Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1911 Nr. 2

Spalte:

52-57

Autor/Hrsg.:

Wurm, Alois

Titel/Untertitel:

Autorität und Subjektivismus 1911

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

5i

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 2.

52

ftärker hervortreten, als L. gelten laffen will, hat jüngft
Holl in feinem ausgezeichneten Auffatz ZThK 1910,
245—91 nachgewiefen. Dann aber wird es darauf ankommen
, gerade den fpezififchen Sinn oder die unter-
fcheidende Nuance zu ermitteln, in der die Vorftellung
der Ehre Gottes oder Chriftus' bei den einzelnen Reformatoren
betont wird. Aber davon abgefehen. ift es L.
zweifellos gelungen, der Konftruktion der Frömmigkeit
und Theologie Calvins unter einfeitiger (praedestinatia-
nifcher) Hervorhebung der Ehre Gottes entgegenzutreten:
fie gehört in die Rechtfertigungslehre hinein, darf nicht
in Gegenfatz zu ihr aufgefaßt werden. — Ähnlich verhält
fich L.s Unterfuchung zu den von Martin Schultze
— vgl. Kattenbufch R.E.3 16, 170 — bevorzugten Elementen
der Frömmigkeit Calvins, in denen Eschatalogie
und Jenfeitigkeit einfeitig die Vorherrfchaft zu gewinnen
fcheinen. L. hat wiederholt — S. 10, 21, 36 ff., 56 ff.,
67 fr. — die Einzelexegefe Schultzes, m. E. mit Recht,
beanftandet. Aber er denkt nicht daran, diefe Ausfagen
Calvins zugunften eines problematifchen Gegenwarts- oder
Diesfeitigkeitschriftentums eliminieren zu wollen. Er findet
vielmehr auch hier einen Doppelcharakter in der
Frömmigkeit des Reformators, den er in widerfpruchs-
vollen Ausführungen über die Erdengüter, den Lohngedanken
, die Schätzung des Berufs beleuchtet. Er fchränkt
demgemäß die Bedeutung des Erasmus für diefe Anfchau-
ungen ftark ein zu Gunften eines Wiederauflebens urchrift-
licher Stimmung. Man wird fragen dürfen, ob nicht
diefes bei Calvin wie bei Luther unter dem Zeichen der
Erneuerung paulinifcher Rechtfertigungslehre ganz felbft-
verftändlich war! — Das, wie mir fcheint, Eigenfte aber,
was L. bietet, tritt in Ausführungen hervor, in denen er
Calvins Anfchauung von Gemeinfchaft mit Chriftus, con-
junctio capitis et membrorum, habitatio Christi in cordi-
bus nostris = mystica unio (Inst. III, 11, 10, CR. 30, 540)
erörtert. Die Gedankenbildung Calvins zeigt hier gewiß
eine intimere Färbung als Ritfchls bekannte Deutung
(Rechtf. u. Vers. I, 193 ff.) zugeftehen will. Aber es war
doch noch mehr zu verbinden und zu unterfcheiden, als
man bei L. gewahr wird. Die Anfchauung von Gemeinfchaft
mit Chriftus tritt in Konkurrenz zur Imputations-
lehre. Die Äußerlichkeit des forenfifchen Vorgangs, für
deffen Marke Betonung Melanchthon maßgebend ift (S. 87),
geht in ein innerliches Verhältnis über. Aber indem Calvin
in heftiger Polemik gegen Ofiander (Inft. III, n, 5—12,
CR. 30, 546 ff) fich gegen jede crassa mixtura oder sub-
stantialis mixtio, gegen alles transfundere essentiam Dei
in homines oder misceri Christi essentiam cum nostra
ausfpricht, wird die Vorftellung myftifcher unio, die er
in summo gradu fefthalten will, in der Form einer Kom-
mutationstheorie durchgeführt. L. läßt an keinem Punkte
durchblicken, daß wir es bei diefer mit genuin-Luthe-
rifchem Gut zu tun haben. Es bedarf nur einer flüchtigen
Erinnerung an de libertate christiana, um das zu
erhärten. Aber diefe Erinnerung hätte dann auch zu
einer genaueren unterfcheidenden Klarlegung des Sinnes
führen können, in dem hier von unio mystica geredet
wird. Beachtet man, daß im Gegenfatz zu essentia oder
qualitas vielmehr dona, beneficia, divitiae Chrifti als der
Gegenftand, der von Seiten Chrifti ausgetaufcht wird, in
Betracht kommt, fo tritt der Unterfchied metaphyfifcher
und ethifcher Auffaffung deutlich hervor: die alten my-
ftifchen Formeln find geblieben, der fachliche Inhalt hat
mit ihnen herzlich wenig zu tun. Darüber hätte Gott-
fchicks feiner Auffatz über ,Luthers Lehre von der Lebens-
gemeinfchaft der Gläubigen mit Chriftus' (ZThK 1898,
406 ff) belehren können. Hätte L. diefe Zufammenhänge
und Gegenfätze entfchiedener beachtet, fo wäre Calvins
Wertung des gefchichtlichen Heilsmittlers, feiner Menfch-
lichkeit und feiner menfchlichen Erlöfungsleiftung in feiner
Polemik gegen Ofiander (S. 50 f.) verftändlicher geworden
und vielleicht doch hätten fich von da aus eigentümliche
Gedankenlinien aufgedrängt, die zu der Auffaffung
Ritfchls hinüberführen würden.

