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Ausgabe:

1912 Nr. 8

Spalte:

241-243

Autor/Hrsg.:

Fueter, Eduard

Titel/Untertitel:

Geschichte der neueren Historiographie 1912

Rezensent:

Köhler, Walther

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241 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 8. 242

Die vorstehenden Ausführungen bezwecken, auch die
Vorftände unferer Bibliotheken, die, wie mir merkwürdige
Erfahrungen gezeigt haben, zum Teil keine Kenntnis davon
erlangt haben, daß das Enders'fche Werk, wenn auch
langfam, fo doch Sicher fortgefchritten ift — auf einer
großen Bibliothek fand ich nur die 6 erften Bände, und
man war verwundert, als ich mitteilte, daß die doppelte
Zahl erfchienen fei — darauf hinzuweifen, daß ,Enders',
wills Gott, nicht Torfo bleibt, fondern feinen Abfchluß
erreichen wird. Sie bezwecken aber auch, alle auf dem
Gebiete der Reformationsgefchichte arbeitenden Kollegen
an die Adreffe des Vereins für Reformations-Gefchichte
(R. Haupt in Leipzig) zu verweifen, durch den jetzt
Sämtliche erfchienene Bände zu beziehen find.

Berlin. G. Kawerau.

Fueter, Eduard: Gefchichte der neueren Hiftoriographie.

(Handbuch der mittelalterl. u. neueren Gefch., hrsg. von
G. v.Below u. F. Meinecke. Abt.I.) (XX, 626 S.) gr.8°.
München, R. Oldenbourg 1911. M. 16—; geb.M. 17.50

Für die Theologie im Allgemeinen und die Kirchengefchichte
im Befonderen ift es befchämend, daß feit
Ferdinand Christian Baurs .Epochen der kirchlichen Ge-
fchichtsfchreibung' von 1852, die doch eben nur eine
Skizze find, die Gefchichte der kirchlichen Historiographie
im Gefamtaufriß ein unbebautes Feld geblieben ift, das
kaum in einigen wenigen Einzelunterfuchungen (wie etwa
die von Schwartz über Eufeb, von Heuffi über Mosheim,
neuerdings von Hellmann über Gregor v. Tours und Moritz
Ritter über Auguftin) wenigstens angepflügt wurde. Es
ift für die Lage fehr charakteriftifch, daß Heuffis vortreffliches
Kompendium über die Gefchichte der Kirchen-
gefchichtsfchreibung kein Wort, Loofs' erweiterte Auflage
feiner .Grundlinien' nur einen mageren Paragraphen, der aber
faft nur Namen bietet, keine genetifche Entwicklung, enthält
. Freilich, die Aufgabe ift gegenwärtig bedeutend
Schwieriger geworden als zu Baurs Zeiten, und diefe
Schwierigkeit erklärt einigermaßen jene Unterlaffungs-
fünde. Wie die alten Zäune der Kirchengefchichte als
historia sacra immer durchläffiger geworden find, fo kann
eine modernen wiffenfchaftlichen Anforderungen genügende
Gefchichte der Kirchengefchichtsfchreibung nur verfaßt
werden unter lebendigster Fühlungnahme mit den allgemeinen
Kultur- und Bildungstendenzen der einzelnen
Epochen, Speziell mit der allgemeinen Historiographie.
Dann aber wird fie wirklich fruchtbar und anregend gestaltet
werden können. Beweis dafür ift vorliegendes
Buch. Es ift von einem Profanhiftoriker unter aus-
gefprochen profanhiftorifchen Gefichtspunkten gefchrieben,
d. h. Vf. hebt den Unterfchied von Profanhiftorie und
Kirchen'hiftorie grundfätzlich auf, er kennt nur eine
Gefchichte, und innerhalb der Gefchichtsfchreibung die
Kirchengefchichtsfchreibung nur als befonderes Abteil
neben Wirtfchaftsgefchichte, politifcher Gefchichtsfchreibung
u. dgl. Gerade das aber lehrt die kirchliche Historiographie
richtig einfchätzen; der Theologe wird, feinen
Intereffenentfprechend.imEinzelnenvielesausbauenkönnen,
aber die Problemstellungen find von dem von Fueter eingenommenen
univerfalhiftorifchen Standpunkte aus zu
gewinnen, und ich glaube, daß der nachprüfende Kirchen-
hiftoriker in allen wefentlichen Punkten den von Fueter
gebotenen Löningen zuftimmen wird. So begrüße ich 1
diefes .profanhiftorifche' Buch gerade um feiner .profanhiftorifchen
' Haltung willen aufs ffeudigfte, es bietet eine
Fülle fruchtbarer Gefichtspunkte für das Verftändnis der
Gefchichte unferer Disziplin und ift ftiliftifch glänzend
gefchrieben. Die gefürchtete Langeweile, die u. a. auch
von einer Behandlung der Gefchichte der Kirchengefchichts- ;
Schreibung abfchreckt, kommt bei der Lektüre diefes Buches
keinen Augenblick auf. Vf. fchreibt knapp, fehr kritifch,
Scharf pointiert, die Basler kritifche Ader ift in der Schweiz

