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Ausgabe:

1911 Nr. 3

Spalte:

85-89

Autor/Hrsg.:

Vinet, Alexandre

Titel/Untertitel:

Discours quelques sujets religieux. Tome I 1911

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 3.

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Kirchgemeinden eine Liturgie vorzufchreiben. Graf Dohna
wird alfo entfchiedener Gegner der vom Könige Friedrich
Wilhelm III. im Jahre 1822 erlaffenen Agende. Er fieht
darin den Anfang der Veränderung des reformierten Ge-
meindegottesdienfies und der presbyteralen Kirchenver-
faffung. Denn ohne vorhergehende Zuftimmung der Gemeinde
durften folche liturgifche Einrichtungen nicht
getroffen werden. Die Oppofition dts Grafen hat freilich
auf die Dauer keine Wirkung ausgeübt; aber fie hat ge-
fchichtlich ihre Bedeutung. Überdies ift die Stimmung
des Grafen charakterifthch für die Reformierten innerhalb
der preußifchen Union überhaupt: fie haben die
Union gern angenommen; aber fie halten noch heut, fo-
weit es nur immer geht, an ihren reformierten Eigentümlichkeiten
feft, ftrenger als die Altlutheraner an den
ihrigen.

Aus dem Leben des Grafen Alexander Dohna-Schlo-
bitten möge erwähnt werden, daß er 1771 geboren ift,
in Frankfurt a/O. und in Göttingen ftudiert hat, 1790 in
den Staatsdienst trat, 1808 nach der Entlaffung Steins
preußifcher Minister des Innern wurde, aber fchon 1810
in feine Heimat zurückkehrte. Hier, in Schlobitten, lebte
er bis an feinen Tod 1831. D. Joh. Bauer hat diefen
anziehenden Ausfchnitt aus dem Leben des Grafen als
Abfchiedsgruß an feine Freunde und Bekannten unter
den Geistlichen in Oft- und Weftpreußen ausgehen laffen;
aber auch über diefen Kreis hinaus wird man ihm für
feine fchöne Gabe dankbar fein.

Wiffen möchte ich aber gern, wann die Burggrafen
zu Dohna zur reformierten Konfeffion übergetreten find.
Im fechzehnten Jahrhundert waren fie fo gut lutherifch
wie ihr Landesherr, der Herzog Albrecht von Preußen.
Fällt ihr Konfeffionswechfel etwa in den Anfang des
17- Jahrhunderts, als ein Dohna im Dienste der pfälzifchen
Diplomatie mit Paul Sarpi in dem Briefwechfel stand,
den jüngst Benrath ediert hat?

Göttingen. P. Tfchackert.

Vinet, Alexandre: Discourssurquelquessujetsreligieux. Texte
de la derniere edition revue par l'auteur, accompagne'
des variantes des reditions plus anciennes, et precede"
d'une preface par A. Chavan. Lausanne, G. Bridel. —
Paris, Fischbacher 1910. (XXXI, 488 p.) 8° fr. 6.50
In einem am 23. April 1908 abgeftatteten Bericht hat
Pfr. Chavan, a. o. Prof. an der theol. Fakultät der Universität
Laufanne, einer der gründlichsten Kenner der
Werke des in der Gegenwart nach feiner ganzen Bedeutung
immer beffer gewürdigten Laufanner Denkers,
Vinet, die Bedingungen bekannt gemacht, unter welchen
eine neue Ausgabe der Schriften feines berühmten Landsmanns
in Angriff genommen werden foll. Unter dem
Vorfitz des auch unter uns wohl bekannten Profeffors an
der Universität Laufanne, Henri Vuilleumier, hat die
zu diefem Zweck gebildete Kommiffion befchloffen, von
einer Veröffentlichung fämtlicher aus Vinets Feder stammender
Konzepte, Predigtentwürfe, Vorlefungsnotizen,
Briefe und Tagebücher Abstand zu nehmen. Das Vinet-
Archiv, das auf der Bibliothek der theologifchen Fakultät
der Freikirche Laufannes aufbewahrt wird, enthält ein
überaus reiches, aber an Wert ungleiches Material, aus
welchem die ersten Herausgeber, Chappuis, Secretan
u. A. bereits Schätze mancherlei Art gehoben hatten. Es
gilt nun den noch unbekannten Rest zu flehten, das wirklich
Wertvolle ans Licht zu fördern, auch die in verfchie-
denen Blättern und Zeitfchriften verstreuten Beiträge zu
fammeln, endlich die vergriffenen Schriften in der von
Vinet noch felbft beforgten Form oder in der aus feinem
Nachlaß wiederherzustellenden Gestalt herauszugeben.
Diefe Grenzbeftimmung muß unbedingt gebilligt werden:
nach dem von dem ,Comite Vinet' entworfenen Programm
ift die Erhaltung, Wiedergewinnung oder Rettung

alles deffen, was irgendwie bedeutfam und beachtenswert
bleibt, gewährleistet.

