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Ausgabe:

1911 Nr. 22

Spalte:

679-683

Autor/Hrsg.:

Lamprecht, Karl

Titel/Untertitel:

Zur universalgeschichtlichen Methodenbildung 1911

Rezensent:

Rachfahl, Felix

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 22.

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Entftellung des Evangeliums Jefu'. Ift demnach die Überlegenheit
des Liberalismus über Drews im hiftorifchen
Detail evident, fo muß doch Drews zugeftanden werden,
daß er der konfequentere ift, wenn er aus der liberalen
Thefe vom mythologifchen Chriftusbild des Paulus und
Johannes den Schluß zieht, Jefus fei überhaupt nur eine
mythifche Geftalt. Da dies aber wiederum ein .offenbarer
Nonfens' ift, fo hat nunmehr ein Gegner den andern tot-
gefchlagen, und es ift das bereits am Ende des erften
Kapitels (S. 22) angekündigte Ziel erreicht: ,fomit wird
das Refultat ein für beide Teile vernichtendes fein und
die Aufgabe entfteht zuletzt, in der kirchlichen Verkündigung
von dem gefchichtlichen Chriftus die einzig mögliche
Löfung eines Problems zu fehen, das überhaupt
erft dadurch entftanden ift, daß man von dem Boden
diefer Verkündigung fich entfernt hat'. An diefe .Aufgabe
' — beffer wäre wohl zu fagen: an diefes Refultat —
macht fich D. im dritten Kapitel: wir können nicht .unbefangen
' an das neue Teftament herangehen wie an ein
Buch von Thukydides oder Tacitus; denn wir ftehen vor
dem Neuen Teftament wie vor einem mit sieben Siegeln
verfchloffenen Buch; nur dem Glauben wird es fich er-
fchließen. Der Glaube beruft fich auf die perfönliche
Erfahrung, daß Jefus der Heiland ift, und er kann fich
für diefe Erfahrung ,noch auf zwei andere außer ihm
liegende Gründe ftützen': die Gemeinde und das Selbft-
zeugnis Jefu. Diefer Glaube bietet nicht nur ,die Löfung
der Fragen, welche die hülfsbedürftige Seele hat', fondern
.diefer Schlüffel ift auch unumgänglich notwendig zur
Löfung der wiffenfchaftlichen Fragen'.

Es ließe fich mancherlei fagen über den unbefangenen
Blick des Verf. für die treibenden Faktoren in Drews'
Gefchichtsauffaffung; dem fteht allerdings eine gewiffe
Befangenheit in religionsgefchichtlichen Fragen gegenüber
(fo wird S. 35f. das Judentum gegen den Synkretismus
ausgefpielt — diefes Judentum ift doch fynkretiftifch beeinflußt
!). Aber ich möchte hier allen Nachdruck lieber
auf die oben ausführlich charakterifierte Methode legen.
Es ift wohl ohne weiteres klar, daß diefe Art, einen
Gegner mit dem anderen totzufchlagen, fehr bequem und
in gewiffer Weife wirkungsvoll — aber auch höchft un-
wiffenfchaftlich ift. Die Kriegskoften werden von den
Kämpfenden beftritten; manfelber bleibt der ungefährdete
tertius gaudens. Auch wer den im dritten Kapitel dargelegten
Standpunkt des Verfaffers teilt, wird zugeben,
daß die Fragen, vor die gerade diefe Auffaffung der
Sache den Menfchen ftellt, hier nicht zu Wort kommen;
und wer die Probleme des Urchriftentums wirklich empfindet
und mit ihnen ringt, der wird urteilen, daß die
ganze Schrift dem Ernft diefer Probleme nicht gerecht wird.

Berlin. Martin Dibelius.

Lamprecht, K: Zur univerlalgelchichtlichen Methodenbildung.

Des XXVIII. Bandes der Abh. d. phil.-hift. Kl. der
Kgl. Sächs. Gefellfch. d.Wiff. Nr. II. (31 S.) gr. Lex. 8°.
Leipzig, B. G. Teubner 1909. M. 1.20

Wie man auch immer über Lamprechts wiffenfchaft-
liche Perfönlichkeit und Arbeit urteilen möge, — in einem
Punkte find Anhänger und Gegner gewiß einig: niemand
darf ihm den Vorwurf machen, daß er fich feine Ziele
zu niedrig gefleckt hätte. Nachdem er es unternommen
hat, das deutfche Volk mit einer Gefchichte feiner Vergangenheit
in großem Stile befchenken zu wollen, nimmt
er nun kühnen Mutes das Problem der Univerfalgefchichte,
welches die gefamte Menfchheit der Erkenntnis bietet,
in Angriff.

