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Ausgabe:

1912

Spalte:

282-283

Autor/Hrsg.:

Kierkegaard, Sören

Titel/Untertitel:

Gesammelte Werke. 1. Bd. Entweder - Oder. Ein Lebensfragment. Hrsg. v. Viktor Eremita. 1. Teil 1912

Rezensent:

Hoffmann, Raoul

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 9.

282

22. 26—27. 34- 39- 41- 48—54. 92). — Eher dürfte man
in der Gliederung des Werkes ein andres Hauptftück
verminen: ,die Beobachtung der Natur unter dem
Gefichtspunkt, ob und wie uns die Natur Gott offenbart'.
Indeffen fubfumirt der Vf. die fo beftimmte Auffaffung
von der Natur unter die Anthropologie; denn jede theologifche
Lehre vom Menfchen enthält auch theologifche
Ausfagen über die Natur, weil eine Befchreibung des
Menfchen, die ihn aus der Natur heraushöbe, den Tat-
beftand unfers Lebens beftritte und zur Träumerei würde'
(16). — Daß Schi, zur rein formalen Frage der fyftema-
tifchen Konftruktion übrigens eine ähnliche Stellung einnimmt
wie Jul. Kaftan, erhellt aus den Erwägungen
S. 17 und aus andern gelegentlichen Bemerkungen (Vgl.
S. 608: /Wichtiger als die Reihenfolge ift, daß jedes Glied
der Dogmatik feine tüchtige Durchbildung bekomme').
Das Syftem enthält einen reichen Stoff den die traditionelle
Bearbeitung meiftens der Ethik zuweift (z. B. § 42 — 54);
diefe Erweiterung der Gegenftände ift durch die von dem
Vf. der Dogmatik zugewiefene Aufgabe bedingt und wird
im dritten Teil, bei der Erörterung der göttlichen Gnaden-

durch das wir felber Gottes Regierung fehen . .. weil fie
uns zum eigenen guten Willen hilft, durch den wir Gott
und den Nächlten dienen' (S. 406). Wie ernft der Vf.
fich um eine religiöfe Vertiefung und Belebung des herkömmlichen
Biblizismus bemüht, kann man z. B. aus den
Paragraphen über den Fall der Menfchheit und über den
Teufel (§ 69—70) erfehen.

Endlich fei noch auf die apologetifchen Beftrebungen
des Dogmatikers hingewiefen. Er geht den Einreden
und Bedenken nicht aus dem Wege, die gegen die Liebe
(§ S2); gegen die Schuld (§ 64), gegen das verlohnende
Wirken Jefu (80), gegen das Dafein des Geiftes (§ 90),
gegen die chriftliche Rechtfertigung (§ 113), gegen die
Erlöfung (§ 115), gegen die Möglichkeit des chriftlichen
Glaubens (§ 121) erhoben werden. Die einfchlägigen
Auseinanderfetzungen gehören zu den charakteriftifchften
Partien des Buches: überall ift es dem Apologeten darum
zu tun, nachzuweifen, welchen Grund und Inhalt unfere
religiöfe Gewißheit habe.

.Neben der Größe des Gegenftands der dogmatifchen
Arbeit verlieren die Urteile, die fich mit den Verdienften

Wirkungen (524—573) eingehend begründet. und Mängeln des Dogmatikers befchäftigen, ihre Bedeutung

Zur Charakteriftik der Schlatter'fchenDogmatik mögen
einige Fragen noch eine kurze Erörterung finden. Sehr
bezeichnend ift zum Beifpiel der Abfchnitt über die Dreieinigkeit
. Deutlich treten in demfelben die verfchiedenen
Faktoren hervor, die die dogmatifche Arbeit des Verfaffers
bedingen: daß alle Ausfagen über Gott in dem uns er-
faffenden göttlichen Wirken ihren Grund haben, ift der
leitende Gedanke der Ausführungen, die ftreng genommen
nicht über eine Offenbarungstrinität hinausführen. Zur
Wefenstrinität gelangen wir doch nur durch Erwägungen,
die die Grenzen des der Glaubenslehre zugewiefenen
Programms überfchreiten. Eine in den Anmerkungen
enthaltene Erklärung foll den Begriff der Perfönlichkeit
des Geiftes, neben der des Vaters und des Sohnes, feft-
ftellen. S. 643—644: ,Auch für den Geift ift nur der
Perfonbegriff brauchbar; denn in der Befchreibung Gottes
hat nichts Dingliches Raum, weder die bloße Kraft noch
die bloße Idee'. Sollte durch diefe Bemerkung die Selb-
ftändigkeit des heiligen Geiftes neben der des Vatergottes
wirklich gefichert fein? — Die Ausfage über ,die Ewigkeit
Jefu' (sie) hat den Sinn, daß fich fein Werk an keiner
Stelle vom Wirken des Vaters trennt und daran erprobt
fich auch die Gemeinfchaft mit dem Vater als ewig und
vollftändig (§ 88). Den parallelen Gedanken zur Ewigkeit
bildet ,die Allgegenwart Jefu' (sie); diefelbe Geeintheit
mit dem Vater, die ihn himmlich macht, gibt ihm auch
die Gegenwart bei uns in räum-und zeitfreier Beherrfchung
des Alls (§ 89). Die Wiederkunft Chrifti zur Vollendung
feiner Gemeinde und zur Erneuerung der irdifchen Natur
ift ein notwendiges Objekt der chriftlichen Hoffnung;
ihre Bewährung hat diele Verheißung des Herrn an feinem
vollbrachten Werk, und wer fie dort nicht erkennt und
nicht durch fein Wort und fein Kreuz und feine Gemeinde
zu ihm berufen wird, dem kann feine Verheißung keine
Hoffnung geben. Um auf ihn zu hoffen, müffen- fie an
ihn glauben (137).

