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Ausgabe:

1911 Nr. 5

Spalte:

148-149

Autor/Hrsg.:

Murri, Romolo

Titel/Untertitel:

Das christliche Leben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. 2. Aufl 1911

Rezensent:

Hoensbroech, Paul

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147 Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 5. 148

bedingt und wirken pofitiv fördernd auf fie zurück. Ob
man fie auch chriftlich nennen darf, diefe Frage läßt fich
jedenfalls nicht ohne weiteres durch Aners Definition
des Chriftentums entfcheiden; fie mündet in eine Unter-
fuchung über das Wefen des Chriftentums. — Noch fei
eine kurze oratio pro domo geftattet: der Satz meiner
neueren Kirchengefchichte, gegen den Aner fich Seite 2
wendet, gewinnt feinen Sinn erft, wenn man ihn in feine
Zufammenhänge hineinftellt. Der einheitliche Grundcharakter
von G.s Religiofität und ihr Spannungsverhältnis
zum ,hiftorifchen Chriftentum' flehen auch mir im Vordergrunde
; daneben muß ich freilich feilhalten, daß die
von Aner anerkannten .Nuancen' der Grundftimmung die
dort angedeutete Entwicklung konftituieren.

Die andere Schrift erhebt nicht den Anfpruch auf
eine befondere wiffenfchaftliche Methode. Jaeger gibt
feinen Vortrag als eine Einladung, fich in die bekannten
größeren Arbeiten über G.s Religion (Seil, Eck, Baumgarten
u. a.) zu vertiefen. In feffelnder, fortreißender
Sprache und überfichtlicher Gliederung, mit feiner Kunft
der Einfühlung entwirft er ein Bild, das des Lefers Herz
erfreut, erwärmt und begeiftert. Gefchickt (zumal vor
feiner ausländifchen Hörerfchaft) knüpft er an Carlyles
Dankbarkeit gegen den großen Meifter an, der ihm den
Weg der Weltüberlegenheit gezeigt hatte. In den Mittelpunkt
ftellt er das Motiv der Ehrfurcht, der Ehrfurcht
vor Natur und Gefchichte, vor dem Geheimnis des Weltalls
und feiner großen Menfchen, vor der eigenen lebendigen
Seele und den Seelen der Weggenoffen. Dazu
tritt der Glaube an die heilige Macht des Guten, die fich
fchon auf Erden denen enthüllt, ,die wirken für andere
und ihnen helfen auf dem Wege aufwärts durch Sorge
und Dunkel'.

Hat Jäger den Ton für einen folchen Vortrag wohl
beffer getroffen, fo bietet dafür Bornhaufen mit feinen
beträchtlichen Anforderungen an die geiftige Arbeit des
Lefers mehr Originales. Seine Schrift, in der des Dichters
ethifches Pathos fich ebenfo kraftvoll wie anziehend
auswirkt, fkizziert zunächft Schillers religiöfes Denken
in feiner Entwicklung von der Kindheit zur Mannesreife,
dann die religiöfe Wirkung, die Sch.s Gedanken, Poefie
und Perfönlichkeit auf uns ausüben. Gerade diefe Betrachtung
von zwei Standpunkten aus erweift fich ungemein
fruchtbar. Im einzelnen ift befonders intereffant
die Stellung, die Sch.s Gedanken über die Religion im
Zufammenhang feiner Philofophie erhalten. Sch. wertet
die Religion als Helferin, fofern die Erhabenheit des
felbftändigen Charakters nicht auf rein äfthetifchem Wege
zu behaupten ift, und fofern das religiöfe Gefühl die
Überwindung des kategorifchen Imperativs oder die Er-
fetzung des ftrengen Sittengebots durch freie, fchöne
Neigung bedeutet (S. 11 f.). Zweifellos ift die Skizze fehr
dankenswert; man muß wünfchen, daß Bornhaufen ihre
Eindruckskraft bald durch eine monographifche Darfteilung
erhöht. Aber dabei dürfte doch der Hinweis nicht
fehlen, daß folche Gedanken nicht die Seele, fondern
einen relativ äußerlichen, ja gelegentlichen Hilfspfeiler
an dem in fich gefchloffenen Bau von Sch.s äfthetifch-
ethifcher Philofophie bilden, und daß diefer Bau eben
das furrogativ leiften will, was normaler Weife aus dem
Chriftentum als eine feiner edelften Früchte erwächft.

Auf Aners Frageftellung nehmen die kurzen Vorträge
keine Rückficht. Eine Erinnerung daran wäre trotz
aller Knappheit nützlich gewefen. Bornhaufen fetzt Sch.s
hochgefpannten fittlichen Idealismus etwas gar zu rafch
mit Frömmigkeit (.unbewußtes Chriftentum' S. 15), und
Jaeger G.s Frömmigkeit mit Chriftentum gleich.

Marburg a. d. L. H. Stephan.

