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Ausgabe:

1912 Nr. 9

Spalte:

274-279

Autor/Hrsg.:

Vaihinger, Hans

Titel/Untertitel:

Die Philosophie des Als Ob 1912

Rezensent:

Heim, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 9.

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wie fchwierig die Befchaffung und Verarbeitung des
Materials zu einer derartigen Gefchichte ift, und ich bewundere
Kolde, daß er die Aufgabe, die in der Regel
die Theologen zu anderen Latten noch auf fich nehmen
muffen (auch in Gießen waren die Theologen die fleißigften
bei der Feftfchrift), fo energifch angefaßt und fo gefchickt
und feffelnd durchgeführt hat. Alles nur wünfchenswerte
Detail, über die einzelnen Dozenten, die Entwicklung der
Inftitute, die Studentenfchaft und ihre Verbindungen (fehr
ausführlich) ift behandelt und dennoch alles unter große
Gefichtspunkte geftellt; der von Kolde betonte .intime
Charakter' feiner Darftellung wird nie zur Spießbürgerlichkeit
, wozu gerade diefe Univerfität leicht hätte verführen
können. Die Schilderung fetzt fogleich nach einem kurzen
Rückblick auf die frühere Gefchichte der Hochfchule mit
einem Problem ein: follte die Erlanger Univerfität unter
der Krone Bayern fortbeftehen oder nicht? Sollte fie,
wie Ingolftadt (1802) ganz aufgelöft oder in eine andere
Stadt (Landshut, München, Nürnberg o. a.) verlegt werden?
(Sorgen, die übrigens mutatis mutandis f. Z. auch die
Gießener Univerfität bedrückt haben.) ,Die frohen Hoffnungen
, die man auf die neue bayerifche Regierung gefetzt
hatte, fchienen fich zunächft in keiner Weife zu erfüllen.'
Befonders energifch trat für die Erhaltung Erlangens als
Univerfität Immanuel Niethammer, Mitglied der Sektion
der Studien, ein; ihm ift es gelungen, nachdem ein früherer
Vorfchlag von ihm beinahe Erlangen zur theologifchen
Spezialfchule herabgedrückt hätte, die Notwendigkeit des
Zufammenhanges des Studiums der proteftantifchen Theologie
mit dem Univerfitätsganzen klarzumachen. Aber
die ganze Schwierigkeit der Situation beleuchtet draftifch
die Tatfache, daß eine offizielle definitive Beftäti-
gung der Erlanger Hochfchule niemals erfolgt ift!
Man hat 1815 die Fortfetzung der Vorlefungen bis auf weiteres
geftattet, dann 1818 in der bayerifchen Verfaffungs-
urkunde von drei Univerfitäten gefprochen, ohne fie aber
mit Namen zu nennen; das war beftenfalls eine indirekte
Legitimation. Doch hat Erlangen nicht mehr weiter um
feine Exiftenz feitdem zu kämpfen gehabt. Es ging lang-
fam, aber im allgemeinen ftetig aufwärts, folche Skandala,
daß ein Ordinarius feit 14 Jahren auf Gehalt warten mußte,
feine Frau fich infolgedeffen ,erfäufen' wollte (S. 129), kamen
doch nicht mehr vor. Sehr wertvolles neues Licht wirft
ein befonderes Kapitel auf die Anfänge der burfchenfchaft -
lichen Bewegung, fpeziell auf K. L. Sand (im Anhang ift
der fehr intereffante Bericht G. W. Lochners an Sand über
die Gründung der Burfchenfchaft in Erlangen mitgeteilt),
den Begründer des burfchenfchaftlichen Gedankens in
Erlangen. Es hat etwas Rührendes, wie die Studenten
1816 ,bei Chokolade und Bier des großen D.M.Luthers
Sterbetag und Sterbeftunde feftlich begehen', geiftliche
und weltliche Lieder fingen, Jonas' Bericht über Luthers
Tod vorlefen und mit ,ein fefte Burg' fchließen. Eigenartig
auch, daß Sand gerade an dem Tage, an dem er
zuerft den Wunfeh ausfpricht, fich felbft in den Tod zu
geben für edle Zwecke, fich am Abend im Theater an
— Kotzebue erfreut. Eine heilige, göttliche Sache ift
Sand fein ganzes Tun für die Burfchenfchaft gewefen,
aber entfetzlich unreif war es auch, nur zu leicht bei
einander wohnten große, hohe und kleine, niedere Gedanken
. Die nach der Sandfchen Mordtat anfetzende
Reaktion traf Erlangen fchwer, die Univerfität erhielt u. a.
einen außerordentlichen Minifterialkommiffar an die Seite
geletzt, zur Beauffichtigung von Profefforen und Studenten,
« ltand ihm ungehemmter Zutritt zu allen Vorlefungen
onen. Em befonderer Platz mußte ihm referviert werden!
Ein von dem wackeren Profeffor Mehmel aufgefetzter
rrotett gegen diefes .unverdiente Mißtrauen' wurde abgelehnt
. Zum Glück verftand es die erwählte Perfönlich-
keit, durch perfönliches Gefchick die peinliche Auffichts-
lteiie in die Tätigkeit etwa eines Univerfitätskurators
umzuwandeln. Die Studentenfchaft wanderte 1822 infolge
von Reibereien mit der Bürgerfchaft nach Altdorf aus,

