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Ausgabe:

1911 Nr. 5

Spalte:

140-141

Autor/Hrsg.:

Wieland, Franz

Titel/Untertitel:

Der vorirenäische Opferbegriff 1911

Rezensent:

Drews, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 5.

140

zur Sache nötig, weil er den Weg angibt, auf dem
Steudel — und nicht er allein — zu feiner Konftruktion
des Urchriftentums gelangt ift, und weil diefer Teil darum
als charakteriftifch für die ganze Bewegung gelten darf.
Glücklicherweife fehlt dem Abfchnitt ein anderes, fonft
leider fehr bezeichnendes Merkmal der ganzen Diskuffion:
die unkritifche Benutzung religionsgefchichtlichen Materials
. Vielmehr find es zwei neuteftamentliche Probleme
, auf die Steudel feine Hörer und Lefer als Ausgangspunkte
feines Gedankengangs verweift: die /Diskrepanz
zwifchen Evangelien und Briefliteratur' (S. 18
bis 30) und der Charakter der Evangelien (S. 30—59).
Was diefen letzteren Punkt angeht, To fcheint St. eine
literarifche Würdigung, die über die gewiß notwendige
Literarkritik hinausgeht, nicht zu kennen. Sonft könnte
er nicht wie ein Rationalift von ehemals von dem
Wundercharakter der Evangelien fprechen (S. 35 ff.),
weil es einen folchen einheitlichen Wundercharakter der
Ew. nicht gibt. Wie feit Leffings Dramaturgie kein
Menfch mehr den Schatten des Ninus bei Voltaire und
den Geift des alten Hamlet in diefelbe älthetifche Kategorie
bringen wird, weil beide ,Gefpenfter' find, fo follte
man wirklich die evangelifchen Heilungsberichte und die
Novellen von Speifung und Seewandeln bei ftiliftifcher
Beurteilung nicht mehr als,Wunder'neben einander ftellen.
Man achte doch darauf, in welcher Abficht erzählt und
wie die Pointe gebracht wird, ob das Wunderhafte im
Zentrum oder an der Peripherie liegt, und vor allem welche
Gefchichten auch von dem antiken Lefer als ,wunder-
haft' empfunden wurden. Die Notwendigkeit folcher
Unterfuchungen, die freilich in der Theologie nur ganz
gelegentlich anerkannt wird, ergibt fich aus der Tatfache,
daß die Synoptiker Sammelgut von verfchiedener lite-
rarifcher und hiftorifcher Art enthalten. Aber auch diefe
Tatfache kommt bei St. nicht zu ihrem Recht. Man ftelle
fich den vorliterarifchen Werdegang der Evangelien vor
Augen: Gefchichte — Gefchichtengruppe mit ftcreotypen
Verbindungsgliedern — evangelifche Erzählung, in der
die Lücken durch Reflexionen und altteflamentliche
Reminiszenzen ausgefüllt find. Dann wird man nicht
wie St. von den Unftimmigkeiten der Leidensgefchichte
aus auf die Ungefchichtlichkeit jeder Perikope in diefem
Teil der Evangelien fchlitßen. Gewiß enthält der Aufriß
der Leidensgefchichte, die Darftellung des Prozeffes
Jefu, wohl auch die Datierung des Todes gefchichtlich
Unwahrfcheinliches; aber die Abendmahls- und die Ver-
leugnungsgefchichte waren eher als der z. T. mit alt-
teftamentlichem Material geftützte Aufbau der .Leidenswoche
'. St. befiätigt mit feiner Behandlung diefer Dinge
nur den Vorwurf, den Joh. Weiß den Gegnern macht:
fie könnten nicht lefen. Charakterifcherweife fagt St.,
als er diefen Vorwurf feinem Urheber zurückgibt: ,wer
je kritifch lefen gelernt hat' (S. 34). St. hat eben nur
das kritifche Lefen gelernt, eine unentbehrliche Technik,
die aber die Kunft, nachfühlend zu lefen und fo dem
antiken Empfinden nahe zu kommen, nicht erfi-tzt. Und
wer diefe Kunft nicht verfteht, wird die urchriftlichen
Schriften immer nur mit den Augen des Modernen lefen,
fie an modernem Schrifttum beurteilen und in der eigenartigen
Welt, in der fie geworden find, immer ein Fremder
bleiben. Für ihn find Interpolationshypothefen die einzige
Rettung; ihm erfcheint die Kluft zwifchen Evangelien
und Briefliteratur unüberbrückbar groß. Eine
Diskrepanz exifliert da in der Tat; wer über fie ge-
fliffentlich hinwegfehen will, liefert dem Gegner nur neue
Waffen. Aber diefe Diskrepanz erklärt fich zum Teil
aus dem individuellen Charakter der Autoren (Paulus!),
z. T. aus dem literarifchen Charakter der Schriftftücke
(Brief, Epiftel, Evangelium). Manches dabei noch unge-
löft bleibende Problem ftellt unfere Wiffenfchaft immer
wieder vor neue Aufgaben; generell aber, in der Art,
wie St. es vorfchlägt, werden diefe fich kaum löfen laffen.
St. meint, der Glaube an den (mit dem leidenden Gottesknecht
identifchen) Meffias als Erlöfergottheit habe ein
,ffofflich .... aus altteftamentlicher Weisfagung ge-
fchöpftes Erlöfungsdrama des leidenden und fterbenden
Meffias' gebildet (S. 73 ff). Hätten wir dann nicht als
erftes Produkt folchen Prozeffes eine Dichtung etwa von
der literarifchen Art des vierten Evangeliums zu erwarten?
Und müßten wir nicht die Synoptiker als Vergröberungen
jener Erlöferdichtung anfehn? Und wie flimmt folche
Konftruktion der urchriftlichen Literaturgefchichte zu
dem Quellenbefund?

