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Ausgabe:

1912 Nr. 8

Spalte:

227-230

Autor/Hrsg.:

Kohler, Kaufmann

Titel/Untertitel:

Grundriß einer systematischen Theologie des Judentums auf geschichtlicher Grundlage 1912

Rezensent:

Bousset, Wilhelm

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227 Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 8. 228

medanifchen Haltung gegen Chriftus und die chriftliche
Bibel, der muhammedanifchen Miffion, der Erziehung und
des inneren Lebens gezeichnet. Es exiftiert keine belfere
oder autoritativere Darftellung. Sie ift fympathifch, lehrreich
, tief, kurzgefaßt und doch völlig verftändlich. Das
Beliehen von lokalen Kulten, die Einlagerung animiftifcher
oder fpiritiftifcher Gebräuche im muhammedanifchen
Gottesdienfte einerfeits und der theoretifche Monotheismus
der Religion andererfeits gehören zu den fonderbaren
Widerfprüchen, die der Verfaffer aufdeckt. Als praktifchen
Führer zum modernen Islam und als gefchickte Hilfe zur
Chriftianifierung einer muhammedanifchen Bevölkerung
wird man fich kaum nach etwas Befferem umfehen können.

NewYork. Geo. W. Gilmore.

Kohler, Rekt. Dr. Kaufmann: Grundriß einer lyftematifchen
Theologie des Judentums auf gelchichtlicher Grundlage.

(Grundriß der Gefamtwiff. des Judentums. Bd. 4.) (VIII,
383 S.) gr. 8°. Leipzig, Buchh. Gullav Fock 1910.

M. 6—; geb. M. 7 —

Es ift eine nicht unintereffante Erfcheinung, diefer
Grundriß einer modernen fyftematifchen Theologie des
Judentums. In drei Hauptteile hat der Verf. feine gut,
ja geradezu oft glänzend gefchriebene Darfteilung zerlegt.
Er handelt im erften Hauptteil von Gott (a. Gott in
feiner Selbftmitteilung, b. Gottesidee des Judentums,
c. Gott in feiner Beziehung zur Welt). Im 2. von dem
Menfchen, im 3. von Ifrael und dem Gottesreich. In
jedem der 58 Kapitel leitet ein gedrängter Uberblick
über die Gefchichte der betreffenden Lehre die eigene
Meinung des Verf. ein, gerade fo wie der chriftliche Dog-
matiker etwa mit einem dogmengefchichtlichen Überblick
zu beginnen pflegt. Diefe gefchichtlichen Überblicke
find trotz aller ihrer Kürze für uns befonders auf dem
für uns fo unbekannten Gebiete der Entwicklung des
Judentums im Mittelalter und in der Neuzeit fehr lehrreich
. Der Verf. fchreibt fein Werk vom Standpunkt
des modernen Reform-Judentums aus und macht aus
diefem Standpunkte kein Hehl; er bezeichnet Chriftentum
und Islam gern als Töchterreligionen derjüdifchen Mutterreligion
(S. 15. 313 ff.). Er möchte gern an Stelle der
Meffiashoffnung den Glauben an die Miffion Ifraels fetzen
und die Meffiashoffnung auf die Verwirklichung der
höchften Ideale der gefamten Menfchheit reduzieren (249).
Er plädiert für eine ftärkere Wiederaufnahme des Miffions-
gedankens im Judentum. Er polemifiert fehr fcharf
gegen die vielfach im Judentum aufgekommene und
herrfchend gewordene äußere Gefetzlickeit (265). Er verwirft
die Bewegung des Zionismus durchaus (294). Er
fleht flcher auf Seite derer, welche die Aufrechterhaltung
der Speifegefetze nicht für notwendig für den Beftand
des Judentums erklären, ,die Orthodoxie verneint, das
Reformjudentum bejaht zuverfichtsvoll diefe Frage' (328).
Er zählt als Übelftände der Synagoge auf: die Herrfchaft
einer fremden religiöfen Sprache, die noch immer feilgehaltene
Überzeugung von der religiöfen Minderwertigkeit
der Frau, endlich die Wertlegung auf äußerliche
Gebotserfüllung (338 ff).

Es dürfte nicht unintereffant fein, bei einem Verf.,
der fo mit freierem Blick und einer weniger gebundenen
Stellung die Religionsgefchichte überfchaut, nach deffen
Stellungnahme zur chriftlichen Religion zu fragen. Und
da ift denn auch zuerft mit einer gewiffen Freude zu
begrüßen, daß Verf. auch hier ein etwas freieres und
weiteres Urteil zeigt. Wie fchon gefagt, ift fein oft
wiederholtes Lieblingsurteil, deffen Ausführung er auch
ein ganzes Kap. (57) widmet, daß Chriftentum und Islam
Töchterreligionen des Judentums feien. Sie follen nicht
mehr als Bewegungen des Abfalls betrachtet werden,
fondern der Verf. will gern ihre großen gefchichtlichen
Kulturaufgaben und Leiftungen und ihre Beteiligung am
Aufbau des Gottes-Reiches anerkennen und in feilen

