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Ausgabe:

1911

Spalte:

89-90

Autor/Hrsg.:

Clemen, Carl

Titel/Untertitel:

Quellenbuch zur praktischen Theologie. 1. - 3. Teil 1911

Rezensent:

Drews, Paul

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8g

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 3.

90

Eine letzte Ähnlichkeit zwifchen dem Gefetzgeber
der neueren deutfchen Theologie und dem Bahnbrecher
des Proteftantismus franzöfifcher Zunge liegt in der Vir-
tuofität, mit welcher beide die inneren Gemütszuflände
1 beobachten und befchreiben: in der Feinheit und Tiefe

der rehgionspfychologifchen Analyfe, in dem zarten Ver-
fländnis und der liebevollen Hingabe, die ihn befähigte,
die Geheimniffe des inneren Lebens abzulaufchen und
wiederzugeben, fteht Vinet gewiß nicht hinter Schleiermacher
zurück. Der Vorwurf, der gegen letzteren erhoben
wurde, die Vernachläffigung der biblifchen Begründung
der religiöfen Wahrheit, kann Vinet auch nicht
erfpart bleiben, hängt aber wohl bei beiden mit einem
entfprechenden Vorzug zufammen, fofern fie fich bei
einer rein äußerlichen Stellung zur h. Schrift als zu einem
bloßen Lehrkodex nicht beruhigen konnten. (Zum Schriftgebrauch
Vinets vgl. u. a. 166. 177. 103. 107. 340sq. 418.
145—146. Zahlreiche Stellen nicht als dicta probantia,
sondern als Illuftration eigener Gedanken gebraucht: 49.
50. 53. 6b. 128. 129. 131. ufw.)

Die in diefer Anzeige, welche die ihr gezogenen
Grenzen bereits überfchritten hat, gegebenen Andeutungen
werden hoffentlich genügen, um den hohen Wert
der von dem Comite Vinet in Angriff genommenen Ausgabe
der Werke des berühmten Laufanner Apologeten
und Pfychologen gebührend darzutun und zu charakteri-
fieren. Die Ausftattung des Buchs ift fehr fchön und
macht den um die Veröffentlichung der Schriften von und
über Vinet fehr verdienten Verlagsbuchhandlungen Georges
Bridel in Laufanne und Fifchbacher in Paris alle Ehre.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Clemen, Priv.-Doz. Prof. D. Dr. Carl: Quellenbuch zur prak-
tilchen Theologie, zunächft zum Gebrauch in aka-
demifchen Vorlefungen und Übungen herausgegeben.
I. Teil. Quellen zur Lehre vom Gottesdienft (Liturgik).
Gießen, A. Töpelmann 1910. (VIII, 190 S.) gr. 8°

M. 4 —; geb. M. 4.50

— Dasfelbe, zum Gebrauch in theologifchen Vorlefungen
und Übungen, Lehrer- und Lehrerinnenfeminaren fowie
für Pädagogen und Behörden herausgegeben. 2. Teil.
Quellen zur Lehre vom Religionsunterricht (Kate-
chetik). Ebd. 1910. (IV, 89 S.) gr. 8° M. 2.40;

geb. M. 2.80

— Dasfelbe, zum Gebrauch in theologifchen und kirchenrechtlichen
Vorlefungen und Übungen fowie für Geift-
liche und Behörden. 3. Teil. Quellen zur Lehre von
der Kirchenverfaffung (Kybernetik). Ebd. 1910. (IV,
172 S.) gr. 8° M. 4—; geb. M. 4-5°

Im Vorwort gibt der Herausgeber uns Rechenfchaft
von den Grundfätzen, nach denen er das vorliegende
Quellenbuch zur praktifchen Theologie zufammengeftellt
hat. Daß er fich auf die Liturgik, den Religionsunterricht
und die Verfaffung befchränkt hat, begründet er damit
daß nur aus diefen Gebieten der prakt. Theologie Texte
fei es in der Vorlefung, fei es in den Übungen eingehend
befprochen werden müffen. Auch feien dies zugleich
die Gebiete, auf denen es faft allein bindende Vorfchriften
gebe. Und um die letzteren allein ift es Clemen zu tun.
Die gebotenen Texte bilden felbftverftändlich nur eine
Auswahl und zwar das Notwendigfte, wobei auch das
Ausland und die neuere Zeit mit berückfichtigt find.
Natürlich ift gegebenen Falls die Fremdfprachlichkeit
beibehalten. Man wird im allgemeinen mit diefen Grundfätzen
fich nur einverftanden erklären können. Darüber,
was notwendig hätte Aufnahme finden müffen, wird man
immer verfchiedener Meinung fein. Prüfe ich z. B. den
erften Band, der die liturgifchen Texte enthält, fo ver-
miffe ich fehr ungern das Euchologion Serapions von

