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Ausgabe:

1911 Nr. 26

Spalte:

816-817

Autor/Hrsg.:

Kinkel, Walter

Titel/Untertitel:

Idealismus und Realismus. Eine Einführung in ihr Wesen und ihre kulturgeschichtliche Entwicklung 1911

Rezensent:

Aster, E.

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 26.

816

Wer den Satz ichreiben kann: ,Der Jefuit, der das (! drei ,einfache'
Gelübde legt jeder Jefuit ab) einfache Gelübde abgelegt hat, bleibt ewig an
die Gefellfchaft gebunden; diefe aber fagt ihm nicht, ob fein Gelübde
angenommen ift oder nicht. Der Jefuit weiß alfo nicht einmal, ob er zur
Gefellfchaft gehört oder nicht' (S. 112), UDd wer diefen Satz durch ein gelehrt
fcheinendes Zitat (Institut. S. J., Declar. in Const. Pars V, Cap. IV, § A
und B) .belegt', hat fich als Forfcher und wiffenfchaftlicher Arbeiter das
Todesurteil felbft gefprochen. Denn in dem Satze ift buchftäblich Alles
falfch und das .Zitat' und die begleitende Anmerkung ftellen einen verworrenen
Knäuel von Falfchem und Unverstandenem dar. Die für den
Verfaffer güuftigfte Annahme ift, daß er Satz, Zitat und Anmerkung
anderswoher unbefehen abgefchriebeu hat. Erfchwerend tritt hinzu, daß
der Verfaffer Satz, Zitat und Anmerkung als .tiefeu Einblick in das innere
Getriebe des Ordens' bezeichnet. WilTenfchaftlichen Geiß; vermißen läßt
auch des Verfaffers Urteil über eine von ihm benutzte Überfetzung des
Aufhebungsbreves Klemens XIV. Er nennt die von mir nachgewiefenen
(14 Jahre Jefuit II 357. 358) groben, den Sinn ftörenden, ja zum Teil
gänzlich finnlofen Fehler diefer Überfetzung: .Ungenauigkeiten .... falls
man überhaupt von folchen reden darf, fo geringfügiger Natur' (S. 14).
Daß er fein Festhalten an der fchlechten Überfetzung mit Ausfällen auf
meine Perfon und mit Unterfchiebung gäuzlich haltlofer Beweggründe für
meine Überfetzungskritik verbindet, ift auch kein Zeichen von Wiffen-
fchaftlichkeit.

Verglichen mit dem Wert der Schrift ift meine Be-
fprechung unverhältnismäßig lang geworden. Aber es
muß einmal von geachteter Stelle und (bei diefem Ge-
genftande darf ich das fagen) von berufener Seite aus, klar
und deutlich ausgefprochen werden, daß folche, leider für
gewiffe Kreife noch immer typifche Schriftftellerei vom
Übel ift. Polemik, auch noch fo fcharfe, muß ruhen auf
Beherrfchung des Materials und muß Wahrheit und Aufklärung
fördern. Sonft wird fie zum verletzenden und
unnützen Gezänke. Die ablehnende Beurteilung der Schrift
ift mir, gerade wegen des in ihr enthaltenen Ausfalles
auf meine Perfon, nicht angenehm gewefen. Da ich
die Schrift aber ohne jedes Zutun meinerfeits von der
Redaktion zugefandt erhielt, glaubte ich der Sache der
Aufklärung durch Befprechung einen Dienft zu erweifen.
Amica pax, magis amica veritas.

Berlin-Lichterfelde. Graf Hoensbroech.

Weng, Guftav: Schopenhauer-Darwin. Peffimismus oder
Optimismus? Ein Beitrag zur Fortfchrittsbewegung.
(189 S.) 8°. Berlin, E. Hofmann & Co. 1911.

M. 2 —; geb. M. 2.80

Die Popularifierung der Naturwiffenfchaften, insbe-
fondere der Darwinfchen Theorie, hat im Verein mit den
impofanten Leiftungen der Technik neue Moralanfchau-
ungen gezeitigt, deren charakteriftifche Züge Optimismus,
Fortfchrittsanbetung und Egoismus find. Diefe Anfchau-
ungen vergiften das Denken, Fühlen und Wollen der
modernen Gefellfchaft. Hiergegen zieht Weng in fcharf-
finnigen und temperamentvollen Ausführungen zu Felde.
Er ftützt fich auf Schopenhauer, aber unter Wahrung
der Selbftändigkeit. Zunächft werden die theoretifchen
Grundlagen der neuen Moral aufs Korn genommen. Die
kosmologifche Perfpektive, die uns angeblich das opti-
miftifche Bild eines Aufftiegs in der Entwickelung der
Weltkörper bietet, zeigt bei genauerer Prüfung nur einen
traurigen Kreislauf. Innerhalb der engeren Sphäre des
Organifchen ift allerdings der Fortfehritt unleugbar. Doch
fträubt fich unfer moralifches Empfinden gegen den Gedanken
, daß der hier waltende brutale Kampf ums Däfern
für das menfehliche Verhalten vorbildlich fein follte.
Befonders energifch wird dann noch die fchönfärberifche
Behauptung des hiftorifchen Fortfehritts innerhalb der
Menfchheit beftritten: weder das Glück noch die Mora-
lität nehme mit gefteigerter Kultur zu, was der Verfaffer
durch gefchickte Stimmungsbilder illuftriert. Nunmehr
werden auch die praktifchen Konfequenzen der neuen
Moral in ihrer Widerwärtigkeit entlarvt: die utilitariftifche
Gefinnung, die alles nur nach dem Erfolge fchätzt, unbekümmert
um die Unlauterkeit der Mittel, die Vergötterung
des Reichtums und der Reichen, die Neigung zum
Fauftrecht, die Steigerung des fozialen Haffes, die Vergröberung
der Umgangsformen. Nachdem endlich noch

