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Ausgabe:

1912 Nr. 10

Spalte:

292-294

Autor/Hrsg.:

Torge, Paul

Titel/Untertitel:

Seelenglaube und Unsterblichkeitshoffnung im Alten Testament 1912

Rezensent:

Bertholet, Alfred

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291 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 10. 292

Perfonen muß man dem Verfaffer zunächft entgegenhalten
daß die biblifchen Berichte vielfach viel zu kurz find, um
daraus die Diagnofe einer Krankheit zu ftellen, die wir

zurückzuführen'. Der Verfaffer will aber doch aus der
Tatfache, daß die genannten Perfönlichkeiten an Paranoia
und Sinnestäufchungen litten, erft den Beweis erbringen,

heute beim Lebenden nur unter Berückfichtigung eines i daß der durch fie ,erfundene'Glaube an einen perfönlichen
fehr großen Tatfachenmaterials aus feiner Vorgefchichte, j Gott falfch ift.

feinen Reden und Handlungen und feiner perfönlichen Die weiteren Ausführungen des Verfaffers, die fich

Unterfuchung uns zu ftellen getrauen. Beifpielsweife bemerkt
Verfaffer (Seite 31): /Trotz des fpärlichen Berichts,
den wir von Ifaak haben, können wir doch deutlich erkennen
, daß es fich hier ebenfalls um einen Fall von
Paranoia handelt'.

Bei der klinifchen Schilderung, die Verfaffer im
II. Kapitel von der Paranoia gibt, wird die Tatfache nicht
berückfichtigt, daß keine Geifteskrankheit fo fehr, wie die
Paranoia, Übergänge jeglicher Form in den Bereich der
geiftigen Gefundheit zeigt, ferner, daß einzelne Symptome,
die bei der Paranoia vorkommen, wie Wahnideen, Sinnestäufchungen
, Ekftafe auch bei vielen anderen geiftigen
Störungen, ferner bei Grenzzuftänden und endlich bei
intellektuell und ethifch völlig intakten, aber affektiv leicht
erregbaren Menfchen vorkommen; es fei nur an die
Vifionen Goethes erinnert. Auch wirklich geniale Menfchen
zeigen nicht feiten einige pfychopathifche Züge, die fich
namentlich zu Zeiten hochgradiger feelifcher Erregung
äußern, ohne daß dadurch der Wert ihrer Perfönlichkeit
für die Menfchheit beeinträchtigt wird. Ferner ftehen
den Wahnideen in Bezug auf fuggestive Wirkfamkeit fehr
nahe überwertige Ideen, wie fie zu allen Zeiten bei den
Trägern neuer geiftiger Bewegungen vorkommen und
diefen ihren bedeutenden Einfluß auf ihre Mitwelt ermöglichen
. Die Behauptung des Verfaffers (S. 634), daß die
Heiligenlegenden ,ohne weiteres die Paranoia erkennen
laffen', muß beftritten werden. Bei vielen Heiligen und
Märtyrern handelt es fich, foweit man überhaupt ein Urteil
über ihren pfychifchen Zuftand abgeben kann, um hyfte-
rifche oder andere pfychopathifche Charaktere, aber nicht
um die Krankheit Paranoia im klinifch-wiffenfchaftlichen
Sinne. Es muß ferner berückfichtigt werden, daß große,
die Gefchicke der Menfchheit umgeftaltende Bewegungen
oft den Charakter pfychifcher Epidemien annahmen, an
denen fich zahlreiche pfychopathifche Charaktere der
gedachten Art aktiv und fördernd beteiligten; aber fie
waren nicht die Schöpfer diefer Ideen, für die wohl in
den meiften Fällen ein einzelner Menfch überhaupt nicht
verantwortlich gemacht werden kann.

Der Verfaffer fchildert die Erzväter: Abraham,
Ifaak, Jakob nicht nur als Paranoiker, fondern als ethifch
fchwer defekte Menfchen. Es widerfpricht jeder klinifchen

auf die .Segnungen' des Chriftentums (im ironifchen Sinne)
und das Chriftentum der Gegenwart (Seite 277 bis 566)
beziehen, gehören nicht zu der Kompetenz des Referenten
als Pfychiater und Pfychologe. Verfaffer befpricht hier
die bekannten Tatfachen, daß die weitere Ausbreitung
des Chriftentums mit fanatifcher Bekämpfung Andersgläubiger
, Religionskriegen, Inquifition und Hexenprozeffen,
Ereigniffen wie die Bartholomaeusnacht und ähnlichen
Epifoden einherging, und leitet daraus den moralifchen
Schiftbruch der chriftlichen Religion ab. Der Kultur-
hiftoriker wird dem wohl entgegenhalten, daß nicht nur
religiöfe, fondern auch politifche und fonftige Bewegungen
von ähnlichen Verirrungen des Fanatismus begleitet waren,
und daß daraus kein Schluß auf die kulturelle Bedeutung
und den ethifchen Gehalt der Bewegung an fich gezogen
werden kann.