Heinrich Leo aber wurde denunziert, weil er über ,deut-
fche Gefchichte' las. Unter Ludwig t, feit dem der bay-
rifche König Rektor magnificentissimus Erlangens ift, kam
die bittere Konkurrenz Münchens für Erlangen, zugleich
die nicht feltene Aufoktroyierung von Münchener .völlig
befähigten Individuen' gegen den Willen der Fakultät.
Daß unter dem Minifterium Abel der Zufammenprall
zwifchen Regierung und Univerfität (Harleß!) befonders
ftark war, verfteht man ohne weiteres. Der Fortfehritt
hielt eigentlich erft wieder Einzug unter König Max II.
Die Studenten erhielten Couleurfreiheit, die Inftitute wurden
ausgebaut u. dgl. Intereffant ift die Stellungnahme Erlangens
in der fchleswig-holfteinifchen Frage. Erlangen
ift damals ,eine Art deutfeher Zentrale' gewefen; 1870 hat
Friedrich Nietzfche als Bafler Profeffor fich in Erlangen
als Felddiakon ausbilden laffen, ,wohl keine füddeutfehe
Univerfität hat fo für das Gefühl der Zufammengehörig-
keit von Nord und Süd gewirkt als unfere Hochfchule'
(S. 455). Daß dem derzeitigen Prinzregenten befonderer
Dank für den Ausbau der Hochfchule gebührt, zeigt das
Schlußkapitel. In die Gefchichtsdarftellung hat Kolde
fein gezeichnete Charakterbilder verwoben, fie kommen
bei der Präponderanz der theologifchen Fakultät befonders
der Gefchichte der proteftantifchen Theologie zu gut;
ich nenne nur die Namen Hofmann, Thierfch, Frank,
Harleß, Ebrard. Ein .liberaler' Wind hat freilich in Erlangen
nie geweht, auch kein Strafprofeffor den Zufammen-
halt der Fakultät geftört. —

Zwei Kleinigkeiten zur Berichtigung: die S. 133 erwähnte
.religionsgefchichtliche Methode' von G. Ph. Kaifer
ift nichts Singuläres, fondern dem Rationalismus eigen,
die moderne religionsgefchichtliche Schule weiß auch fehr
wohl, daß fie hier anknüpft; vgl. H. Gunkel: zum religions-
gefchichtlichen Verftändnis des NT. S. 1. — Die S. 489
als Erlanger .Eigentümlichkeit' gefchilderte Tätigkeit des
großen Senates in puncto Durchberatung aller gemein-
famen Univerfitätsangelegenheiten kennt Gießen auch;
wohl aber ift es ein Erlanger Kuriofum, daß der Ordinarius
für KG (Kolde felbft) die Funktion eines Gartendirektors
auszuüben hat (S. 464). — Der Verlag hat das
wertvolle Buch mit hübfehen Bildern ausgeftattet.

Zürich. Walther Köhler.

Vaihinger, Prof. Dr. Hans: DiePhilofophie des Als Ob. Syftem
der theoret., prakt. u. religiöfen Fiktionen der Menfch-
heit auf Grund e. idealift. Pofitivismus. Mit e. Anh. üb.
Kant u. Nietzfche. (XXXV, 804 S.) gr. 8«. Berlin,
Reuth er & Reichard 1911. M. 16—; geb. M. 18 —

Diefes Werk, das feinen Hauptbeftandteilen nach
fchon vor etwa 35 Jahren niedergefchrieben ift und nun
durch neuere Zufätze namentlich hiftorifcher Art erweitert
an die Öffentlichkeit tritt, fucht einen einheitlichen phi-
lofophifchen Grundgedanken allfeitig durchzuführen, der
den bedeutendften philofophifchen Strömungen der neueren
Zeit, insbefondere dem Voluntarismus, der biologifchen
Erkenntnistheorie von Mach und Avenarius, der Philofophie
Nietzfches und dem Pragmatismus, als Konzentrationspunkt
dienen foll, der das, ,was dort zerftreut erkannt
worden ift, auf ein gemeinfames Prinzip zurückführt
' (Vorwort S. XV). Dieter Grundgedanke liegt in
der Herausarbeitung einer in der bisherigen Logik nur
fpärlich bearbeiteten logifchen Kategorie, der fog. Fiktion,
die fich durch ihre Notwendigkeit und bewußte Fiktizität
ebenfo fcharf von einer dogmatifchen Vorausfetzung wie
von einer Hypothefe unterfcheidet. In einer prinzipiellen
Grundlegung wird zunächft eine Aufzählung und Einteilung
der wiffenfehaftlichen Fiktionen gegeben, in der neben
logifchen Fiktionen wie Klaffifikation, Abftraktion, Sum-
mation, mathematifchen Fiktionen wie n-dimenfionaler
Raum und Begriff des Unendlichen, phyfikalifchen Fiktionen
wie Materie, Atom, Körper Alpha, auch juriftifche