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Ausgabe:

1911 Nr. 26

Spalte:

818-819

Autor/Hrsg.:

Nitzsch, Friedr. Aug. Berth.

Titel/Untertitel:

Lehrbuch der evangelischen Dogmatik. 3. Aufl., bearb. v. Horst Stephan 1911

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 26.

818

Wahrnehmungen gebildet werden — wie können fie dann
zum Begreifen diefer Wahrnehmungen dienen und was
ift das überhaupt für ein Verhältnis, das durch diefen
Terminus doch gar zu unbeftimmt bezeichnet ift? — In
ihren Konfequenzen läuft die Lehre, als deren Vertreter
Kinkel auftritt, darauf hinaus, aller Wiffenfchaft eine mög-
lichft abftrakt-logifche Form zu vindizieren; die Natur-
wiffenfchaft wird möglichft auf Phyfik, die Phyfik auf
Mathematik, die Mathematik auf reine Logik zurückgeführt
, andrerfeits wird die Pfychologie (am deutlichften
die Pädagogik) und die Geifteswiffenfchaften zu abftrakt
ethifierenden Konftruktionen. Charakteriftifch ift, wie
bei Kinkel die Religion fchließlich mit der Ethik zu-
fammenfällt und ihren Eigeninhalt völlig verliert. Man
erhält dadurch überall den Eindruck einer Schematifie-
rung, einer Verflüchtigung des konkreten Lebens, das in
allen diefen Dingen fteckt, zu einem blutlofen Schema.

Das Alles foll nur den Eindruck wiedergeben, den
Ref. (und ficher nicht er allein) von der ganzen Betrachtungsweife
der Marburger Schule erhält, bei aller Anerkennung
der logifchen Schulung und dialektifchen Kunft,
die man ftets in ihren Publikationen findet, und bei aller
Übereinftimmung in einzelnen Punkten. Das Kinkelfche
Buch felbft gehört wie fchon gefagt zu den eindringlich-
ften und beftverftändlichen Darftellungen der Lehre.

München. v. After.

Schaeder, Prof. D. Erich: Religiös - Tittliche Gegenwartsfragen
. Vorträge. (V, 229 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert
Nachf. 1911. M. 4 —; geb. M. 4.80

Eine Sammlung von zehn Vorträgen. Die beiden
erften Jefus und die großen Männer' und ,Was wollte
Jefus?', bereits erfchienen in der in diefer Zeitung 1908,
117—119 befprochenen Sammlung, behandeln die Jefus-
frage; ihre Chriftologie kritifierte ich in der Zeitfchrift
für Theol. u. Kirche 1908, 415—428. Über den achten
Vortrag .Heiliger Geift und Kirche' vgl. Lobfteins Rezen-
fion in diefer Zeitung 1911, 535L Der zehnte Vortrag
behauptet ,Die Notwendigkeit einer theozentrifchen Theologie
'. Dies ift ja Schaeders Spezialität. Stephan hat
gut darüber gehandelt in jener Zeitfchrift 1911, 171—209.
Daß die Theologie zuhöchft als (Glaubens-) Wiffenfchaft
von Gott funktioniere, dafür kann man (wie ich in dem
Auffatz .Über den Gegenftand der Theologie', Zeitfchrift
für wiffenfchaftl. Theol. 1909, 217—248) eintreten, ohne
die .anthropozentrifche' Art, wie fie Gotteserkenntnis fucht
und findet, überbieten zu wollen. Wie weder das biblio-
zentrifche noch das pneumatozentrifche Erkenntnisprinzip
über die anthropozentrifche Region hinausführt, fo auch
nicht das chriftozentrifche: da auch Schaeders Lehre von
der Gottheit Chrifti der Kritik nicht Stich hält, bleibt es
dabei, daß man nicht einmal vermöge Chrifti anderswie
als in menfchlichem Glauben Gotteserkenntnis fuchen und
finden kann. Daß Gottes Ehre und der Kreaturen Seligkeit
bei der Beftimmung des Weltzwecks theozentrifch
anzuordnen find, ift uralte dogmatifche Tradition, wie ein
Blick in irgend eine katholifche Dogmatik zeigt. Aber
da das Luthertum zu Verfchiebungen disponiert ift, ift
Schaeders Warnung verdienftlich.

