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Ausgabe:

1912 Nr. 6

Spalte:

186-187

Autor/Hrsg.:

Pauli, Aug.

Titel/Untertitel:

Im Kampf mit dem Amt. Erlebtes und Geschautes zum Problem Kirche 1912

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 6.

186

weniger autoritativ beengten Kirchenväter und Schola-
ftiker. Bei ihnen regen fich fchon Anfätze zu autoritätsfreier
wiflenfchaftlicher Forfchung. Sie gehören unzweideutig
an den Anfang der Neuzeit.

R unze hat fich in anerkennenswerter Weife um die
Verbefferung des Kirchner'fchen Kompendiums bemüht.
Die letzten 70 Seiten, die die Gefchichtsbetrachtung bis zur
Schwelle der Gegenwart fortführen, find ganz neu. Auch
ein Abfchnitt über die indifche Philofophie ift hinzugefügt
. In der Auffaffung vieler Denker glaubt Runze von
Kirchner abweichen zu müffen und hat entfprechende
Umarbeitungen vorgenommen. Die knappen Literaturangaben
find vielfach ergänzt. Runze hat feine in
mehreren eigenen Unterfuchungen trefflich bewährte
fprachpfychologifche Perfpektive mehrmals als kritifchen
Maßftab herangezogen und fo der ganzen Gefchichts-
darftellung eine originelle Orientierung gegeben, die zu
tieferem Nachdenken anregen kann.

Bei der Lektüre find mir verfchiedene kleinere Unrichtigkeiten, Lücken
und fonftige Mängel aufgeftoßen, die ich zur eventuellen Berückfichtigung
bei einer Neuauflage empfehlen möchte. S. 2 wird behauptet, daß ,das
Wort „Philofophie" fich bereits bei Herodot (l, 30) findet'. Das ftimm t
nicht. Herodot kennt nur das Wort ,philofophieren" S. 3 heißt es:
,Alle Wiflenfchaften befchäftigen fich mit der Erforfchung eines Gegebenen
und zwar entweder im Räume oder in der Zeit. Die
räumlichen Gegenftände unterfucht die Naturwiffenfchaft . . ., die
zeitlichen Erfcheinungen die Gefchichtswiffenfchaft . . .' Diefe

Vorgänge abfpielen, nannte er Verlangen, das für die fittlichen: vernünftige
Einficht'. Hier ift das Gefetz der phyfifchen Vorgänge unvoll-
ftändig charakterifiert. Denn das Verlangen beherrfcht doch nur die
Dinge bei der Rückentwickelung zur Einheit des Urfeuers, betrifft alfo
die ödöc «vtu, während für die oöög xäto) das Kampfprinzip maßgebend
ift. S. 24 erfährt Anaxagoras zu große Ehre, wenn er auf Grund
von einigen vieldeutigen Fragmenten mit Kant verglichen wird. S. 33
bringt eine Erklärung des pythagoreifchen Bohnenverbots, die wohl
ganz unwahrfcheinlich ift. ,Ihr (sc. der Pythagoreer) Haß gegen die
Anarchie der Menge war fo groß, daß fie fogar die Bohne, das un-
fchuldige Abftimmungsmittel verabfcheuten.' Am eheften dürfen wir
wohl au religiös-rituelle Motive denken. S. 35 find dem Xenophaues
folgende Worte in den Mund gelegt: ,Ohne den Ort zu verändern,
verändert er (sc. Gott) oftmals fein Ausfehen)'. In dem grie-
chifchen Originalfragment, daß hiermit nur gemeint fein kann (Ahl fef
xaviü) fil/xvei xivovftevog ovöev 0v6h fiETtQXsod;ai iiiv {ningsnei a/Zora
a/Az;), fehlt aber jede Hindeutung auf eine Änderung des göttlichen
Ausfehens. S. 210/11 wird richtig die Antizipation des kartefifchen allgemeinen
Zweifels durch Auguftiu erwähnt und auch die Unbezweifelbar-
keit des eigenen Zweifelus, d. h. Denkens, als auguftinifche Lehre ausdrücklich
hervorgehoben. Hier wäre intereffant gewefen, wenn der Ver-
faffer auch die vollere voluntariflifch ausgeftaltete Parallele zu Descartes'
,cogito, ergo sum' herangezogen hätte, die fich in dem Hauptwerk des
tieffinnigen Kirchenvaters De civitate Dei XI, 26 findet. S. 231 f. ift
bei der Behandlung Alberts des Großen außer Acht geladen, daß diefer
bedeutende Denker fchon das Experiment als entfcheidendc Inftanz für
naturwidenfchaftliche Fragen — wenigftens programmatifch — anerkannt
hat. S. 267 find die ethifchen Anfchauungen von Geulincx mit keiuer
Silbe erwähnt. Sie bedeuten doch im Vergleich mit Descartes, der
folche Fragen nur nebenbei berührt hat, einen wefentlichen Fortfehritt.
S. 268 wird über den hervorragenden Malebranche gar zu wenig gefagt,

