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Ausgabe:

1911 Nr. 4

Spalte:

119-120

Autor/Hrsg.:

Apelt, Ernst Friedrich

Titel/Untertitel:

Metaphysik. Neu hrsg. von Rudolf Otto 1911

Rezensent:

Weiß, G.

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 4.

120

Dogmas und dem Gilgamefch, liegt ein fehr breites Feld
.... Das Vaterunfer, die Bergpredigt und die köftlichen
Gleichniffe werden wohl für immer perfönlich bei Jefu
bleiben. Sie find zu fchön, um weniger zu fein als Erlebnis
, perfönlich erlebte Weisheit eines Heiligen, deffen
gleichen wir vergebens buchen'. ,Das Chriftentum ift
immer noch kein totes Wort, es hätte fonft den Bedeutungswandel
zum Sozialismus nicht erfahren können. In
einem lebendigen Wort fleckt außer dem Wortfchall
noch eine Fülle von Obertönen, die begrifflich und wort-
gefchichtlich kaum zu faffen find'. ,Man mag Anftoß
daran nehmen, daß ich in der ungeheuren Erfcheinung
des Chriftentums nur eine Gruppe von Worten, von
Lehnworten und Lehnüberfetzungen fehe . . . Ich weiß
recht gut, daß hinter allen Worten, die etwas Wirkliches
ausfprechen, noch etwas anderes fteckt, etwas Unaus-
fprechliches . . . Das objektive Chriftentum ift wirklich
nur eine Gruppe von Worten . . . Religion ift objektiv
das Verhältnis einer Gemeinfchaft, eines Volkes zu Gott;
nur daß wir anderen an diefen Gott nicht glauben. Subjektiv
ift Religion das Verhältnis zu feinem Gott, an den
der Einzelne, der der Einzige ift, etwa glaubt. Den er
erlebt hat'.

Bei den häufigen Erörterungen der Wechfelwirkung
zwifchen Vorftellungsbildung und Sprache hätte M.
manches überzeugender geftalten können, wenn er den
pfychologifchen, den logifchen und den ethifchen Faktor
deutlich unterfchieden hätte.

Die Terminologie glottopfychifch, glottologifch, glottoethifch, von
der fchon Eislers Wörterbuch Notiz nimmt, könnte vielleicht durch eine
treffendere deutfche erfetzt werden; entbehrlich ift fie nicht. Die Ent-
ftehung des Mythos und Volksaberglaubens, die Theogonie und die Anfänge
der kultifchen Religionsübung find naive fprachlich-pfychifche
Vorgänge. Die Gefchichte der Philofophie und des verftaudesmäßig
formulierten Dogmas ift der Tummelplatz eines halb ernften, halb fpielen-
den, oft bis zur Erfchöpfung, zur Abfurdität getriebenen Emanzipationskampfes
, den vernünftige Wahrheitsliebe wider die berückenden Mächte
der Wortbildlichkeit führen muß, in ftetem Wechfel zwifchen Sieg und
Niederlage, zeitweiliger Verföhnung und neuer Kampfesrüftung: bald das
neue Wort als ßundesgenoffe der Vernunft wider das alte, bald umgekehrt.
In diefem Labyrinth der Verwirrung zwifchen Wort- und Sachftreit hilft
nur die Glottologik zurecht, der lockendfte Reiz für den kritifchen
Erforfcher theoretifcher Wahrheiten. Den lauteren Ernft aber bringt
erft die bewußt-fittliche Handhabung der Sprache zur Geltung, unter dem
Zeichen der Pflicht, das Menfchenmögliche an Erkenntnis im Zufammen-
hange mit der Gefamtaufgabe der praktifchen Vernunft leiften zu
wollen. Auch hier ift es mit dem guten Willen allein nicht getan: der
Erkenntniswille, in feinem aktiven Beftreben, die Sprache korrekt, ehrlich,
zielbewußt zu handhaben, unterliegt felbft dem rückwirkenden Einfluß
der Sprache. Auch hier alfo, in der Glottoethik, eine Wechfelwirkung,
ein Kampf, der zur Verföhnung führen muß. Wenn wirklich die Sprachkritik
als höhere Sphäre gegenüber aller fonftigen Wiffenfchaft lieh durchfetzen
will, fb muß vor allem fie durch Ehrfurcht vor dem Recht und
der Macht der Sprache, durch ebenfo weife fehonende wie kühn wagende
Anwendung ihrer Mittel, durch Abftreifung alles unfprachlich-geiftigen
Souveränitätsdünkels fich legitimieren und in jeglicher Wiffenfchaft eine
nicht bloß reizvoll-ideale, fondern ernfte und heilige Aufgabe fehen.

Gr. Lichterfelde. Georg Runze.