In mehreren Vorträgen der Sammlung, befonders
dem fiebenten .Unfere Aufgaben im Blick auf die drohende
Krifis in unferer Kirche' und dem neunten ,Der
religiöfe Fortfehritt und die Erlöfung durch Chriftus', bewährt
fleh der Redner als ein theologifcher Parteikämpfer,
der fich vorteilhaft von gewiffen Draufgängern unter-
fcheidet, deren unziemliche Kampfesweife als .Temperament
' befchönigt wird. Er beurteilt die moderne Theologie
zwar zu peffimiftifch, zumal wenn er ihre Gefahr
übertreibt, dem modernen Weltfinn nachzugeben, aber
man hat nicht den Eindruck, daß er fich dem anpaßt,
was die Laienorthodoxie von ihren Rednern hören will.
Er fucht nicht herunterzureißen und zu verletzen, fondern

tritt mit maßhaltendem Ernft in die Schranken. Er fagt
zwar, die Kirche treibe einen bewußten Verkehr mit aller
echten Wiffenfchaft und verzichte auf vermeintliche Glau-
bensbeftandteile, die mit wahrhaft geficherten Ergebniffen
der Wiffenfchaft nicht zufammenbeftehen, aber in der
Rüftung feines biblifchen Realismus hält er fich Philo-
fophie und Hiftorie dermaßen vom Leibe, daß er z. B.
an den biblifchen Naturwundern ein Intereffe hat, das
überwunden fein follte. Die Themata der noch nicht
erwähnten, einwandfreieren Vorträge der Sammlung find:
,Der Chrift und die Natur'; .Chriftentum und Phantafie';
.Björnfon in religiös-fittlicher Beleuchtung'; .Evangelifch
und Katholifch'.

Leipzig. K. Thieme.

Nitzich, weil. Prof. D. Friedrich Aug. Berth.: Lehrbuch
der ev. Dogmatik. 3. Aufl., bearb. v. Prof. Lic. Horft
Stephan. I. Tl. (Sammlung theolog. Lehrbücher.) (XV,
291 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1911. M. 7 —

Es ift ein gewagtes Unternehmen, für das es nicht
viele Parallelen geben dürfte, die Dogmatik eines Andern
nicht nur abdrucken zu laffen, etwa mit den von ihm
felbft fchon beabfichtigten Änderungen, fondern fie auf die
Höhe einer vom Autor felbft nicht mehr erlebten wiffen-
fchaftlichen Diskuffion bringen zu wollen. An der feft-
gefugten Einheit und dem ftark perfönlichen Charakter
des Ganzen findet hier jeder fremde Eingriff, ja faft fchon
jeder eigne, fehr bald fefte und unüberfteigbare Schranken.
Indes, wenn irgendwo, fo konnte an Nitzfehs Lehrbuch
der Verfuch mit Ausficht auf Erfolg gemacht werden,
weil es weniger durch die ftrenge Einheit eines fyftema-
tifchen Gedankens, als durch unbefangene und reiche
Darbietung des dogmen- und theologiegefchichtlichen
Materials charakterifiert wird und weil ihm feine Sätze
nicht fo fehr durch eine originale Konzeption als vielmehr
durch umfichtige und unparteiifche Würdigung der großen
theologifchen Leiftungen Anderer erwachfen find. Immerhin
ruht auch hier alles auf letzten Sätzen, auf dem Glauben
an eine fupranaturale Gefchichte ethifch-myftifchen Inhalts
, der mit einer beftimmten Epoche theologifcher
Arbeitsweifen und Ergebniffe faft unlöslich verbunden
ift. Stephan hat das hier vorliegende Problem gefchickt
und zugleich pietätsvoll dadurch zu umgehen gewußt, daß
er, wo es fich um das letzte Urteil handelt, Nitzichs Ausführungen
abdruckt, fich höchftens leife Kürzungen oder
objektiv-gefchichtliche Nachträge und Verweife geftattet.
Ob dies Verfahren in der fpeziellen Dogmatik anwendbar
bleiben wird, ift mir zweifelhaft; ich möchte wünfehen,
daß, wo es fich um veraltete Sätze handelt, auch tiefere
Eingriffe nicht gefcheut werden und eventuell Ns. Sätze
in die dogmengefchichtliche Überficht eingefügt werden,
um das Buch wirklich auf der Höhe zu halten. Für den
vorliegenden Teil allerdings hat Sts. Methode im wefent-
lichen ausgereicht.

Als feine Hauptaufgabe hat es Stephan betrachtet,
die Darbietungen Nitzfehs aus der Gefchichte der reli-
gionsphilofophifchen und theologifchen Probleme zu ergänzen
und zu vertiefen. .Niemand wird Schulfüchfe oder
Parteifanatiker züchten wollen, die Kirche und Theologie
verwüften; darum bedarf es neben dem Studium einer
individuellen Dogmatik auch einer pofitiven Würdigung des
Hintergrundes, von dem diefe fich abheben möchte und
der parallelen Anfätze anderer Syftematiker. Dazu wollte
Nitzfeh anleiten, und in diefem Sinne läßt fein Werk fich
m. E. auch der Gegenwart dienftbar machen' (S. VI). Dies
fein Ziel hat St. in vollem Maße erreicht. Die Streichungen,
die notwendig waren, um den Umfang nicht zu fehr an-
fchwellen zu laffen, find fehr gefchickt ausgeführt1), Un-

1) Hie und da differiert natürlich das Urteil. Ungern entbehre ich
z. B. die fcharf pointierten Sätze von Lipfms über Offenbarung (Nitzfeh2
S. 104 ff.), fowie Pfleiderers und Lipfius ausgeführte Religioustheorie