Schon in feiner deutfchen Gefchichte hatte Lamprecht
die univerfalhiftorifchen Gefichtspunkte keineswegs außer
Acht gelaffen. Sie follte fein eine .eingehende und all-
umfaffendeDarftellung' einer nationalen Gefchichte, welche
alle Zweige der Kulturentwickelung diefer nationalen Ge-
meinfchaft,allfeitig'beobachtet und fchildert; damit glaubte

der Autor zugleich einem erften Erforderniffe rationeller
Hypothefenbildung auf univerfalgefchichtlichem Gebiete
entsprochen zu haben. In der Tat ift er fo auch zu
univerfalgefchichtlichen Ergebniffen gelangt; es ift dies
die berühmte Entdeckung jener Entwicklungsreihe, in
welcher die Einheit in der Evolution aller fozialpfy-
chifchen Faktoren zum Ausdruck kommt, die vom Animis-
mus über noch einige andere Ismen bis zum Subjektivismus
führt. (Vgl. dazu: Über die Theorie einer .kollek-
tiviftifchen' Gefchichtswiffenfchaft. Jahrbb. für Nat.-Ök. u.
Stat. 68, S. 686 f.) Er meint nun, zwar feien diefe .univerfalgefchichtlichen
Ergebniffe' feiner deutfchen Gefchichte nur
gering an Zahl, aber ihrer Bedeutung nach .fundamental
und elementar', fodaß der Übergang zu weiteren univerfalgefchichtlichen
Studien und Erkenntniffen gewonnen fei.
M. a. W.: Nachdem Lamprecht den Kulturverlauf bei einer
beftimmten Nation gezeigt hat, gilt es den Kulturverlauf
mindeftens mehrerer und grundfätzlich aller bekannten
Nationen zu ergründen, wobei es ihm als höchftes Ziel
vorfchwebt, die Gefetze der gefamten univerfalgefchichtlichen
Entwickelung aufzufinden. Zunächft muß da allerdings
eine ifolierende Erft- und Vorarbeit eintreten, welche
fich ,mit der ficheren Klarlegung nur der Kernerfcheinung
jeden Zeitalters' in der Entwickelung der anderen nationalen
Gemeinfchaften begnügen muß.

Um nun zur .letzten, größeften fingulären Entwickelung
aller menfchlichen Gefchichte, der Univerfalgefchichte
felbft, zu gelangen,' müffen noch ,zwei große Phafen vergleichender
Gefchichte paffiert werden'.

a) .DiePhafe des Vergleiches einzelner Entwickelungs-
zweige bei verfchiedenen, fchließlich allen Nationen.'

b) ,Die Phafe des Vergleiches ganzer nationaler Gefamt-
entwickelungen untereinander.'

Es liegt auf der Hand, daß für die Weiterentwickelung
der univerfalhiftorifchen Methode, mit dem erften
Poftulate der Anfang gemacht werden muß, und da fragt
es fich nun wieder, mit welchem der einzelnen Entwicklungszweige
zunächft zu beginnen fei. Lamprecht antwortet
darauf: mit dem elementarften 1 Nicht Staat, Gefellfchaft
und Wirtfchaftsleben find es, die vor Allem den welt-
gefchichtlichen Zufammenhang vertreten, fondern die
fpezififch geiftigen Entwicklungszweige; ihre genauere
Ünterfuchung kommt alfo auch zur Darftellung einer
univerfalgelchichtlichen Methode an erfter Stelle in Betracht
. Auch der Bereich der fämtlichen Zweige der
geiftigen Entwicklung ift freilich noch zu groß, und da
erfcheint denn infonderheit das Feld der Phantafietätig-
keit lohnend. Die ftarke Phantafietätigkeit ift ein Kennzeichen
gerade der niedrigen Kulturen, und alle univerfal-
gefchichtliche Forfchung muß mit der Ünterfuchung der
niedrigeren beginnen, damit zunächft eine fefte Bafis für
die höheren begründet wird. Daher bietet fich die Phantafietätigkeit
der niederen Kulturen tatfächlich als das
erfte bedeutendere Objekt univerfalgefchichtlicher Forfchung
, die über eine rein nationale Entwicklung hinausgehen
will. Praktifch hinwiederum ift aus dem großen
Gebiete der Phantafietätigkeit eine Bevorzugung der bildenden
Kunft, zumal der Bildnerei und der zeichnenden
Kunft, geraten, und zwar deshalb, weil nur für diefe
Gruppen das Quellenmaterial univerfalgefchichtlich vorliegt
: faft kein Volk, welches wir kennen, läßt hier Material
vermiffen; diefes ift auch am leichterten interpretationsfähig
, leichter jedenfalls, wie Dichtkunft und Mufik. Lamprecht
fchildert den Gewinn, der fich aus dem Studium
der bildenden Kunft für die univerfalhiftorifche Wiffen-
fchaft ergibt, mit den Worten: .Auch auf pfychifchem
Gebiete gilt das Cuvier'fche Gefetz. Wie ich Skelett und
Struktur eines Lebewefens auch urzeitlicher Herkunft dem
Hauptzuge nach zu erkennen vermag, habe ich nur einen
fignifikanten Teil feines Organismus in Händen, — fo
wird es einer erweiterten und vertieften univerfalhiftorifchen
Wiffenfchaft leicht fein, aus der pfychifchen Struktur gewiffer
Reliquien der bildenden Kunft den Gefamtcharakter