Schleiermacher der Philofoph des Glaubens. Sechs Auf-
fätze. Ernft Troeltfch, Schleiermacher und die
Kirche. — Arthur Titius, Schleiermacher und Kant.—
Paul Natorp, Schleiermacher und die Volkserziehung
. — Paul Henfel, Die neue Güterlehre. —
Samuel Eck, Die neue Moral. — Martin Rade,
Schleiermacher als Politiker, und ein Vorwort von
Friedrich Naumann. Berlin-Schöneberg, Buchverlag
der „Hilfe" 1910. (151 S. m. 1 Bildnis.) 8° M. 2.50

Das Buch gehört einer Serie: ,Moderne Philofophie'
an. Nicht die Philofophie Schleiermacher's, aber allerdings
die Hauptpunkte feiner Philofophie kommen zu
lebendiger Darftellung. Auch wer Schi, fchon kennt,
wird vieles hier in neuer Beleuchtung fehen. Daß die
vom Verlag angeftrebte Gemeinverftändlichkeit bei den
fünf erften Auffätzen nicht voll erreicht ift, entfchuldigt
der Gegenftand. Rade hat, da er nur entweder Schl.'s
politifche Theorie oder feine politifche Tätigkeit genauer
darfteilen konnte, fich m. E. mit recht für letzteres ent-
fchieden; zum Bilde des Idealismus jener Tage gehört
fein Anteil am Siege 1813 und feine Knebelung durch
die nachherige Reaktion. Natorp fchreibt über Schi,
und die Volkserziehung; möchte der Zweck erreicht
werden, die Lehrer für Schi, zu intereffieren. Mit N.
halte ich Schl.'s Gedanke für richtig, der Staat folle die
Wiffenfchaft nicht inhaltlich beeinfluffen; ich kann dagegen
nicht, wie er, Schl.'s Idee einer vom Staat wefent-
lich unabhängigen Organifation der Wiffenfchaft zuftimmen,
und halte N.'s Formel, daß die Schule in Erziehungsfragen
das erfte Wort haben folle, für irreführend, denn
fie wird gemeinhin verftanden werden im Sinne einer
Hierarchie der Fachleute. Eck über Schl.'s Moral und
Henfel über Schl.'s Güterlehre ergänzen fich gut, erfterer
fchildert hiftorifch-anfchaulich, letzterer gibt einen Quer-
fchnitt der Theorie Schl.'s. In Titius' Darftellung des
Verhältniffes Schl.'s zu Kant tritt deutlich hervor, wie
Kants und Fichtes Philofophie Vorausfetzung fchon der
rhapfodifch gehaltenen Jugendwerke Schl.'s find, T r o e 11 fc h
(Schi, und die Kirche) zeigt auf dem Hintergrund der
äußeren und inneren Schwierigkeiten, in die die Kirchen
durch die moderne Kulturentwicklung hineingeraten find,
welche Bedeutung Schl.'s Kirchenbegriff und kirchen-
politifche Ideen für die Gegenwart haben. —

S. 88 Z. 15 L Verfchiedene ft. unentfchiedene, S. 89 Z. 4 v. u. Normen
ft. Namen, S. 96 Z. 15 v. u. gehört das Komma nicht hinter Mannigfaltigkeit
, fondern hinter Organe, S. 47 Z. 14 lies: nur in ruhender Größe als,
ft. nur Ruhende Größe, als . . .

Halle a. S. H. Mulert.

Murri, Romolo: Das chriltliche Leben zu Beginn des zwan-
zigften Jahrhunderts. (Kämpfe von heute.) 2. Auflage.
Autorifierte Überfetzung aus dem Italienifchen. Jena,
E. Diederichs 1910. (VIII, 279 S.) M. 5 —; geb. M. 6 —

Der temperamentvolle italienifche Modernift — ift
übrigens Murri wirklich Modernift im Sinne der Enzyklika
Pascendi? — behandelt in 19 Effais ,Das chriftliche
Leben' Italiens der Jetztzeit. Man lieft den hübfch aus-
geftatteten Band mit Intereffe (die Verdeutfchung bereitet
allerdings keine reine Freude). Murri fchreibt geift-
reich, voll Sachkenntnis, lebendig und aus dem Leben
heraus. Das fühlt man, auch ohne alle Einzelheiten des
italienifchen chriftlichen Lebens aus eigener Anfchauung
zu kennen. Sein Buch vermittelt, zumal Nichtkatholiken,
wertvolle Einblicke in die verfchiedenften Verhältniffe
des italienifchen Katholizismus, verbunden mit einer
fcharfen, aber in der Form maßvollen Kritik. So ift die
Lefung des Buches fehr zu empfehlen. Erftmalig er-
fchien es im Anfange des Jahres 1901; die erfte deutfche
Ausgabe 1908, jetzt 1910 die zweite. Murri hat das
Buch unverändert wieder hinausgehen laffen. Wer aber