie uns leuchten hell und klar.' Daran beanftande
ich nur das ,von ferne'. Wer das fchreibt, der hat Jefus
fehr nahe bei fich und widerlegt feine ganze Theorie
durch fich felbft.

Bafel. P. Wer nie.

Herzog, Staatsanw. Dr. Herrn.: Zum Begriffe der ,guten
Sitten' im bürgerlichen Geletzbuche. Auf Grund e. Unter-
fuchg. des Verhältniffes v. Sitte, Recht u. Moral. (Studien
zur Erläuterung des bürgerlichen Rechts, hrsg. v.
Rud. Leonhard u. Frz. Leonhard. 33. Heft.) (IX, 168 S.)
gr. 8°. Breslau, M. & H. Marcus 1910. M. 5 —

Das bürgerliche Gefetzbuch und das zugehörige Ein-
führungsgefetz, erfteres an mehreren Stellen (§§ 138,1,
817, 819,2, 826), letzteres an einer Stelle, aber auch in
anderen Gefetzen vorkommende Beftimmungen knüpfen
wichtige Rechtsfolgen an einen Tatbeftand, der daraufhin
vom Richter geprüft werden foll, ob er ,gegen die guten
Sitten verfloßt', wie denn auch in folcher Weife im
römifchen Rechte von den ,boni mores' die Rede ift, und
der gleiche Begriff (bonnes moeursf in der franzöfifchen
Jurisprudenz benutzt wird. Es 'ift aber beftritten,
was in Wahrheit unter jenem Begriffe verftanden werden
muß, und diefe Streitfrage ift um fo wichtiger, als gerade
in neuefter Zeit die Fälle fich häufen, in denen Ungültigkeit
eines Vertrags behauptet oder Schadenserfatz gefordert
wird, weil ein Vertrag oder ein Verhalten der in
Anfpruch genommenen Gegenpartei gegen die guten
Sitten verftoße. Man wird daher eine genaue und um-
faffende Unterfuchung über den Begriff der guten Sitten
als zeitgemäß anzuerkennen und zu begrüßen haben.
Eine folche liegt vor in dem in der Überfchrift bezeichneten
Buche, das auch die allgemeine Frage der Unter-
fcheidung von Recht, Moral und Sitte in den Bereich
der Unterfuchung einbezieht und fomit nicht nur für den
Juriften von Intereffe ift.

Der Verfaffer gehört nicht zu denjenigen Autoren,
welche den Begriff der guten Sitten mit dem Begriffe