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Ausgabe:

1911 Nr. 3

Spalte:

78-79

Autor/Hrsg.:

Frey, Johannes

Titel/Untertitel:

Der slavische Josephusbericht über die urchristliche Geschichte, nebst seinen Parallelen kritisch untersucht 1911

Rezensent:

Hoennicke, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 3.

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Einleitung und Anordnung des ganzen Stoffes muffen
gewichtige Bedenken geltend gemacht werden. Im erften
Abfchnitt behandelt der Verfaffer den Meffianismus nach
den helleniftifch-jüdifchen Schriftftellern. Währender aber
in ihm die eschatologifche Meinung des Philo wirklich
befpricht, gibt er in dem Abfchnitt über Jofephus nicht
deffen eigene Anfchauung, fondern deffen gefchicht-
liche Darfteilung der meffianifchen Bewegungen im Judentum
. Die übrigen helleniftifchen Schriften, vor allem
die Sibyllinen, vermißt man in diefem Abfchnitt ganz.
Dann behandelt L. nacheinander in zwei großen Ab-
fchnitten den Meffianismus in den jüdifchen Apokalypfen
und im rabbinifchen Pharifäismus. Ich kann diefe Einteilung
nur als eine höchft unglückliche bezeichnen; oder
welchen Grund hat der Verfaffer, die durchaus phari-
fäifche Gefinnung wiederfpiegelnden Bücher des 4. Esra
und des fyrifchen Baruch unter den Abfchnitt über die
Apokalypfen zu ftellen, die Pfalmen Salomos beim
pharifäifchen Rabbinismus zu behandeln! Die Teftamente
der Patriarchen in den erften Abfchnitt einzuordnen
und die mit diefen auf das allerengfte geiftesverwandten
Jubiläen in den zweiten! Und weshalb erfcheint die fpe-
zififch pharifaifche Affumptio Mofis mit ihrer fulminanten
Polemik gegen das Prieftertum unter den Apokalypfen?
So kommt es, daß ganz wefensverfchiedene Schichten
von Vorftellungen bei ihm dicht nebeneinander erfcheinen,
fo die Vorftellung vom Reiche Gottes, namentlich nach
den Pfalmen Salomos, dicht neben der Lehre von den
beiden Weltaltern, während andere Dinge ganz ohne
Grund auseinander geriffen werden. Einen fachlichen
Unterfchied in dem, was der Verfaffer apokalyptifche
und was er pharifäifche Anfchauung nennt, vermag ich
auch nach feinen eigenen Ausführungen in allem wichtigen
nicht zu entdecken; fchließlich zieht der Verfaffer
auch in beiden Abfchnitten dasfelbe Refultat. Es liegt
ihm vor allem daran, namentlich gegenüber Balden-
fpergers tatfachlich vorliegender Überfchätzung des
religlöfen Wertes der Apokalyptik, die abfolute Wertlofig-
kcit beider von ihm unterfchiedenen Richtungen heraus-
zuftellen. Über die Apokalyptik urteilt L. vollkommen
abfprechend: Entre la sivc religieuse des Ecritures inspi-
rees et le naturalisme sense des Grecs les apocalypses
apparaissent comme un genre faux, dont les ardeurs sur-
chanffees ne peuvent emouvoir les gens de sang-froid
(p. 135). Das Urteil dürfte freilich noch einfeitiger fein
wie das Baldenfpergers nach der anderen Richtung.
(Bemerkenswert ift übrigens, daß in diefem Abfchnitt
über das Buch Daniel gar nicht gehandelt wird, das
gehört natürlich für den Verfaffer zu den infpirierten
Schriften). Nicht beffer kommt die pharifäifche Escha-
tologie weg. Als befonderen Mangel beider Richtungen
hebt L. in echt dogmatiftifcher Weife hervor, daß beide
das gottmenfchliche Wefen des Meffias noch nicht erfaßt
hätten: entweder werde der Meffias ein rein himm-
lifches Wefen, dem die Menfchlichkeit fehle, oder ein
rein irdifches Wefen, bei dem die Idee der tranfzen-
denten Heikunft und Göttlichkeit zu kurz komme (vgl.
p. 257—265)!

Im dritten Teil behandelt der Verfaffer unter dem
Titel Le Messianisvie en actio?i teils unerwartete Themata
, wie die jüdifche Propaganda. Auch ein Kapitel
über das Verhältnis des Pharifäismus zu Jefus finden
wir hier, endlich die Darfteilung des Zufammenbruches
der jüdifchen Hoffnungen.

Im einzelnen findet fich in der Tat manches Lehrreiche
, aber es fehlen überall die entfcheidenden und
großen Gefichtspunkte, vor allem die Einftellung der
jüdifchen Apokalyptik in den großen religionsgefchicht-
lichen Zufammenhang. Nur wer Sinn und Auge für
diefe Arbeit hat, kann fchließlich auf diefem Gebiet
noch wefentlich Förderndes bringen. Anderenfalls läuft
man Gefahr, fchon gefagtes zu wiederholen, nur weniger
gut als es bisher gefagt ift.