Abgrenzung beruht auf einer falfchen Disjunktion. Tatfächlich braucht j bei dem fich fogar Vorftößc in der Richtung modernfter pofitiviftifcher
jede der beiden Widenfchaftstypen fowohl räumliche als auch zeitliche 1 Reflexion nachwerfen laden. Souderbarerweife hat bis jetzt nicht einmal

Data. S. 4 wird eine widcrfpruchsvolle Charakteriftik des Unterfchiedes
zwifchen der Philofophie und den Einzelwidenfchaften gebracht. ,Die
Philofophie erhebt fich . . infofern über alle Widenfchaften, als ihr einziges
Mittel der Forfchung das Denken ift. Jene haben fämtlich
Gegebenheiten zur Balis, Autoritäten zur Norm, der Philofoph erkennt
keine andere an als feine eigene Vernunft.' Unmittelbar darauf lefen wir

das Hauptwerk diefes Denkers Aufnahme in Kirchmanns Philofophifche
Bibliothek gefunden. S. 278 hätten in den Literaturangaben zu Spinoza
die beiden monumentalen Werke Freudenthals nicht vergedeu werden
dürfen. S. 327 ift Tetens als Urheber der heute noch verbreiteten pfycho-
logifchen Dreivermögenlehre hingeftellt. Er darf aber ebenfo wenig wie
der vielfach mitgenannte Mendelssohn auf folche Ehre Anfpruch machen,

aber, daß die Philofophie ,alle Refultatc der Einzelforfchung zu einem j da beiden Sulzer zuvorgekommen ift, wie wir durch eine Arbeit von

Gcfamtbilde vereinigt. Hierin liegt fchon, daß fie felbft jene zur ! Palme feit einigen Jahren widen.

Vorausfetzung hat.' Mit dem letzten Satz wird offenbar die vorhin be- j Königsberg Kowalewski.
tonte Selbftändigkeit der Philofophie wieder aufgehoben. Außerdem : ° °'

dürften die EinzelwüTenfchaften gegen die Zumutung von .Autoritäten' ~ ~ ~ ~

mit Recht proteftieren und der Thilofophie den Klaffikerkultus vor- Pauli, Aug.: Im Kampf mit dem Amt. Erlebtes U. Geworfen
, der an Stelle des prahlerifchen Selbftdenkens tatfächlich herrfcht. j fchautes ZUtn Problem Kirche. (VIII, I35 Sd 8n.
b. 5 wird ein berühmter Hegel fcher Satz in einer irritierenden F orm | v r\_ »v

angeführt: .Alles Natürliche ift vernünftig'. Mancher könnte dadurch | München, C. H. Beck I9II. Geb. M. 2.25

an den Ausfpruch eines Kynikers erinnert werden. Warum follen wir den T,. „ , ... ..... . , , .. . . . ,

Satz nicht genau fo zitieren,' wio er in der Vorrede zu Hegels .Grund- Dle Schrift .fuhrt 111 tagebuchartigen Aufzeichnungen

Hnien der Philofophie des Rechts' gedruckt fleht? ,Was vernünftig ift, ! die fchrittweifen Erlebniffe und Erkenntniffe eines mit

das ift wirklich: und was wirklich ift, das ift vernünftig.' S. 14 wird feiner Amtsaufgabe ringenden Pfarrers vor', doch fo, daß

als aiarakterzug der Jonier der auf die äußeren Vorgänge gerichtete | der redend eingeführte Pfarrer eine dichterifche Figur

