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Ausgabe: | 1911 Nr. 4 |
Spalte: | 121-122 |
Autor/Hrsg.: | Waitz, Eberhard |
Titel/Untertitel: | Gottesstunden. Predigten 1911 |
Rezensent: | Achelis, Ernst Christian |
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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 4.
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Waitz,Paft. Eberhard: Gottesltunden. Predigten. Hannover,
Hahn 1910. (III, 171 S.) 8° Geb. M. 6 —
OhneVorrede oder Geleitswort bieten die 18 Predigten
vonWaitz fich an. Sie follen felbtt für fich fprechen, ihr
Inhalt ioll ihre Rechtfertigung und Empfehlung fein. Ein
Großftadtprediger ftellt fich vor, der ein Recht hat, Gehör
zu fordern und in feiner perfönlichen Gabe gewürdigt zu
werden. DerVerfaffer betont öfter die Lehraufgabe des
Predigers. Allein didaktifcher Art find feine Reden nicht.
Förderung der Schriftkenntnis tritt nicht hervor. Auf
forgfältige und tiefgrabende Exegefe legt er keinen Wert,
fo künftlerifch fchön manchmal die Situationsmalerei (be-
fonders in der Weihnachtspredigt) uns anmutet. Meift
geht er rafch auf die praktifche Verwertung und Anwendung
über, und nach der Verwertung richtet fich
auch der homiletifche, nicht feiten vernachläffigte, Aufbau
. In der Verwertung und Anwendung liegt feine
Starke, in der vielfcitigen und eindringenden Reflexion,
die er in feinfinniger Seelen- und Lebenskenntnis, in
einem hochgebildeten für Poefie und Mufik aufge-
fchloffenen Gemüt mit inniger religiöfer Wärme in
rafcher Folge der Gedanken fich ergehen läßt. Gleichwohl
ift er der Individualifierung, der Beleuchtung ver-
fchiedener Perfonen und Verhältniffe durch denfelben
Gedanken, nicht abhold, und durch die maßvoll und
zartfinnig verwendete Kunft der Illuftration weiß er das
Intereffe zu beleben und in oft überrafchender Weife
den Gedanken zu veranfchaulichen.
Es kann ihm freilich begegnen, daß er diefelbe Anekdote wiederholt
(S. 43 und 65) und fogar einen Talleyrand als religiöfe Autorität
einfuhrt. Auch fonft fehlt es nicht an kleinen Entgleifungen; in der
Schillerpredigt (S. 58 f.) heißt es, Sch. könne uns zwar zu Chriftus
führen, aber nur Chriftus zu Gott, — als ob wir zu Chriftus kommen
könnten, ohne zu Gott zu kommen (vgl. 3. Artikel), — und S. 166 ift es
der Prediger, der die Gemeinde zu Gott fuhrt; nach 1. Pt. 4, 8—11 ift
S. 78 Petrus der Pfingftglöckner, S. 80 dagegen ift es ,der Geift der Wahrheit
'; in der Karfreitagspredigt (Nr. 5) flehen die Frauen am Kreuze
Jefu ,ftarr und ftumm in ihrem Schmerz' und halten fo eine ,fülle Andacht
'. Auch das komifche Mißverfländnis S. 130 f. fei erwähnt; da heißt
es: ,Es ift auch eine abergläubifche Redensart, welche von der Spinne
tagt: .Spinne am Morgen, Kummer und Sorgen, Spinne am Abend,
lieblich und labend'. Eine liebliche und labende Spinne hat der Verf.
fchwerlich je gefehen. Nicht von der Spinne ift die Rede, fondern vom
Spinnen. Nur fehr arme Leute, voll Kummer und Sorgen, fpinnen am
Morgen; aber wenn am Abend im trauten Verein die Spinnräder fchnurren,
fo ift das lieblich und labend, und Aberglaube ift nicht dabei.
