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Ausgabe:

1912 Nr. 6

Spalte:

184-186

Autor/Hrsg.:

Kirchner, Friedrich

Titel/Untertitel:

Geschichte der Philosophie von Thales bis zur Gegenwart. 4. Aufl., bearb. v. Georg Runze 1912

Rezensent:

Kowalewski, Arnold

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Theologifche Literaturzeitung 1912 Nr. 6.

184

gekrönte Preisfchrift. (VII, 152 S. m. 1 Bildnis). Lex. 8°.
Leipzig, M. Heinfius Nachf. 1909. M. 4.25

Die Schrift H.s zeigt das feine tiefgehende Verftänd-
nis des begeifterten Schülers für den verehrten und geliebten
Meifter und bietet in ihrem Hauptteil eine fehr gute
und klare Orientierung über R. Rothes Lehre von der
Kirche.

Um der Fülle der R.fchen Gedanken beizukommen,
hat Vf. die verfchiedenen ,Wurzeln' diefer Gedankenbildung
aufzuweifen verfucht. Als letzte Wurzel erfcheint
R.'s Perfönlichkeit mit ihrer Anlage zu einer von pleni-
potentem Gottesglauben getragenen Spekulation. Als
einzelne Wurzeln werden dann herausgeftellt die zeitge-
fchichtliche, die fpekulative, die moralifche, die religiöfe,
die chriftliche, die biblifche, die katholifch-ldrchliche und
die proteftantifche. Schon die Überfchriften zeigen, daß
die nebeneinandergeftellten Größen nicht gleichartig und
gleichwertig find: es handelt fich bald um Einflüffe, unter
denen Rothe ftand, bald um den Grundgedanken und um
Stücke feines fpekulativen Syftems, bald um den gefchicht-
lich gegebenen Stoff, mit dem er fich befchäftigt. Aber
dem praktifchen Zweck, R.s Gedankenfülle durchfichtig
und verftändlich zufammenzufaffen, ift die gewählte Einteilung
durchaus förderlich gewefen. Man kann durch H.'s
Darfteilung R. wirklich verftehen und verehren lernen.
Da es fich hier nicht um eine Kritik der Gedanken R.s
felbft, fondern um die Frage nach der richtigen Wiedergabe
diefer Gedanken handelt, ift zu diefem f. Teil der
Arbeit — Die Darfteilung der R.fchen Lehre — nur zu
bemerken, daß er in allem Wefentlichen fehr gut gelungen
ift.

Auch über den 2. Abfchnitt, der unter dem Titel:
,Der Gehalt der Lehre R.s von der Kirche', eine (aus-
fchließlich pofitive; die Kritik wird hier noch ganz beifeite
gelaffen) Würdigung des von R. mit feiner Lehre
von der Kirche dauernd Geleifteten verfucht, kann man
im allgemeinen günftig und zuftimmend urteilen. Man
beachte die fchöne Zufpitzung der Bedeutung diefer Lehre
auf S. 80. Aber fchon in diefem Abfchnitt drängt fich
ab und zu ein Zug hervor, der im 3. Abfchnitt: Folgerungen
der Lehre R.s von der Kirche' (mit einem Unterteil
: Der evangelifche Klerus auf Grund der Prinzipien R.s)
vollftändig zur Herrfchaft kommt und feine Wirkung fehr
beeinträchtigt: daß Vf. die ihn perfönlich beherrfchenden
Anflehten und Stimmungen zum Schaden der zielftrebigen
Gefchloffenheit des Gedankengangs zu fehr ausftrömen
läßt. Schon die Anlage des letzten Abfchnittes, in dem
mit den Anflehten des Vf. noch reichliche Zitate (z. T.
fehr wertvolle) aus R.s Schriften bunt fich mifchen, ift
nicht glücklich, man weiß manchmal nicht, ob H. oder R.
felber fpricht. Und dann ift es doch mißftändig, daß die
Kritik des Vf. an R's Lehre erft ganz gegen das Ende
des Buches und zwar- zunächft gelegentlich der Behandlung
der ihm (H.) befonders naheliegenden Probleme der
Miffion und der allgemeinen Religionswiffenfchaft einfetzt.
Unter dem zu perfönlichen ftimmungsmäßigen Charakter
der vom Vf. ausgefprochenen Anflehten und Urteile leidet
dafln aber auch ihre Überzeugungskraft, und das ift fchade;
denn vieles ,ift fcharf gefehen und richtig eingefchätzt.
Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden; ich
will nur zuftimmend den R. gegenüber kritifchen Satz H.s
unterftreichen:,Daß die Form der chriftlichen Gemeinfchaft
entweder die Kirche oder der Staat fein müffe, ift nur
dann richtig, wenn man beide in der von R. beftimmten
begrifflichen Schärfe . . . faßt. Die wirkliche eine
allgemeine chriftliche religiöfe Gemeinfchaft ift weder
Kirche noch Staat' (S. 123). Im allgemeinen meine ich,
daß die zeitgefchichtliche (kulturgefchichtliche und
philofophifche) Bedingtheit der Lehre R.s ftärker als für
ihre charakteriftifchen Züge wefentlich hätte betont werden
follen. Was an Kritik der Lehre dann auch bei einem
fo begeifterten Verehrer R.s, wie Vf. einer ift, kommen

mußte, wäre fo viel harmonifcher eingeführt worden,
während jetzt dem hohen Lobpreis nicht nur der Gedanken-
arbeit R.s, fondern feinen Gedanken felbft die, wie fchon
der angeführte Satz zeigt, doch recht einfehneidende Kritik
ziemlich unvermittelt nachfolgt. Alles in allem, ein Buch,
das verdient, gelefen und beachtet zu werden.