In den prinzipiellen Auseinanderfetzungen über die
dogmatifche Methode und den dogmatifchen Beweis fcheint
die heilige Schrift keine grundlegende Rolle zu fpielen.

ganz' (5). Durch diefe Erklärung hat der Vf. von vornherein
das Gefchäft des Rezenfenten in fehr befcheidene
Grenzen zurückgedrängt, und vielleicht die Entbehrlichkeit
längerer Auseinanderfetzungen angedeutet. Esfeidaherzum
Schluß nur noch bemerkt, daß die konfervative Haltung
der Schlatter'fchen Darfteilung in eine ganz fchiefe Beleuchtung
treten würde, wenn man fie einfach als Repri-
ftination einer durchfehnittlichen Gemeindeorthodoxie betrachten
wollte: warnt er doch felber davor, .einen
vergangenen Glaubensftand künftlich nachzuahmen und
fo für die Kirche eine Einheit des Glaubens zu konftruieren,
die nur Legende ift; je ernfteraberderVerfuchunternommen
wird, die Einheit der Kirche auf mechanifchem Wege
herzuftellen, um fo gründlicher zerftört er die Gemeinfchaft
des Glaubens'. Die Forderung und die Formel der Orthodoxie
ift auf den evangelifchen Gedanken zurückzuführen,
daß ,die Kirche in allem, was fie lehrt und tut, der
Wahrheitsregel zu gehorchen hat' (547. 663—664).

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Kierkegaard, Sören: Gelammelte Werke. i.Bd. Entweder —
Oder. Ein Lebensfragment. Hrsg. v. Vikt. Eremita.
1. Teil (A.'s Papiere.) (Mit Nachwort v. Chriftoph
Schrempf. Überf. v. Wolfg. Pfleiderer u. Chriftoph
Schrempf.) (397 S.) Jena, E. Diederichs 1911.

M- 5— i geb. M. 6 —
.Entweder — Oder' hier kritifch bewerten zu wollen,
hieße in ein paar Zeilen über den ganzen Kierkegaard
ein Urteil zu wagen.

Wir ziehen es vor, ein flüchtiges Wort über des Buches
Stellung in K's literarifcher Produktion zu fagen: K. felber,
in fpäteren Jahren, hat gemeint, feine ganze Schriftftellerei,
auch die äfthetifche, hätte den Sinn gehabt, indirekt zu
zeigen, was Chriftentum ift, und auch was für Stadien der
Menfch durch verzweifelt gefährliche Sprünge zu überwinden
hat, um zum Chriftentum zu gelangen. Möglich,
daß Einiges erzwungen in diefer Deutung ift. Richtig
B>as auf die Bibel fich beziehende Lehrftück ftellt Schlatter ! bleibt, daß fie als — fagen wir vorläufige — Orientierung

nicht in die Prolegomena feiner Dogmatik ein, er fubfumiert
es vielmehr unter den Abfchnitt von den Gnadenmitteln,
behr energifch bekämpft er den einfeitig intellektualiftifchen

rakter der altproteftantifchen Infpirationslehre, welche j nuffes. Aber Selbftfucht bleibt Selbftfucht, wie pfycho

fehr praktifch ift, um fich in K's Büchern zurechtzufinden.

Unfer Band fchildert die unterfte Stufe, die äfthetifche,
d. h. des Genuffes, zumal des feelifch verfeinerten Ge-

^°"es H^b.e auf die Spendung von Gedanken reduziert ! logifch raffiniert fie auch auftreten möge. Wie die Opfer
(S 96 .rleifchlich ift die Autorität der Schrift verftanden, j diefer Lebensanfchauung leidenfchaftlich ihrem eigenen
wenn ihr Wort uns als Erfatz für unfere Erkenntnis dienen j Schatten nachlaufen, wie fie Schmerz im Vergnügen und
'° da» WIr fehber nichts von Gott wiffen, aber den I Freude am Schmerz haben, wie unheilvoll fie für fich
Bibelspruch nachfagen und, ftatt zu erkennen und andern j felbft und auch für die andern find — flehe das Tage-
zur Lrkenntnis zu helfen, blos zitieren. Göttlich ift die buch des Verführers — das läßt fich eben nicht in kurzen
Autorität der Schrift, weil fie uns das Mittel darreicht, ! Worten faffen. Es wäre auch der Gipfel der Lächerlich-