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Ausgabe:

1911 Nr. 23

Spalte:

724-725

Autor/Hrsg.:

Reinke, Johann

Titel/Untertitel:

Die Kunst der Weltanschauung 1911

Rezensent:

Dorner, August

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 23.

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Vertreter des kirchlichen Lebens zu achten haben, um
die Kirche Jefu Chrifti vor dauerndem Schaden zu bewahren
. Der Verfaffer übt folches Urteil gleichfam von
der Kathedra des ,Alten' aus auf Grund fleißiger kirchen-
gefchichtlicher Studien und langer Lebenserfahrung, er
übt es freilich mit dem Ton des felbftbewußten und gewandten
Journaliften, der über alles und jedes gut zu
reden und zu fchreiben weiß.

Kirchenpolitiker mögen fleh an anderer Stelle mit
feinen kirchenpolitifchen Grundanfchauungen auseinanderfetzen
. In diefer Zeitfchrift foll nur gefagt werden, was
die Wiffenfchaft von ihm lernen kann. Denn hat er auch
nicht für Gelehrte gefchrieben, fo ift doch das Buch eines
gebildeten Denkers für fle nicht ohne Bedeutung.

Der unmittelbare Gewinn, den der Kirchenhiftoriker
von Fach aus dem Buche haben wird, ift zwar nicht fehr
groß. Zumal in den Anfangsabfchnitten arbeitet er
wefentlich mit langen Auszügen aus Harnack, Hausrath,
Hafe, gelegentlich auch v. Dobfchütz, Pfleiderer, Hauck,
fpäter auch Giefebrecht, K. A. Menzel und Troeltfch, die
er nur gelegentlich durch temperamentvolle Urteilsfätze
unterbricht. Sein Intereffe und Verfländnis liegt dabei
immer mehr bei den inftitutionellen, fozialen und kulturellen
Momenten. Das perfönliche Glaubensmoment, fo auch
die Frage nach der perfönlichen Heilsgewißheit, kommt
dabei zu kurz, was fleh bei Paulus—Auguftin—Luther
und fpäter in feiner Kritik der Gnadenlehre geltend macht.
Immer bleibt fein Denken mehr auf das Intereffe der
Kirche oder der Kultur im Ganzen gerichtet. Aus dem
dritten Abfchnitt find feine Ausführungen über ,Sklaverei
und Chriftentum' hervorzuheben. Mit befonderer Liebe
ift die Entwicklung der mittelalterlichen Kirche auf der
Höhe ihrer geiftigen Macht dargeftellt, insbefondere die
Bedeutung der Deutfchen für die Rettung des Papfttums
(nach Giefebrecht, vgl. frühere .kirchenpolitifche Studien'
des Verfaffers zur älteren deutfchen Gefchichte in der
Zeitfchr. f. allgem. Gefchichte 1885, 10). Die Befprechung
der mittelalterlichen Wiffenfchaft ift ftark eklektifch und
vielleicht zu häufig durch Seitenblicke auf moderne Probleme
belaftet. Der Niedergang der abendländifchen
Kirche ift mit fcharfen Strichen gezeichnet; dagegen ift
der Abfchnitt über das Zeitalter der Reformation und
Gegenreformation nicht nur fehr kurz (S. 250—273), fondern
auch ohne ausreichendes Verftändnis für die innerliche
religiöfe Tiefe der neuen Bewegung gefchrieben. Troeltfch's
Kritik des Modernen und des Unmodernen in der religiöfen
Bewegung des 16. Jahrhunderts wird von ihm herangezogen
, um die Bedeutung der evangelifchen Reformation
bei aller Anerkennung einzelner Leiftungen abzufchwächen
(vgl. des Verfaffers früheres Buch: Gefchichtsphilofophifche
Gedanken 1892). Mit unverhältnismäßiger Breite wird
dann die Frage nach der politifchen Bedeutung der religiöfen
Krifis und die über die Schuld der Konfeffionen
an den Hexenprozeffen befprochen. Dagegen find die
Schlußabfchnitte des hiftorifchen Teils über den triden-
tinifchen Katholizismus und über die innere Entwicklung
der evangelifchen Kirche nicht nur fehr kurz gehalten
fondern, zumal in dem Urteil über die evangelifche Entwicklung
(wieder unter Berufung auf Troeltfch), fehr ein-
feitig.