Diefe letzte Frage ift es, die m. E. den fchwerften
Einwand gegen die ,Chriftusmythe' überhaupt enthält.
Ohne Hypothefen gibt es gewiß keine Gefchichte, zumal
des Altertums. Aber ebenfowenig wie die kon-
ftruktiven Aufgaben darf die Hiftorie ihre philologifchen
Pflichten vernachläffigen: wer das Zeugnis der Quellen
als unhiftorüch verwirft, hat trotzdem diefe Quellen in
forgfältiger Kleinarbeit literarifch zu würdigen — fie
beffer zu würdigen, als es St. getan hat. So habe ich
den Eindruck, daß das letzte Wort in diefen Fragen
eine Interpretation der Texte zu fprechen hat, die beides
verfteht: kritifches Nachprüfen und künftlerifches Nachempfinden
.

Berlin. Martin Dibelius.

Wieland, Subreg. Dr. Franz: Der vorirenäifche Opferbegriff.

(Veröffentlichungen aus dem kirchenhiftorifchen Seminar
München. III. Reihe, Nr. 6.) München, J. J. Lentner
1909. (XXVIII, 234 S.) gr. 8« M. 3 —

Im Jahre 1906 ließ der Subregens in Dillingen,
Dr. Franz Wieland, ,Studien über den Altar der altchrift-
lichen Liturgie' unter dem Titel: ,Mensa und Confessio'
erfcheinen. Über diefe Schrift hat A. Harnack in diefer
Zeitung 1906, Sp. 627 berichtet. Er begrüßte fie auf das
lebhaftefte ,als eine mufterhafte Unterfuchung'. ,Die
Methode unbefangener und reiner Beobachtung', fo fchrieb
Harnack, ,macht immer ficherere Fortfehritte: das ift
eine erquickende Erfahrung in der Gegenwart, die für
viele Widrigkeiten entfehädigt'. Auch in feiner Kaifer-
geburtstagsrede von 1907 erwähnte Harnack jene Schrift
fehr anerkennend. In der Tat, fie verdient volles Lob.
Aber auf katholifcher Seite wurde begreiflicherweife die
Schrift mit gerade entgegengefetzten Empfindungen aufgenommen
. Sie erregte geradezu Auffehen. Neben anderen
— unter ihnen z. B. Dr. Struckmann (in Dortmund), der
W.s Buch in der .Theologifchen Revue' vom 24. Dezember
1907 ziemlich fcharf angegriffen hatte, — trat vor allem der
Jefuit Emil Dorfch in Innsbruck als heftigfter Gegner W.s
auf den Plan. Gerade Harnacks Empfehlung wurde zur
Verdächtigung W.s ausgenutzt: Die Anklage lautete auf
Härefie und Modernismus. Gegen diefe in der Zeitfchrift
f. kathol. Theologie XXXII (1906), S. 3076". vorgetragenen
Anfchuldigungen, die ihr Recht auch durch fachliche
Widerlegungen der Aufhellungen W.s erbringen wollten,
antwortete W. in einem Büchlein: ,Die Schrift Mensa und
Confessio und P. Emil Dorfch S. J. in Innsbruck. Eine
Antwort' (München 1908; 113 S. nebft Anhang). Dorfch
fetzte den Kampf fort, nunmehr auch die Buchform
wählend: ,Der Opfercharakter der Euchariftie einft und
jetzt' (Innsbruck 1909), worin er den — allerdings völlig
ausfichtslofen — Beweis dafür anzutreten verfuchte, daß
der heutige katholifche Opfergedanke bereits der urchriftlichen
Euchariftie eigen gewefen fei. Diefe Thefe
zu widerlegen, fchrieb nun W. das obengenannte Buch.
Er hält darin feine anfänglichen Thefen völlig aufrecht,
glaubt aber auch erweifen zu können, daß diefer von
ihm in der Urchriftenheit nachgewiefene Opferbegriff
,auch heute noch fich mit dem, was wirklich von der
Kirche als geoffenbart über das Meßopfer gelehrt werde,
fehr wohl vereinigen laffe, ja beffer als jede aus dem
Dutzend verfchiedener, fich gegenfeitig aufhebender Meß-