Thmuis und die Katcchcfen Cyrills von Jerufalem. Die
Texte, fo wird man fich felbft fagen, find für den Abdruck
zu lang. Aber war nicht vielleicht wenigftens das
Präfationsgebet Serapions aufzunehmen? Schmerzlich
vermiffe ieh ferner die wichtige Straßburger Ordnung
aus der Reformationszeit, ebenfo eine Württemberger
Gottesdienftordnung. Wieder wird man auf den Raummangel
hinweifen. — Sobald man anfängt, fo zu fragen
und zu prüfen, fteigt einem das Bedenken auf, ob überhaupt
eine folche Sammlung, die immer lückenhaft
bleiben und immer ein fubjektives Gepräge tragen wird,
praktifch ift? Ob es nicht vielleicht viel richtiger ift, die
Quellenfchriften einzeln in billigen Ausgaben für den aka-
demifchen Unterricht bereit zu ftellen, wie es z. B. Lietz-
manns bekannte Sammlung tut? Ich ftehe nicht an, diefen
letzteren Weg für den befferen zu halten, obwohl ich
nicht in Abrede ftellen will, daß auch das Unternehmen
von Clemen feinen Nutzen und feinen Vorzug hat. Den
Vorzug nämlich, daß man doch hier vieles beieinander
hat, was jene Sammlung nicht oder wenigftens noch
nicht bietet.

Mit den gleichen Fragen und Wünfchen prüft man
den Inhalt der zwei anderen Bände. Mit Dank findet
man manches hier, das fonft fo leicht nicht zugänglich
ift, z. B. im 2. Band den ,Schulmethodus Ernfts des
Frommen' und Vorfchriften A. H. Franckes oder die
neueren englifchen Unterrichtsgefetze oder im 3. Band
die Verfaffungsgefetze verfchiedener Kirchen Englands,
wie es denn überhaupt nur dankbar zu begrüßen ift, daß
Clemen auch das Ausland fo viel als möglich mit berückfichtigt
hat. Alles in allem: das Befte ift des Guten
Feind. Überblickt man das Ganze, fo überwiegt die
Freude, wieviel Material in trefflicher Auswahl hier zu-
fammengetragen ift. Ich bemerke noch, daß erklärende
Anmerkungen gänzlich fehlen. Nur Texte werden geboten
. Eins noch zum Schluß! Warum ift faft ausnahmslos
bei den einzelnen Stücken die Jahreszahl ihres Erfcheinens
weggelaffen? und warum fehlt die gleiche Angabe bei
den Schriften, aus denen das Material genommen ift?

Die Ausftattung ift ebenfo gut wie der Druck. Nur
ift der helle Umfchlag der Bände unpraktifch, denn nur
zu fchnell werden fich die Spuren des Gebrauchs — und
eifrigen Gebrauch wünfchen wir ja doch den Bänden —
daran zeigen.

Halle a. S. Paul Drews.

Keppler, Bifch. Dr. Paul Wilhelm von: Homiletilche Gedanken
und Ratlchläge. Freiburg i. B., Herder 1910.
(III, 113 S.) 8° M. 1.20; geb. M. 1.80

Auf dem im September 1910 in Ravensburg unter
großer Beteiligung gehaltenen Erften homiletifchen Kur-
1 fus hat Verfalfer übernommen, in drei Vortragsftunden
über die Predigt der Gegenwart zu referieren. Er ftellte
• zwölf Leitfätze feinen Vorträgen voran und wählte aus
ihnen geeignete Themata zur ausführlichen Behandlung
: aus. Sie werden uns in dem vorliegenden Büchlein mit
: den notwendigen Ergänzungen und Erörterungen mitgeteilt
. Die Leitfätze bieten gute technifche und religiös-
ethifche Winke, gegen die vom evangelifchen Standpunkt
aus nichts einzuwenden' ift. Auch die 22 kurzen Ab-
fchnitte der Ausführung reizen nur da zum Widerfprechen,
. wo das fpezififch römifche Dogma fich geltend macht.
: Dies ftört jedoch umfo weniger, als die auf fcharfer Beobachtung
ruhende Schilderung der Gegenwart in intellektueller
und religiös-fittlicher Beziehung, vor allem die
: echt evangelifche tiefe Auffaffung der Predigtaufgabe
jene römifchen Auswüchfe faft als Fremdkörper erfcheinen
, laffen. In feiner pfychologifcher Berechnung beginnt der
Verfaffer mit dem Abfchnitt ,Predigtmüdigkeit'. Der
Charakter der heutigen Menfchheit fei eine religiöfe
Müdigkeit und Mattigkeit, die auf den Prediger leicht
. I übergreife und gern verzagte Predigtmüdigkeit hervor-