Eine hervorftechende Eigentümlichkeit der Predigten
ift ferner — wir haben keinen andern Ausdruck — die
darin fich kundgebende Kritiklofigkeit. Für biblifche
Kritik ift freilich die Predigt nicht der Ort; allein für
denkende Hörer würde doch eine kurze kritifche Ordnung
der Pfingftgefchichte von weit größerem Werte
fein, als das verworrene Bild der Ereigniffe, das S. 89
der Gemeinde geboten wird. Auf mangelnde Selbft-
kritik weift auch die tändelnde Partition der beiden
Predigten über Mt. 5, 1—10 hin, in denen der Gemeinde
ein Armenhaus, ein Trauerhaus, ein herrfchaftlicb.es
Schloß, ein Verpflegungshaus, ein Haus der Barmherzigkeit
, eine Kirche, ein Familienhaus und eine Burg vorgeführt
wird. Mangel an hiftorifcher Kritik zeigt der
überfchwängliche Dithyrambus auf Paul Gerhardt und fein
Lied: O Haupt voll Blut und Wunden (Nr. 4). In einer
langen Rede wird P. G. apoftrophiert, fein ja in der Tat
unvergleichliches Paffionslied wird als höchfter Ausdruck
evangelifcher Frömmigkeit in Anfpruch genommen, aber
der Einfchlag mittelalterlicher Frömmigkeit in der anempfindenden
Bindung wahrer religiöfer Gedanken an
das örtlich und zeitlich Bedingte des Kreuzes Jefu wird
verkannt. Er felbft wird als Märtyrer ungerechtefter
Vergewaltigung gefeiert und der Gemeinde wird erzählt,
er fei abgefetzt worden wegen Gehorfamsverweigerung
gegen des Kurfürften Gebot an die lutherifchen Geift-
lichen, gegen die Reformierten zu predigen, während
doch der Kurfürft nur den Nominal-Elenchus, das Be-
fchimpfen der auf der Kanzel mit Namen genannten
Reformierten, berechtigter Weife verboten hatte. Die
faft fchwärmerifche Freude an der Poefie verleitet den
Verfaffer, die Ofterpredigt (!) mit dem Hinweis zu beginnen
, daß ,wir in 14 Tagen im Geift nach einem andern
Grabgewölbe pilgern werden, nach der Fürftengruft
in Weimar, wo unfere großen Dichterfürften ruhen', und
das Thema wird dem Gedichte Schillers ,An die Freunde'
entnommen: ,Der Lebende hat Recht'. Eine abfichtliche
Rhetorik drängt fich in der ganzen Predigt hervor; das
Thema wird unabläßig wiederholt, öfter ohne wahrnehmbare
Beziehung, und eine gereizte Stimmung ftört
befonders in der unmotivierten Polemik gegen die Leben-
Jefu-Forfchung die öfterliche Feier.
Ausdrücklich bezeichne ich diefe Entgleifungen als
fremdartige Züge, die zu dem Charakter der Predigten
nicht paffen. Charakteriftifch für die fchöne Gabe des
Predigers find die innig empfundene und zart ausgeführte
Weihnachtspredigt, die Cantate-Predigt, in der des Ver-
faffers kunftfinniges Gemüt erhebend zu wirken weiß, die
herrlichen Predigten: ,Des Chriften Abend' und ,Der
Morgen des Chriften'; auch die an Bitzius erinnernde
Predigt: ,Wozu die Turmuhr dem Chriften dient', gehört
in die Reihe unvergänglicher Perlen.
Für folche Perlen danken wir ihm; an ihrem füllen
fchönen Glänze werden wir uns oft erfreuen; in ihnen
vertritt der Verfaffer in dem Chor der Gegenwarts-
Prediger (nicht der .modernen') eine individuelle Note,
die wir nicht entbehren möchten.
Marburg. E. Chr. Achelis.
Mirbt, Geh. Konfift.-Rat Prof. D.: Die deutfeh-evangelifche
Diatpora im Auslande. Vortrag, auf der 23. General-
verfammlung des Evangelifchen Bundes in Chemnitz,
am 27. September 1910 gehalten. Halle, Verlag des
Ev. Bundes 1910. (20 S.) 8° M. —50
Diefer auf der letzten Hauptverfammlung des Ev.
Bundes in Chemnitz gehaltene Vortrag ift vorzüglich geeignet
, foweit es ein Vortrag kann, die befondere Lage
der deutfehen Auslandsgemeinden als eines befonderen
Arbeitsgebietes der deutfehen evangelifchen Chriftenheit
deutlich zu machen. Er weift darauf hin, daß fie von
Jahr zu Jahr größere Bedeutung gewinnen und unter
kirchlichem wie nationalem Gelichtspunkt tatkräftiges
Intereffe beanfpruchen dürfen. Nach kurzen gefchicht-
lichen Hinweifen fucht der Vortrag zunächft die Bedeutung
der deutfehen Auswanderung und die befonderen
Gefahren der Ausgewanderten klar zu machen, dann
fchildert er die Eigenart der Auslandsgemeinde und ihre
Unterfchiede von der Inlandsgemeinde, ihre Sorgen, Einrichtungen
und Arbeitskräfte, um daran die Notwendigkeit
der Unterftützung des evangelifchen Deutfchlands
hervorzuheben. Diefe Bedürfniffe werden im dritten Teil
im Einzelnen befchrieben und dazu wird jedesmal bemerkt
, was bislang zu ihrer Befriedigung gefchehen ift
und welche Wünfche noch unerfüllt find. Der Vortragende
fchließt mit dem Hinweis, daß es fich hier
um ein Stück Zukunft des deutfehen Proteftantismus
handelt und daß die Auslandsdiafpora den Beruf hat,
über die Grenzen Deutfchlands den evangelifchen Glauben
in germanifcher Faffung als einen maßgebenden
Faktor zur Geltung zu bringen, dem Chriftentum der
deutfehen Reformation neben dem Katholizismus und
dem anglikanifchen Proteftantismus den ihm zukommen-
Platz zu erobern und zu fichern.
Es ift ein Meifterftück, das nur bei umfaffendfter
Sachkenntnis gelingen konnte, auf fo knappem Raum
alle wichtigen Punkte hervorzuheben und in angenehm
lesbarer Form für den, der über die Bedeutung und Arbeit
der Auslandsdiafpora Auskunft hab en möchte, zu-
fammenzufaffen. Die Auslandsdiafpora darf fich zu einem
folchen Sachwalter bei folcher Gelegenheit beglück-