Es war ein glücklicher Gedanke, die Reihe der wieder
abzudruckenden Werke mit der Schrift zu eröffnen, die
jedenfalls zu den charakteriftifchften und behebteften
Vinet's gehört, mit den Discours sur quelques sujets
religieux. Die Herstellung der neuen Ausgabe konnte
in keine befferen Hände gelegt werden als in die des
oben genannten Berichterstatters. Die forgfältige Einleitung
zeugt nicht nur von dem Verständnis und der
Liebe, die der Herausgeber feinem Gegenstande zuwendet;
fie ift auch ein Muster hiftorifcher und literarifcher Kritik.
Pfr. Chavan hat aus Vinet's Tagebüchern und Briefen,
aus den Briefen feiner Korrefpondenten, aus den in den
Vorreden der früheren Ausgaben oder in anderen zeit-
genöffifchen Dokumenten zerstreut vorliegenden Notizen
alle Angaben zufammengeftellt und geprüft, die auf die
Entstehung diefes Hauptwerks Vinets Licht zu verbreiten
geeignet find.

Die erfte Ausgabe bot eine Sammlung von Predigten, die der 1817
nach Bafel an das dortige Gymnafium berufene und als Lehrer des Fran-
zöfifchen angeftellte, im Jahre 1819 in Laufanne ordinierte, junge Mann
am Anfang der dreißiger Jahre in Bafel gehalten hatte; die Sammlung
enthielt nur 14 Reden. Die bereits im folgenden Jahr veröffentlichte
zweite Ausgabe fügte fechs weitere Reden hinzu; die 3. Ausgabe (1836)
brachte die Zahl auf 25, die noch von Vinet beforgte 4. Ausgabe (1845)
umfaßt 26 Reden. Chavan's wertvolle biographifche und bibliographifche
Beiträge führen uns in die geiftige Werkstatt des Predigers ein, und laffen
einzelne diefer Reden vor unfern Augen entftehen. Einem aufmerkfamen
Lefer wird die Tatfache nicht entgehen, daß in älteren Reden bereits
Anfätze und Präformationen zu fpätern vorliegen: die Grundgedanken der
Reden Les idoles favorites, L'etude sans terme, L'intolerance de l'Evangile,
L'extraordinaire (zweite Sammlung 184) wird man ohne Schwierigkeit
in früheren Stellen entdecken (135. 235—236. 242. 328).

Die Originalität diefer Reden (deutfehe Überfetzung
der zweiten Auflage von Vogel 1835, der vierten von A.
v. Bonin 1847) liegt zunächft in ihrer Form. In rhetori-
fcher Beziehungen flehen fie fragelos über den fpäteren
von Vinet felbft oder aus feinem Nachlaß herausgegebenen
Sammlungen. Die Sprache gelangt hier zu einer Vollendung
, die der Prediger kaum je wieder erreicht hat. Einzelnen
diefer Reden, La foi d'autorite, L'etude sans terme
fpendete der berühmte Kritiker Sainte-Beuve das höchste
Lob. Aber auch viele der übrigen zeichnen fich stellenweife
durch einen Schwung aus, den man in fpäteren
Zeiten bei Vinet nicht mehr in demfelben Maaße wiederfindet
. Vinet's Beredfamkeit ift weniger veraltet als die
der meisten feiner Zeitgenoffen, Adolphe Monod nicht
ausgenommen. Das Pathos, das fich in feinen herzandringenden
Fragen kundgibt, wirkt öfters ergreifend
(101 — 102.156—157.260—261. 314—315). Packende Bilder
und Vergleiche treten nicht als fremder, wohl entbehrlicher
Schmuck der Gedanken auf, fondern liefern eine
fo treffende Illustration derfelben, daß fie fich zu eindrucksvollen
Beweifen gestalten (20—21. 54—55. 164—165.
187. 236. 244. 251. 306—7 ufw.).

Freilich ift bereits hier ein Mangel fühlbar, der in den folgenden
Schriften noch Stärker hervortritt und den Vinet in unbefangener Selbstkritik
bekannte. Längere Ausführungen halten zwifchen der Abhandlung
und der Predigt eine unklare Mitte und tragen einen etwas ftörenden
Zwittercharakter an fich. ,Tantöt recherchant la rigueur scientifique, tantöt
m'abandonnant aux habitudes moins scrupuleuses du langage oratoire,
j'ai mele deux idiömes qui malheureusement different moins par le choix
des termes que par leur aeeeption (13)'. Immerhin hat Vinet in diefen
erften Reden faft überall den Fehler vermieden, in den er Später öfters
geriet, und der nur die Konfequenz oder die Kehrfeite feiner Virtuofität
in der Analyfe innerer Seelenzuftäude und religiöfer Stimmungen und Regungen
bildet, nämlich jene überfcharfe, an Manier und Subtilität ftrei-
fende Feinheit der Begriffe und Ausdrücke, die ihm einft einen in brüderlichem
Geift erteilten und mit feltener Demut aufgenommen Tadel Ad.
Monod's zuzog [Lettres Bd. II, 34 suiv.].

Den Inhalt der Predigtfammlung hat Vinet felbft in
den Worten angegeben: ,La philosophie religieuse et
l'apologetique ont fourni la matiere de ce volume' (16).
Den tiefen Einfluß, den Pascal auf ihn ausgeübt hat,
gibt keine Schrift Vinet's deutlicher und umfaffender
zu erkennen als seine Discours sur quelques sujets religieux
. Zu den Grundgedanken der Pensees bekennt er