Apelt, weil. Prof. Dr. Ernft Friedr.: Metaphyfik. Neu herausgegeben
von Rudolf Otto. Mit zwei lithographi-
fchen Tafeln. (Bibliothek der Gefamtliteratur Nr.
2195—2206.) Halle a. S., O. Hendel 1910. (S. a—q,
u. X, 772) kl. 8° M. 3—i geb. M. 3.45

in Gefchenkbd. M. 5 —

Da es augenfeheinlich gerade in der letzten Zeit den
Göttinger Neu-Friefianern gelungen ift, auch in der
Theologie allgemeineres Intereffe für die Philofophie
ihres Meifters zu erwecken, ift jetzt jedenfalls der geeignete
Zeitpunkt, um ein Buch wie Apelts Methaphyfik
(Urausgabe 1857) wieder neu herauszugeben. Die Metaphyfik
ift das reiffte Werk Apelts, der bekanntlich Fries'
bedeutendfter Schüler war, und fie verdient wegen der
ficheren und gefchickten Verarbeitung des Stoffes fowie
der überaus klaren, oft antithetifchen Schreibweife des

I Verfaffers als die befte Einführung in die Friesfche Philo-

i fophie bezeichnet zu werden.

Der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe, Prof.
Otto, hat ihr eine beachtenswerte Vorrede beigegeben,
in der er zunächft verfchiedene anerkennende Urteile
hervorragender Männer über Apelt zitiert, und dann

I gegen ein ziemlich verbreitetes, folgenreiches Mißverftändnis
der Fries-Apeltfchen Philofophie ankämpft: Die

I anthropologifche Methode diefer philofophifchen Richtung
löft nicht die Philofophie in Pfychologismus auf.
Denn nur die Auffuchung der metaphyfifchen Prinzipien
gefchieht mittelft der Selbftbeobachtung, alfo der
Pfychologie, die Ableitung diefer Prinzipien dagegen
aus dem Wefen der Vernunft ift ein rein erkenntnis-
kritifches Gefchäft. Allerdings hat Apelt nach Otto dies
Mißverftändnis dadurch nahegelegt, daß er nicht nur
die eben genannte Selbftbeobachtung, fondern auch das,
was man fonft unter Bewußt fein verlieht, fälfchlicher-
weife als ein Selbftbewußtfein auffaßte. Doch ift hinzuzufügen
, daß Apelt fonft nicht nur den Friesfchen Ausdruck
,anthropologifche Methode' vermeidet, fondern
auch tatfächlich alle feine pfychologifchen Unterfuchungen
aus der Vernunftkritik felbft möglich!! ausfeheidet und
fich mehr an die Art der Entwicklung in Kants Prole-

! gomena anfchließt. Das hierdurch wie durch andere Um-
ftändenahegelegte Mißverftändnis,als fei dieFries-Apeltfche
Philofophie eine geradlinige Fortbildung der Kantifchen
Philofophie, befeitigt Otto nun aber nicht, fondern befördert
es noch dadurch, daß er in feiner Vorrede Apelts
Metaphyfik geradezu für ,ein Handbuch' der Kantifchen
Philofophie erklärt, — was es nun doch nicht ift. Die
fehr wefentlichen Unterfchiede zwifchen Fries' und Kants
Erkenntnistheorie liegen nicht nur in der Methode, fon-

j dern haben ihren Hauptftützpunkt in Fries' Grundfatz
des Selbftvertrauens der Vernunft, und feiner Lehre von
der unmittelbaren Erkenntnis, und betreffen vor allem eine
prinzipielle Umbiegung der Lehre vom transzendentalen
Idealismus, insbefondere die objektive Gültigkeit der
transzendentalen Ideen. Die Übereinftimmung erftreckt fich
dagegen in der Hauptfache auf die metaphyfifchen Prin-

! zipien für die Naturwiffenfchaft und auf die Kritik der

! dogmatifchen Methaphyfik. Selbftverftändlich kennen

S fowohl Apelt wie Otto diefe Differenzen und fprechen
das auch aus, aber fie fuchen fie fall alle auf Anfätze und
Keime bei Kant felbft zurückzuführen, über deren Wert
oder deren Berechtigung innerhalb des Kantifchen
Syftems aber das Urteil fehr verfchieden ausfallen wird.

Im übrigen kann jedoch das Werk jedem, der fich
in Fries einarbeiten will, nur empfohlen werden. Sein

j Wert wird noch bedeutend erhöht und fein Studium er-

I heblich erleichtert durch die dankenswerten Beilagen und
Hülfsmittel, die Otto hinzugefügt hat. Es handelt fich
außer 1) der fchon erwähnten Vorrede von Otto, um
folgende Zutaten: 2) als Anhang eine Abhandlung aus
Apelts Kollegheften über ,Metaphyfifche Theologie', die
befonders religionsgefchichtlich intereffant ift, 3) fehr
inftruktive Anmerkungen, die außer vielen Zulätzen aus
den Kollegheften Apelts eigene erläuternde Bemerkungen
und Zitate aus andern Philofophen zum Vergleich bringen
, 4) eine genaue Inhaltsangabe jedes Paragraphen,

| 5) am Anfang jedes Kapitels fortlaufende Hinweife auf

I Kants Kritik d. r. V. u. d. Proleg. Schließlich hat 6) Dr.
Ungenannt, noch ein Namen- und Sachregifter hinzugefügt
, das freilich hie und da Lücken aufweht.

Die Seitenzählung ift erfreulicherweife genau diefelbe
wie in der Urausgabe. Das Papier ift reichlich durch-
läffig. Sonft ift die Ausftattung würdig und fchlicht; der
Preis ift niedrig bemeffen.

G.Weiß.