Umriffen beftimmen. Fall väterlich treundlich meint er,
daß dem Judentum als der Mutter, aus deren Schoß
beide hervorgegangen feien, es am bellen zuftehe, ein
folches Gefamturteil zu fällen. Andere Urteile, die der
Verf. ausfpricht, kann man von feinem Standpunkt aus
verliehen, fo wenn er betont, daß das rabbinifche Judentum
lange zu einer vorurteilslofen Würdigung des
Chriftentums nicht kommen konnte, weil es ihm niemals
in der Geftalt entgegengetreten fei, in der es die älteren
neuteftamentlichen Quellen darfteilen. So wenn er gegen
die kirchliche Entwicklung des antiken Chriftentums
fcharf polemifiert und diefe Entwicklung einfach als
Rückfall des Chriftentums ins Heidentum auffaßt: ,nimmer-
mehr konnten die Vertreter des Judentums.. im kirchlichen
Glaubensfyftem verwandte Züge erkennen' (315). So
wenn er die von Mohammed ausgehende Religionsbewegung
als ein Gericht über die durch die Kirche
herbeigeführte Verderbnis der reinen Gotteserkenntnis betrachtet
.

Aber im ganzen und großen kann man doch nicht
fagen, daß der Verf. diejenige gerechte Beurteilung des
Chriftentums erreicht hätte, die ihm auch von feinem
Standpunkt aus möglich gewefen wäre. Als eine ungerechte
Polemik möchte ich fchon die immerhin interef-
fanten Ausführungen, die er über Gerechtigkeit und
Liebe Gottes bietet (90), bezeichnen, eine Polemik, bei
der der Verf. felbft fich in eine einfeitige Pofition treiben
läßt. Wir lefen: ,Dem Judentum ift das höchfte Prinzip
der Sittlichkeit oder der Angelpunkt der fittlichen Weltordnung
durchaus nicht die Liebe, die nur gar zu
oft den Rechtszuftand untergräbt und die Gefellfchaft
verweichlicht, fondern die Gerechtigkeit, die die fittliche
Kraft in jedem entfaltet und hebt'. Mit diefem Satz ift
das Problem denn doch noch lange nicht erledigt; die
Gerechtigkeit vereinzelt und individualifiert den Menfchen,
höchftes Ziel der Gerechtigkeit kann immer nur die
abfolute Freiheit fein, die jedem gewährleiftet fein foll,
um das Gefchick feines Lebens felbft in die Hand zu
nehmen. Höher als die Gerechtigkeit fleht der Gedanke
der Gemeinfchaft, und diefer Gedanke muß auch in einer
religionsphilofophifchen Betrachtung zur Geltung kommen.
So handelt der Verf. ja auch felbft im folgenden Kap.
von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Liebe und fpricht
vortreffliche Worte über die göttliche Güte, die . . ihren
Fluch in Segen umwandelt, die aus jedem noch fo
fchweren Druck höhere Freiheit . . hervorgehen läßt und
auch die Mächte der Pinfternis und der Bosheit in ihren
Dienft nimmt, daß fie gegen das eigene Wollen das
Gute fchaffen. Hätte der Verf., dem feine eigene Religion
fo vielfach Gelegenheit gibt, von der Schale auf den
Kern zu dringen, fich nicht fagen dürfen, daß dies im
Grunde auch die Idee ift, welche die chriftliche Religion
von dem Gott der Liebe und der Güte hat, und daß der
Gedanke der Sündenvergebung und Barmherzigkeit, den
der Verf. doch auch feinerfeits betont, nur die eine Seite
der göttlichen Güte fei? Gerade in der Betonung des
Gedankens der göttlichen Güte follten Vertreter religiöfer
Weltanfchauung zufammenftehen gegenüber fogenannter
wiffenfchaftlicher Weltbetrachtung, für die der Gedanke
der Güte als letzter Weltwirklichkeit nur ein phantaftifches
Märchen ift, und fich keine willkürlichen Hecken und
Zäune unter einander fchaffen.

Ganz unbillig wird der Verf., wo es fich für ihn darum
handelt, die Stellung Jefu und Pauli zum Gefetz zu begreifen
. Dazu ift zu bemerken, daß des Verf. eigenes
Urteil über jüdifche Gefetzlichkeit ihn eigentlich dazu
hätte befähigen follen. Finden wir doch (265) bei ihm
den bemerkenswerten Satz: ,Es ift unleugbar, daß die
ganze vom Prieftertum im Tempel in das pharifäifche und
fpäter rabbinifche Gefetzesieben übertragene Formengläubigkeit
mit ihrer kleinlichen Kafuiftik das wahre
Heiligkeitsideal der Propheten und Pfalmiften trübte'.
Aber hier, wo es fich darum handelt, die fcharfe und