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Ausgabe:

1911 Nr. 4

Spalte:

117-119

Autor/Hrsg.:

Mauthner, Fritz

Titel/Untertitel:

Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Erster Band 1911

Rezensent:

Runze, Georg

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 4.

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und auf Grund ihrer Kenntnis der örtlichen Verhältniffe
einzugreifen, alfo z.B. reuig zur Kirche zurückkehrende vom
Delikte der Härefie und allen feinen Folgen losfprechen zu
dürfen, ein Recht, das eigentlich päpftliches Refervat ift.
Auch das Recht, Ehe- und Weihedispenfe zu erteilen,
wurde durch die Fakultäten übertragen. Die Übertragung
fand aber nur auf Zeit ftatt und mußte erneuert
werden. M. zeigt hier, wie in Weftdeutfchland, befonders
in Köln und Lüttich, fich fchon im 17. Jahrhundert eine
epifkopaliftifche Bewegung in dem Sinne geltend macht,
daß man dort verfucht, die in den Fakultäten auf Zeit
übertragenen Rechte auch ohne Erneuerung der Fakultäten
weiter auszuüben und fo die bifchötliche Machtftellung
zu verftärken. Noch bedeutendere Fakultäten erhalten
die Nuntien, welche feit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts
zu Führern der gegenreformatorifchen Bewegung
beftimmt find. Sie haben weitgehende Vifitations- und
Reformationsrechte, Gerichtsbarkeit und Abfolutionsbe-
fugniffe. Sowohl die bisher erwähnten Fakultäten der
Bilchöfe und Erzbifchöfe, wie die der Nuntien haben
ihre wefentliche Geftalt bereits vor 1622, vor dem Jahre,
in welchem die Propaganda ihr Werk begann, erhalten.
Es ift daher, wie M. noch im einzelnen nachweift, unrichtig
, die Fakultäten ganz zu einem Stücke des 1622
gefchaffenen Miffionsorganismus zu machen, vor dem fie
fchon beftanden hatten und in deffen Rahmen fie fich
doch nur teilweife einfügen laffen. M. ftellt weiter die
Ordensfakultaten, insbesondere der Jefuiten dar. — Den
jeweiligen örtlichen und zeitlichen Bedürfniffen entfpre-
chend, war die Geftaltung der Fakultäten nach Inhalt,
Form und Zeildauer recht verfchieden. Mit der Zeit
war daraus eine Unuberfichtlichkeit entflanden, welche
eine einheitlichere Geftaltung der Fakultäten zum prak-
tifchen Bedürfnis machte. 1633 — 37 fand eine Revifion
des Fakultätenrehtes ftatt. Das Ergebnis waren 10 Formulare
, ein jedes für beftimmte Zwecke abgefaßt. M.
gibt Mejer zu, daß die Formulare vom Geifte der Propaganda
beeinflußt find; daß fie aber auch ihrem ganzen
Inhalte nach Millionsfakultäten find, beftreitet er mit
guten Gründen. Für Deutfchland wurden die Quinquen-
nalfakuhäten den Erzbifchöfen und Bifchöfen zuerft nach
der 10., feit Anfang des 18. Jahrhunderts nach der weitergehenden
3. Formel verliehen; hinfichtlich diefer Quin-
quennalen beftreitet M. noch befonders den Miflions-
charakter; trugen fie auch gegenreformatorifches Gepräge,
fo wurden die durch lie ermächtigten Bifchöfe damit
/keineswegs Miffionsobere, das heißt bloße Stellvertreter
des Papftes'.

Pofen. H. Edler v. Hoffmann.

Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philolophie. Neue Beiträge
zu einer Kritik der Sprache. ErfterBand. München,
G. Müller MDCCCCX. (XC VI, 586 S.) Lex. 8° M. 16 —

Der Anlage nach etwa die Mitte innehaltend zwifchen
Kirchner-Michaelis' kleinem populären und Eislers großem
reinwiffenfchaftlichen Wörterbuch der philofophifchen
Begriffe, übertrifft das Mauthnerfche Werk beide an
äußerem Umfang, an Ausstattung, an kultur-, fprach- und
denkgefchichtlicher Orientierung, vor allem an felbftän-
diger, zielbewußt-kntiicher Stellungnahme. Ob das letztgenannte
für ein Lexikon ein Vorzug fei, mag, angefichts
der ungleich vollständigeren Stofffammlung und objektiveren
Darstellung bei Eisler, bezweifelt werden; für die
Lefer, auf die Mauthner rechnet, die in feine .Sprachkritik'
eingeweiht mindestens deren Motive berechtigt finden
und in der Wechfelbeziehung zwifchen Gedanken und
Sprache ein (oder das) Hauptproblem der Philofophie der
Zukunft erkannt haben, bedeutet das neue Wörterbuch
ein Ereignis. Denn hier wird in vorausfichtlich drei
Bänden (deren erster fchon nahezu 1200 Spalten umfaßt)
eine Auswahl der intereffanteften Themata aus der Geschichte
des menfchhchen Denkens nach alphabetifcher