bekannt (F. ift geborener Basler), aber feine Urteile treffen,
die hiftorifchen Porträts (z. B. von Treitfchke, Jak. Burck-
hardt, Renan, Fuftel de Coulanges, Ranke, mit deffen
ausgezeichneter Zeichnung man etwa die von M. Lenz in
der Gefchichte der Berliner Univerfität vergleichen möge),
find fehr fauber und fein herausgearbeitet, gerne und
glücklich veranschaulicht der kunftverftändige Vf. an Analogien
aus der Gefchichte der Mufik. Mit ficherer Souveränität
fteht er über feinem Stoffe und meiftert ihn. Wenn
ich hinter den Zeilen über die theologifche Gefchichtsfchreibung
ein feines Erasmifches Lächeln zu erblicken
glaube, fo beweist der ganze hittoriographifche Entwicklungsgang
das innere Recht dazu. Den Satz, den F. zu
Strauß' .Hutten' fagt: ,Es itt das Kennzeichen beinahe
aller, auch der abgefallenen Theologen, daß Sie nicht begreifen
, wie gleichgültig den Maffen außerhalb der geistlich
gebildeten Kreife dogmatifche Probleme an fich find',
darf man unferer gefamten Theologie, nicht nur der
kirchenhiftorifchen, zu ernftefter Beachtung empfehlen.
Ein gut Teil der Schwierigen Lage der Theologie innerhalb
der modernen Welt liegt hier. Ein Verfäumnis aber
ift es, daß F. einem Manne wie K. A. v. Hafe kein Wort
gewidmet hat. Das hätte er fo gut verdient wie Renan,
und gerade Hafes äfthetifch-feinfühlige Art arbeitet doch
deutlich aus den theologifchen Engen heraus. Seine
Kirchengefchichte hat doch nicht nur ,in der geistigen
Entwicklung ihres Urhebers' Bedeutung (derartige Werke
will F. laut S. VI — mit Recht — nicht besprechen).

F. hat die Gefchichtsphilofophie von feiner Darstellung
ausgefchloffen, fie wird nur fo weit .berührt" (S. V), als fie
auf die Entwicklung der Hiftoriographie eingewirkt zu
haben Scheint. Das ift begreiflich, beeinträchtigt aber
doch ein wenig das Verftändnis. Man kann darüber
Streiten (vgl. F.'s vorfichtiges .Scheint'), wie weit die Hiftoriographie
von der Gefchichtsphilofophie beeinflußt ift.
M. E. viel Stärker, als F. annimmt. Die hiftorifche Ideenlehre
z. B. leitet F. ausschließlich aus .realen Verhältniffen'
d. h. den Wirkungen der franzöfifchen Revolution ab
(Friedrich Schlegel nannte fie darum ,eine vortreffliche
Allegorie auf das Syftem des transzendentalen Idealismus',
vgl. F. Lederbogen, F. Schl.'s Gefchichtsphilofophie S. 74),
doch ift das, fo fehr mit Recht F. betont, daß man die
hiftorifche Ideenlehre, deren größter Schüler Ranke war,
nicht mit der Hegelfchen teleologischen Ideenlehre ver-
wechfeln dürfe, nur eine Seite der Entwicklung, die andere
ift, wie Schlegel richtig gefehen hat, in der Philofophie
zu fuchen und hatte dort Schon eine lange Entwicklung
(vgl. Einiges aus ihr bei P. Menzer: Kants Lehre von der
Entwicklung in Natur und Gefchichte 1911). Ähnlich
fteht es mit der pofitiviftifchen Gefchichtsfchreibung.
Comte wird von F. kurz erwähnt, Buckle ausführlich besprochen
, Taine fehr eingehend charakterisiert, aber die
Wurzeln reichen hier auch noch viel weiter zurück, fogar
bis auf Plato (vgl. I. A. Kleinforge: Beiträge zur Gefchichte
vom Parallelismus der Individual- und der Gefamtent-
entwicklung 1900). Und dann meine ich, in eine Gefchichte
der neueren Hiftoriographie gehört auch Karl Lamprecht
hinein man mag zu ihm flehen, wie man will. Sollte (mit
Recht) über die Lebenden nichts gefagt werden, hier
mußte eine Ausnahme gemacht werden, es handelt fich
doch um eine originale Richtung, die zur Geiftesfignatur
der Gegenwart auf dem Gebiete der Gefchichtsforfchung
gehört. Die übrigen Historiker der Gegenwart laffen fich
(ohne Abbruch an ihrer Originalität) einordnen in die von
F. gegebenen Typen, Lamprecht aber, der Abhängigkeit
von Comte Stets abgewiefen hat, inauguriert eine Selbständige
Weiterbildung des Pofitivismus, ganz einerlei, ob
fie verfehlt ift.

Ver 1<aum verbietet mir, die Stoftanordnung F.'s zu befprechen; hier
darf eigentlich nur kritifieren, wer es beffer machen kann, und die Gruppierung
ift außerordentlich fchwer, da verfchiedene Tendenzen in einer
und derfelben Perfon vertreten fein können. Ganz glatt ift die Ökonomie
des Werkes bei F. nicht, Boffuet z. B. erfcheint zweimal fehr ausführlich,
fhierry nn-d Ranke werden miteinander verglichen, ehe von Ranke etwas