die widerfpruchsvolle Haltung des Darwinismus gegenüber
den Genies fowie feine Unfruchtbarkeit in künft-
lerifcher Hinficht als kritifche Inftanzen benutzt worden
find, folgt als Erfatz für das Zerftörte die Skizze einer
peffimiftifchen auf ,Lebensverneinung' abzielenden Moral,
die aber kein ,tatenlofes Asketentum' bedeuten foll. Eine
wiffenfehaftliche Nachprüfung der negativen und pofi-
tiven Bemerkungen Wengs würde natürlich manche Unrichtigkeiten
aufdecken. Summarifche Urteile ohne exakte
empirifche Kontrolle find ftets unzuverläffig. Aber der
Verfaffer erhebt felbft keinen Anfpruch auf eigentliche
Wiffenfchaftlichkeit. Seine Schrift ftellt das interefiante
Bekenntnis eines Mannes dar, der aus feiner perfönlichen
Lebensftimmung heraus eine Renaiffance der Schopen-
hauerfchen Philofophie herbeiwünfeht.

Königsberg i. Pr. A. Kowalewski.

Kinkel, Prof. Dr. Walt: Idealismus u. Realismus. Eine
Einführung in ihr Wefen u. in ihre kulturgefchichtl.
Entwicklung. (Wege zur Philofophie. Schriften zur
Einführung in das philofoph. Denken. 3.) (IV, 112 S.)
Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 1911. M. 1.50

Kinkel vertritt einen ,Idealismus' im Sinne der Marburger
Schule, der Cohen und Natorp. Unter dem ,Sein',
nach deffen Wefen die Wiffenfchaft fragt und ftets gefragt
hat, verftehen wir ein Bleibendes und Beharrliches
und zugleich Objektives, vom Individuum Unabhängiges.
Daß es ein folches Sein gibt, d. h. daß es Sinn hat nach
ihm zu fragen, muß gegenüber dem Skeptizismus feilgehalten
werden, aber dies Sein kann nicht gefunden werden
in den Händig wechfelnden und individuell verfchiedenen
,Tatfachen' der Wahrnehmung, fondern nur in den Begriffen
und Gefetzen, die das Denken, die Vernunft an
ihre Stelle fetzt. Das Sein aber exiftiert nur für die
Vernunft, und ein Denken gibt es nur als Denken eines
folchen allgemein Giltigen. Ebenfo fuchen wir nach
einem folchen Bleibenden und Beharrlichen auf fittlichem
Gebiet und finden es in dem Gefetz der Norm, die die
Vernunft unferem wechfelnden Begehren fetzt und dem
fich unfer vernünftig geleiteter Wille frei unterwirft. Endlich
tritt der Wahrheit und der Sittlichkeit die Kunft als
dritte Form einer objektiv giltigen Schöpfung unferer
Vernunft an die Seite. Diefem Idealismus werden die
verfchiedenen Formen des ,Realismus' gegenübergeftellt.
Der Realismus geht von der Annahme einer vom Denken
unabhängigen, der Vernunft gegenüberftehenden Wirklichkeit
aus, einer Wirklichkeit alfo, die erkannt werden
muß, indem der denkende Geift nicht frei, tätig Begriffe
produziert, fondern indem er fich ihr gegenüber paffiv,
aufnehmend verhält, fie auf fich wirken läßt, alfo indem
er fich auf die Sinne verläßt. Kinkel fucht nun zu zeigen,
daß diefer Realismus in jeder Form fich in unlösbare
Probleme verftrickt, alfo gegen feinen Willen fchließlich
zum Skeptizismus gegenüber Wiffenfchaft und fittlicher
Norm führt. Der Gedankengang, deffen fich der Verfaffer
bedient, um zu diefem Endrefultat zu kommen, ift
recht gefchickt geführt und von dialektifcher Schärfe, er
ift zugleich leichter verftändlich, als die meiften Veröffentlichungen
, die diefem Kreife entflammen. Freilich
über einzelne Punkte der Lehre ift Ref. hier fo wenig
ins Klare gekommen, wie in jenen anderen Darlegungen:
fo über die Identität von ,Begriff und ,Gefetz': der Begriff
foll gewiffermaßen an die Stelle der Wahrnehmung treten
und fo ein individuell Abhängiges durch ein allgemein
Giltiges erfetzen; das Gefetz aber kann doch nicht die
Wahrnehmung erfetzen, fondern gibt nur die Bedingungen
an, unter denen die Wahrnehmung auftritt, fetzt alfo die
Wahrnehmung und zwar als etwas bekanntes und infofern
auch beftimmtes voraus. Ebenfo über das Verhältnis
von Wahrnehmung und Begriff, überhaupt die Rolle
der Wahrnehmung in der Erkenntnis. Die Begriffe follen
nicht ,im Hinblick auf, fondern nur ,bei Gelegenheit' der