Die vorher befprochenen Ausführungen des Verfaffers
aber fcheinen mir nicht geeignet, feine in der Einleitung
ausgefprochene Abficht zu verwirklichen, mit dem Lichte
moderner naturwiffenfchaftlicher Erkenntnis die biblifchen
und hiftorifchen Überlieferungen aufzuklären und die Grundlagen
der chriftlichen Religion zu erfchüttern. Denn die
medizinifch-naturwiffenfchaftlichen Erklärungen des Verfaffers
find oberflächlich und in ihrer Anwendung laienhaft
. Sie find höchftens geeignet die naturwiffenfchaftliche
Methode zu diskreditieren.

Chemnitz. Weber.

Torge, Pfr. Lic. Dr. Paul: Seelenglaube und Unlterblichkeits-
hoffnung im Alten Teftament. (VIII, 256s.) gr. 8°. Leipzig,
J. C. Hinrichs 1909. M. 5—; geb. M. 6 —

Der Wert des vorliegenden Buches beruht weniger
in neuen Erkenntniffen, die es uns erfchlöffe, als darin,
daß der Verfaffer vorhandene Baufteine verftändig verwendet
, um fie zu einem brauchbaren Ganzen zufammen-
zufügen. ,Das Intereffe diefer Arbeit konzentriert fich
um die Unfterblichkeitshoffnung, wie fie in den verfchie-
denften Vorftellungsformen ihren Ausdruck gefunden hat,
bis fie fich im Auferftehungsdogma endgültig materiali-
fierte. Die Vorausfetzung all diefer Phantafierichtungen
ift der Glaube an ein zweites Ich, das im Menfchen wohnt,
Erfahrung, daß eine folche, den Stempel der Degeneration I ihn beeinflußt und lenkt, aber von feinem Endfchickfal

an fich tragende Geifteskrankheit fich durch 3 oder noch I unabhängig ift' (Vorwort). Darnach beftimmt fich der
mehr Generationen vererbt, ohne daß ein totaler Verfall 1 Aufbau des Ganzen: der Verfaffer geht von der rjll als
der einzelnen Individuen auch in körperlicher und intellek- einem superadditum aus, um darauf die dem Menfchen

tueller Beziehung eintritt. Und dabei follen diefe depra-
vierten Kranken noch die Schöpfer und Führer großer

Solitifcher und religiöfer Bewegungen geworden fein,
ei der Befprechung des Eindrucks einzelner Behauptungen
und Reden der Patriarchen, Propheten und Apoftel
auf breite Volksmengen, eine Wirkung, die Verfaffer durch
die fuggestive Macht der Wahnidee erklärt, wird über-
fehen, daß das Auftreten diefer Perfönlichkeiten in Völkern
und in Zeiten ftattfand, die ihrem ganzen Kulturniveau
nach für derartige Reden und Auftritte empfänglicher
waren, als unfere heutige kritifch veranlagte Zeit, ganz
abgefehen davon, daß diefe Eindrücke meift auf einen
durch allerlei Momente, z. B. politifche und religiöfe Bedrängnis
, fchon vorbereiteten Boden trafen. Dasfelbe gilt
von der Wirkung gewiffer Szenen, die Verfaffer ins Lächerliche
zieht, wie den Einzug in Jerufalen.

Auf Seite 49 findet fich folgende Beweisführung:
/Wer von der Unmöglichkeit der Exiftenz eines perfönlichen
Gottes überzeugt ift, wird kaum einen Augenblick
Anftand nehmen, diefe Begebenheiten (die Zwiegefpräche
Mofes mit Gott und feine Berufung) auf Sinnestäufchungen

immanente rill als fein den Lebensprozeß tragendes
zweites Ich nachzuweifen. Nur weiß ich nicht, ob er dabei
nicht etwas zu ftark fyftematifiert, wenn er in der
Auffaffung von Geift und Seele als konkreter Wefen beftimmt
das prius, in ihrer Auffaffung als körperlos wirkender
Kräfte das posterius fieht (S. 22, 24). Je mehr ich mich
mit primitiver Religion befaffe, um fo fchwieriger finde
ich es, bei dämoniftifcher und dynamiftifcher Auffaffung ein
zeitliches Nacheinander zu ftatuieren. Man hat mindeftens
anzuerkennen, daß beide Vorftellungsreihen parallel laufen,
und ich glaube nicht, daß davon die althebräifche Auffaffung
eine Ausnahme macht. Im folgenden Kapitel:
,Die Seele und der Tod des Menfchen' wird, z. T. in
Auseinanderfetzung mit Grüneifen, der Nachweis geführt,
wie in Ifrael im allgemeinen die Anfchauung geherrfcht
habe, daß die Seele beim Sterben des Menfchen nicht
dem Tode anheimfalle, fondern daß fie fich in diefem
Prozeß vom Körper trenne und als reales, felbftändiges
Wefen nach der Scheidung weiterleben könne (S. 42).
Diefer Nachweis ift m. E. im Ganzen gelungen; immerhin
hätte die forgfältige Abhandlung von E. Kautzfeh: Der