Der zweite Hauptteil (S. 307—484) über ,die Gegenwart
' enthält zunächft auch einige hiftorifche Kapitel über
Rationalismus und Aufklärung, über Romantik, Reftau-
ration und katlrolifche Renaifiance und von dem Sieg
des Ultramontanismus über den Romantizismus. Sie
enthalten fehr wertvolle Beiträge zum Verftändnis des
Katholizismus im 19. Jahrhundert. Insbefondere feien
die Abfchnitte über die Fürftenberg-Overbergfchen Reformen
im Münfterlande, über Sailer und vor allem der
über Döllinger hervorgehoben. Dagegen find die beiden
folgenden Kapitel über die proteftantifche Theologie und
die evangelifche Kirche und noch mehr der über ,den
gegenwärtigen Kampf der Konfeffionen in Deutfchland'

I nicht nur fehr laienhaft, fondern auch voll von ungerechten
| und fchiefen Urteilen. Altes und Neues, Richtiges und
Falfches, Objektives und von leidenfehaftlicher Antipathie
Erfülltes fteht dicht nebeneinander, und die vielleicht berechtigte
Klage, daß evangelifche Paftoren und landeskirchliche
Kreife wenig vom Katholizismus wiffen, kann
man mit Leichtigkeit zurückgeben: die Ausführungen des
Verfaffers find z. T. geradezu ein Beleg für die Unwiffen-
heit der öffentlichen Meinung in evangelifch-kirchlichen
Dingen. Bei der Skizze über die proteftantifche Theologie
werden noch Baur und Schwegler, Harnack, Wellhaufen,
Lipfius, Tholuck, Hengftenberg und Alexander v. Oettingen
und Wilh. Herrmann oberflächlich charakterifiert, in diefer
Reihenfolge! Schleiermacher und Ritfehl find übergangen.
Dann kommen einige Lefefrüchte aus Troeltfch und der
Verfuch einer anerkennenden Würdigung der inneren
Miffion (Spener, Franke, Chr. H. Zeller, Wichern, Graf
v. d. Recke und Bodelfchwingh). Das ift alles. Die Erörterung
über ,den Kampf der Konfeffionen' erhebt fich
wenig über das Niveau eines journaliftifchen Streitartikels
ohne wiffenfehaftlichen Wert.

Der Schlußteil (S. 487—704) über ,die Zukunft' foll
das Fazit des Buches bringen. Es gefchieht dies zunächft
in apologetifchen Erörterungen über die Möglichkeit
des Gottesglaubens für wiffenfehaftlich Gebildete
und über ,den Offenbarungscharakter des Chriftentums'.
Dann werden .Unfehlbarkeit, Dogmatismus und Orthodoxismus
' als unhaltbar abgetan. In der Kritik der einzelnen
Dogmen wird die Metaphyfik der altchriftlichen
Chriftologie, die kirchliche Sünden- und Gnadenlehre
und die Sakramentslehre abgelehnt und ihr Wahrheitsgehalt
in einer ethifch gerichteten Spiritualifierung beibehalten
. ,In welchem Sinn die katholifche Kirche * zu
reformieren ift', wird durch die Wünfche des Verfaffers gekennzeichnet
, die Hierarchie, den Heiligen Stuhl und
allen Volksaberglauben, den magifchen Sakramentalapparat
, Marienkultus und Sakramentalienwefen, die päpft-
liche Alleinherrfchaft, den Zwangszölibat, das Zwangsbreviergebet
der Priefter und das Meßftipendienwefen ab-
zufchaffen, um nur das Wichtigfte zu nennen. Der Verfafler
hat fich noch Idealismus genug bewahrt, um alles
das für eine fernere Zukunft zu erhoffen. Große foziale,
ethifche und kirchliche Ideale der katholifchen Kirche
bleiben ihm in ihren Grundideen, Sitten und Ordnungen
für die Gegenwart bedeutfam. Das zeigen befonders die
Schlußkapitel über die katholifche Ethik und über ,Aske-
tik und Myftik' und der .Ausblick in die Zukunft'. So
fehr es daher zu bedauern ift, daß der Verfaffer trotz
feiner großen Belefenheit fo wenig inneres Verftändnis
für Gefchichte und Wefen der evangelifchen Kirche zeigt,
fo erfreulich wirkt diefer jugendliche Optimismus des
alten Kämpfers, mit dem er die große Gefchichte und
i die beften Ideale feiner Mutterkirche im Leben der
| Gegenwart wieder geltend zu machen fucht.

Wittenburg i. Weftpr. Ed. von der Goltz.

' Reinke, Prof.Dr.Joh.: DieKunft derWeltanlchauung. (204S.)
8°. Heilbronn, E. Salzer 1911. M. 2.80; geb. M. 3.80

Wie fchon der Titel befagt, hält der Verfaffer die

Weltanfchauung für eine Kunft. Sie foll zwar auch auf
i Wiffenfchaft ruhen, aber Phantafie, Gefühl, Wille haben
j eben fo viel Anteil an ihr. Sie ift nicht ein Produkt
j des ftrengen Denkens, fondern zugleich wertbeftimmend,
I fie ift äfthetifch gefärbt und fchließlich davon abhängig,
I wie eine Perfönlichkeit befchaffen ift. Sie hat immer

einen individuellen Typus und wird ftets zugleich kritifche
| Selbftbefcheidung nötig haben; das Ideal vollkommener
i Harmonie, die Löfung aller Rätfei ift uns unerreichbar.
1 ,Die Weltanfchauung zieht nicht das P"azit eines Rechen-

exempels, fondern fie geftaltet Empfindungen und Ge-
| danken, fchafft Werte von befchränkterer, d. h. mehr

fubjektiver Geltung, die einen Zug des Unfertigen an