Gießen. S. Eck.

Foerfter, Fr. W.: Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum
Kulturproblem der Kirche. Kempten, J. Köfel 1910.
(XVI, 191 S.) gr. 8° M. 2.50; geb. M. 3.25

Wurm, Dr. Alois: Autorität und Subjektivismus. Eine Aus-
einanderfetzung mit Foerfters Buch:,Autorität und Freiheit
'. Regensburg, F. Puftet 1910. (39 S.) gr. 8° M. — 60

Börner, Wilhelm: Dr. Fr. W. Foerlter und feine ethifch-
religiöfen Grundanfchauungen. Eine Verteidigung und
Entgegnung. Wien, Verlag der öflerreichifchen ,Ethi-
fchen Gefellfchaft' 1909. (21 S.) gr. 8° M. —- 50

Foerfter, Fr. W.: Sexualethik und Sexualpädagogik. Eine
neue Begründung alter Wahrheiten. Dritte, vermehrte
Auflage. Kempten, J. Köfel 1910. (XV, 249 S.) gr. 8°

M. 3—; geb. M. 3.75

Diefe Schriften von und über Förfter find nicht nur
darum intereffant, weil ein merkwürdiger Menfch ihren
Inhalt bildet, fondern auch weil wichtige Fragen aus dem
konfeffionellen Gebiet und allgemeine Probleme des
Glaubens und Lebens in ihnen behandelt werden oder
fich dem Nachdenken über fie ohne weiteres ergeben
müffen. Es handelt fich um einen Menfchen, der dem
Zeitgeift gegenüber eine andere Begründung der Wahrheit
und ein anderes Lebensideal fucht. Jene fucht er
in der ,Kirche', diefe in der Askefe. Damit hat er fo-
fort unfere höchfte Aufmerkfamkeit; denn im Urteil über
diefe beiden Punkte unterfcheiden fich am tiefften die
Konfeffionen, und große Gegenfätze aus unferm geiftigen
Gefamtleben flehen hinter den verfchiedenen Urteilen
über diefe beiden Punkte. Diefe großen Dinge fchieben
die Frage, ob F. fchon katholifch oder noch proteftan-
tifch fei, in den Hintergrund. Eine klare Antwort auf
fie hängt davon ab, was man unter dem einen und dem
anderen Begriff verfteht. Vielleicht ift F. auch fo eigenartig
in feinem Denken, daß wir diefe ganze Frage überhaupt
abweifen müffen.

Es handelt fich in allen angeführten Schriften um
Welt- und Lebensanfchauungen perfönlichfter Art, bei
denen das innerfte Leben der Verfaffer mitzittert. Im
Gegenfatz zu anderen Auffaffungen fuchen fie die eigne
zu begründen. Für den Grad ihrer inneren Sicherheit
wird es dabei von bezeichnender Bedeutung fein, wie
weit fie fich in ihrer Darftellung und Begründung von
geheimen oder offnen Wünfchen leiten laffen. Das ift
immer nicht nur ein reizvolles, wenn auch betrübendes
Bild, zu fehen, wie die verborgene Neigung die Gründe
wie Drahtpuppen fpielen läßt, fondern auch ein wichtiges
Mittel zur Beurteilung der ganzen Stellung. Wir werden
darauf achten, wie jene Autoren alle dem polemifchen
Urfehler verfallen, eigenes Soll mit fremdem Sein zu
vergleichen, ein Fehler, dem man die Herkunft von dem
auf fein Ziel zueilenden oder feine Stellung verteidigenden
Willen ohne weiteres anmerkt.

In dem erften Buch will F. Autorität und Freiheit
zu einer höheren Verbindung vereinigen. Ift im ganzen
,die Kirche' — F. läßt wie alle kräftigen Polemiker und
befonders die katholifchen, das Eigenfchaftswort ,römifch'
aus, weil er wie fie keine Arten von diefer Gattung,
fondern nur den einen Vertreter der Gattung kennt — die
Trägerin der Autorität, fo der Proteftantismus der
Träger der Freiheit. F. kommt es nun darauf an, in
einem erften Gedankengang die Autorität der Kirche
zu begründen und dann in einem zweiten, ihr die nötige
Freiheit einzuverleiben. — Sein Ausgangspunkt ift tief
ergreifend; er wird uns nachher noch einmal begegnen.
Es ift der individualiftifch-fubjektiviftifche Jammer. Der