Von Einzelheiten erwähne ich noch, daß der Verfaffer
noch an der Meinung fefthält, daß die Menfchen-
fohnftellen im Henochbuch interpoliert feien, und zwar
entweder von einem jüdifchen Schriftfteller, der gegenüber
dem chriftlichen Meffiasglauben eine ideale jüdifche
Meffiasfigur fchaffen wollte, oder von einem chriftlichen
Interpolator, der in das Buch chriftliche Ideen hineingetragen
hätte. Er neigt fich der letzteren Möglichkeit
zu, vertritt hier alfo eine ganz veraltete und faft überall
aufgegebene Hypothefe. Für recht unglücklich halte
ich auch feine polemifchen Ausführungen gegen Charles
(und anderer) Auffaffung der meffianifchen Hoffnung in
den Teftamenten; daß hier und in den Jubiläen der
Stamm Juda feine meffianifche Bedeutung auf kurze
Zeit an den Stamm Levi hat abgeben muffen, fcheint
mir außer allem Zweifel zu fein.

Göttingen. Bouffet.

Frey, Priv.-Doz. Mag. theol. Johannes: Der flavische Jofe-
phusbericht über die urchriltliche Gefchichte, nebft feinen
Parallelen kritifch unterfucht. Dorpat 1908. (Leipzig
, A. Deichen, Nachf.) (IV, 281 S.) gr. 8» M. 5 —

A. Berendts richtete 1906 die Aufmerkfamkeit der
Forfcher auf einige, die urchriltliche Gefchichte betreffende
Zufätze in der flavifchen Bearbeitung der Schrift des Jofephus
de bello Judaico. Seine Annahme, daß diefe
Zeugniffe urfprüngliche Beftandteile der zuerft von Jofephus
aramäifch herausgegebenen Schrift feien, wurde
von einer Reihe von Forfchern abgelehnt (vgl. ThLZ
1906, Nr. 9). Frey kam dagegen ähnlich wie RrSeeberg
zu dem Refultat, daß die Stücke Zufätze eines Juden zu
dem aramäifchen Jofephustext feien. Es ift dankenswert,
daß angefichts der Verfchiedenheit der Meinungen F. in
einer umfangreichen Monographie feine Studien über die
Zeugniffe veröffentlicht hat. Bei der Unterfuchung wendet
er fein Hauptintereffe der Beantwortung der Fragen
zu: welchen Geilt verraten die Zufätze, wann find fie ent-
ftanden, haben fie irgendwie gefchichtlichen Wert? Das
Ergebnis ift kurz diefes: die Zufätze rühren alle von einer
Hand her; fie find Überfetzung einer griechifchen Vorlage
, die auf einen aramäifch gefchriebenen Text zurückgeht
. Ihr Verfaffer war ein Diafporajude, der zwifchen
73 und IOO in Syrien lebte, dem Prieftertum abgeneigt,
pharifäifch gerichtet. Mit den Zufätzen, deren Inhalt
teilweife auf ficherer gefchichtlicher Kunde beruht, fuchte
er die chriftliche Bewegung zu beurteilen. Insbesondere
intereffierte ihn die Erinnerung an den Prozeß und Tod
Jefu. Die Uneinigkeiten unter den Juden zwifchen den
Volksmaffen und den Führern war nach ihm der eigentliche
Anlaß des Todes Jefu. Freilich fei fein Urteil über
Jefus unficher und fchwankend. Wäre diefe Thefe F.s
richtig, fo hätten wir in den Zeugniffen ein wertvolles
Dokument, aus dem wir die Anfchauung eines Juden des
I. Jahrhunderts über die chriftliche Bewegung kennen
lernen würden. Aber der Beweis für feine Thefe ift F.
nicht gelungen. Als Ganzes ift feine Pofition abzulehnen,
fo treffende Bemerkungen fich auch im einzelnen in dem
Buch finden, und fo fehr die vorfichtige Argumentation
zu loben ift. Höchft problematifch find zunächft F.s
Vorausfetzungen über den Text. Es ift zweifelhaft, ob
der aramäifche Jofephustext, in dem nach F. Interpolationen
vorgenommen find, verbreitet war. Einen Hauptbeweis
für feine Thefe fieht F. fodann in der Unabhängigkeit
der Zeugniffe von den kanonifchen Evangelien und
der Apoftelgefchichte, fowie in dem Verhältnis derfelben
zu den Pilatus- und Petrusakten. Gewiß finden fich nicht
handgreifliche Berührungen, aber wir müffen uns die Bedeutung
der mündlichen Tradition vergegenwärtigen, wie
fie F. felbft S. 13 hervorhebt. Auch ift es F. nicht gelungen
, fichere Spuren gefchichtlicher Erinnerung in den
Zeugniffen nachzuweifen. Es fehlen fichere Maßstäbe zur