Friedberg i. H. K. Eger.

Kirchner, Friedrich: Gefchichte der Philofophie von Thaies
bis zur Gegenwart. 4. Auflage, bearb. von Prof. Georg
Runze. (VIII, 500 S.) kl. 8°. Leipzig, J. J. Weber,
1911. Geb. M. 4.50

Runze hat fich durch die vorliegende Neubearbeitung
des Kirchner'fchen Kompendiums alle philofophifch inter-
| effierten Gebildeten zum größten Danke verpflichtet. Trotz
I des befchränkten Raumes ift die Darftellung keineswegs
j fchematifch gehalten. Sie bietet vielmehr eine reiche
Fülle von Details, darunter fogar manches, was man in
größeren Werken vergebens fucht. Eine liebenswürdige
Eigenheit ift u. a. das Bemühen, die philofophifchen
Niederfchläge in der fchönen Literatur zu berückfichtigen.
Der gewaltige Stoff wird fymmetrifch in drei Perioden
mit je drei Unterperioden abgeteilt. Die erfte Periode
; (Altertum) ift mit dem Stichwort ,Naturalismus' charakte-
rifiert. Zunächft kommen ,die Anfänge hellenifcher Philo-
! fophie' zur Sprache, die von Thaies bis zu den Atomiften
reichen (S. 11—50). Dann folgt die ,klaffifche Zeit des
Hellenismus', die die Sophiften einleiten und die Epikureer
abfchließen. Diefer Unterperiode ift natürlich ein befonders
großer Raum gewidmet (S. 51—148). Piaton
und Ariftoteles werden dabei am ausführlichften behan-
! delt, auch nach der literarhiftorifchen Seite hin. Als
letzte Unterperiode des Altertums gilt die ,Zerfetzung
der hellenifchen Philofophie', die in den Skeptikern,
Eklektikern und Alexandrinern zu Tage tritt (S. 148—163).
Die zweite Periode (Mittelalter) führt das Stichwort
,Theologie'. Ihre erfte Unterperiode wird als Synkretismus
und Supranaturalismus' bezeichnet. Sie umfaßt nicht
etwa bloß die Denkverfuche der chriftlichen Gnoftiker,
Apologeten und Kirchenväter, fondern auch die theofo-
phifche Spekulation Philons, den Neupythagoreismus und
Neuplatonismus (S. 164—216). ,Scholaftik und Myftik'
bilden die zweite Unterperiode (S. 216—243) des Mittel-
j alters ,und der ,Renaiffance' fällt die Rolle der dritten
Unterperiode zu (S. 243—257), Die dritte Hauptperiode
(Neuzeit) ift mit dem Stichwort ,Univerfalismus' ausgezeichnet
. Die Darftellung diefer Periode wiegt an Um-
j fang faft die der beiden voraufgehenden Perioden zu-
I fammen auf. Hier haben wir folgende Unterperioden:
I a) Dogmatismus und Empirismus' (S. 258—336), b) ,Kriti-
j zismus und Idealismus' (S. 336—399), c) .Realismus
und Pofitivismus' (S. 399—493)- Diefe fchöne fym-
metrifche Gliederung dürfte aber nicht in allen Teilen
einwandsfrei fein. Schon rein äußerliche Gründe verbieten
es, die Neupythagoreer und die Neuplatoniker aus der
Periode des Altertums herauszulöfen und dem Mittelalter
einzuverleiben. Denn diefe Denkverfuche haben offen-
fichtlich den Charakter von Abfchlüffen antiker Ent-
wickelungsknien. Ihnen fehlt die Berückfichtigung des
chriftlichen Geithes, der nun einmal das Mittelalter kennzeichnet
. Philon hat zwar eine formale Verwandtfchaft
mit den chriftlichen Philofophen, die die Religions-
unkunden zur Autorität für alles Denken machten. Aber
er erlebte nicht einmal die Entftehung der wichtigften
neuteftamentlichen Bücher, gefchweige denn deren dog-
i matifche Ausgeftaltung in der Kirche. Seine Autorität war
natürlich das Alte Teftament. Philon paßt daher gleichfalls
nicht in den Rahmen des eigentlichen Mittelalters.

Noch entfehiedener muß die Einordnung der ,Re-
naiffance' beanftandet werden. Die Renaiffancephilofophen
haben doch ein ganz anderes Naturell als die mehr oder