a^Ki^d: tSS^^^^£tTn «ft ™* nicht das Bild einer beftimmten Gemeinde ge

zuweudet, noch nicht genügend motiviert. Den wichtigften Anftoß
gaben wohl aftronomifche Beobachtungen, die bei einem Seefahrervolk
vor der Erfindung des Kompaffes zum täglichen Hausbedarf gehören
mußten. Der Blick des Menfchen fchweifte damals viel häufiger nach
dem gewaltigen Sternenhimmel und konnte fo zu Gedanken angeregt
werden, die den engen Rahmen der nächften irdifchen Erfahrungseindrücke
fprengen mußten. So ift die aftronomifche Einftellung eine Vorläuferin
des philofophifchen Denkens gewefen. Auf diefen fehr beachtenswerten
pfychologifchenZufammeuhang hat mich eine Arbeit von Hans Hielfcher
aufmerkfam gemacht. Sie bringt auch fonft viele anregende Winke, die
die Darfteller der Philofophiegefchichte benutzen follten. Ihr Titel lautet:
.Völker- und individualpfychologifche Unterfuchungen über die ältere
griechifche Philofophie.' Man findet fie im Archiv f. d. gef. Pfycho-
logie, Baud V, 125—246 und Band VI, 141—240. S. 15 wird von
Thaies bemerkt, daß er ,die Natur des Magneten erkannt haben foll.'
Das könnte leicht mißverftanden werden, als ob der naive Denker fchou
eine Erklärung des Magnetismus gegeben oder gar die magnetifchen
Erfcheinungen entdeckt habe. Die tatfächliche Unterlage der geheimnisvollen
Bemerkung bildet eine Notiz bei Ariftoteles (de anima), nach Thaies
fei der Magnet befeelt (oder wohl beffer belebt), weil er das Eifen an-
"l D'efe Xot!z '"uftriert zugleich vortrefflich den Hylozoismus des
alterten Philofophen und hätte ftatt der obigen vieldeutigen Bemerkung
PkH 1 tn follen' Ebenda (S. 15) heißt es, daß die altjouifchen
rriilolophen von vornherein in zwei Richtungen auseinandergehen; und
die einen dynamifchen, die andern mechanifchen Naturalismus
lehren. Jene betrachten alles als Modifikationen einer lebendigen
r v« V diefe„erklä'en die Dinge aus der Bewegung neben einander
gefchichteter Stoffe. Zu jenen gehört Thaies, Anaximenes, Diogenes
und Herakht: zu diefen Anaximander, Anaxagoras und Archelaos.' Hier
wird den Hylozoiften eine begriffliche Sonderang zugetraut, die jenfeits
ihres intellektuellen Horizonts liegt. Anaxagoras, der Entdecker des vovg,
und fein Anhänger Archelaos wiederum können unmöglich mit einem
naiven Hylozoiften wie Anaximander zufammengefaßt werden. S. 18
fagt der Verfaffer von Heraklit: ,Das Gefetz, wonach fich die phyfifchen

zeichnet wird, fondern allgemeine Charakterzüge der
kirchlichen, fpeziell bäuerlichen Frömmigkeit. Baye-
rifches Lokalkolorit macht fich übrigens gelegentlich
bemerkbar. Inhaltlich bedeutet das Büchlein eine
tiefgrabende Darfteilung des Konflikts zwifchen aller-
perfönlichfter Frömmigkeit und der Nötigung des feft-
geordneten kirchlichen Amts. Ein fein Empfindender,
innerlich Ringender, peinlich Wahrhaftiger kämpft mit
dem ungeheuren Schwergewicht des Beftehenden, der
kultifchen Inftitution mit ihrer anerkannten Herrfchaft
über die Gemüter und ihren unabläffig wirkenden Eindrücken
. Er verfucht allerdings, auch dem Wert und der
Schönheit des Beftehenden auf feiner Stufe Gerechtigkeit
widerfahren zu laffen (S. 113 fi). Aber für ihn felbft ift
doch das Ende der Bruch mit dem Amt. Selten ift,
was gegen Kirche und Amt vom Standpunkt individuellen
religiöfen Lebens und Wirkens gefagt werden kann,
fo ruhig und doch wuchtig, fo aus der Tiefe heraus und
mit fo energifcher Befchränkung auf das Zentralproblem
gefagt worden, wie hier. Trotzdem bleiben die Ausführungen
einfeitig, z. T. fogar fehr einfeitig. Auch die
pofitive Würdigung der Kirche hebt diefe Einfeitigkeit
nicht auf, um fo weniger, als der nach diefer Würdigung
faft überrafchende Rücktritt vom Amt ihre Wirkung
ftark abfehwächt. Trotzdem möchte ich das Buch jedem
ernften jungen Theologen zur Lektüre empfehlen; denn
keinem von ihnen darf die große, fchwere Frage, um
die es fich hier handelt, fremd bleiben; jeder muß ihr