Reihenfolge, alfo ganz unfystematifch, aber jedes für fich
in Form einer ungewöhnlich feffelnd, ja fpannend ge-
fchriebenen Monographie vorgeführt, mit dem ausgefpro-
chenen Zweck, wieder und wieder an konkretestem Ein-
zelbeifpiel zu zeigen, wie fehr wir Anlaß haben, nicht
nur in der Theologie, fondern ebenfo in der Naturwiffen-
fchaft, nicht nur in der Ästhetik, Ethik, Metaphyfik,
fondern auch in der Logik und Pfychologie befcheiden
zu fein in unferem Anfpruch auf Erkenntnis der Wahrheit
. Überdies eröffnet den vorliegenden ersten Band
eine Einleitung von 96 (hier nicht gefpaltenen) Quartfeiten,
fodaß den Lefern, die das kritifche Hauptwerk des Autors
nicht fludiert haben, die Quinteffenz feiner fprachkritifchen
Skeptik, mit manchem wertvollen fprachgefchichtlichen
Material bereichert, zugänglich gemacht wird.

Den Hauptfehler feiner ,Sprachkritik' freilich hat
Mauthner auch hier nicht ganz vermieden, obwohl hie
und da eine Andeutung einfpielt, als ob er ihn zu merken
beginnt: er verfäumt es mitunter auffallend, die fkeptifche
Befcheidenhtit auch auf die Erkenntnistheorie, nicht bloß
anderer Leute, fondern feine eigene anzuwenden. Er
fit ht in der Sprache nur die große Fälfcherin, in der
Gefchichte der Begriffe nur eine Gefchichte der Irrtümer,
in dem bildlichen Charakter des Wortes ein Truggefpinlt,
das wohl für die künftlerifchen Leistungen der dichtenden
Phantafie, aber nicht für das Streben nach adäquater
Erkenntnis ein geeignetes Organon fei. Von da aus übt
er beifpielsweife an Aristoteles eine vernichtende Kritik.
Aber wenn Aristoteles, an Worten klebend, manche Probleme
noch nicht fcharf gefichtet und endgültig formuliert
hat, was zuzugeben ift, fo erkennt doch der fo Kritisierende
die Möglichkeit fchärferer Formulierung mittels der
Sprache grundfätzlich an. Nun reicht aber die Fähigkeit,
mittels der Sprache Probleme zu formulieren, nicht im
mindrften hinaus über die fonltige Leiftungskraft der
Sprache; und ein anderes Mittel, dem dunkeln, aber zum
Licht emporringenden Wahrheitsdrange Spielraum, Bewegungsfreiheit
und zweckvollen Ausdruck zu geben,
befitzen wir nicht als eben die hörbare, in wechfelnden
Bildern Eindrücke wiedergebende, formende, übertragende
affoziierende, ausgleichende Lautfprache. Auch in der
Religion ift es mehr das gefprochene und gehörte Wort
als das optifche Bild, wodurch dem inneren Quellen der
Seele, dem Dürft nach Sein, derart Ausdruck und Anhalt
wird, daß ein Glauben, Hoffen, Lieben daraus erwachsen
kann. Der Ernst folches Glaubens an die Wahrheit
vereint fich wenig mit dem Hohngelächter, das
Mauthner gelegentlich für die Errungenfchaften des
philofophifchen Denkens allein übrig zu haben erklärt,
zumal er doch die enge Verwandtfchaft der Motive naiver
Frömmigkeit und wiffenfchaftlichen Wahrheitsftrebens
richtig einfchätzt und von der Religion als Gemütstatfache
nur mit Achtung fpricht. Gerade weil die künft-
lerifche Leistungsfähigkeit der Sprache fo hoch anzu-
fchlagen ift, darf jedes Zeitalter in denfelben Sprachmitteln
, die es ihm ermöglichen, das Problematifche zu
formulieren, auch das dermalen ausreichende organifche
Medium fehen, mit deffen Hilfe man zu jeweilig befriedigender
Erkenntnis gelangen kann.

Aus dem L Bande, der mit .Intention' abfchließt,
hebe ich als für theologifche Lefer intereffant folgende
Artikel hervor: abfolut, anthropomorphifch, Babel (ur-
fprüngliche Einheit der Sprache), Bacons Gelpenfterlehre,
Begriff, Charakter, Christentum, cogito ergo sum, Ehre,
Eid, Element, Energie, ewige Wahrheiten, Fichtes Ich,
Form, Freiheit, Geist, Gefchichte, Gott, Gottes Wort,
Griechifches Philofophieren, Humor, Idealismus, Ideal-
menfchen, Individualismus, Instinkt.

Als charakteriftifche Probe der Art, wie Mauthner
feinen Gegenstand bearbeitet und feine Urteile fixiert,
mögen einige Sätze aus dem Artikel .Christentum' (S.
116a—156b) herausgehoben werden: ,Zwifchen den beiden
extremen Anfchauungen, dem Jefus des katholifchen