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Ausgabe:

1911 Nr. 20

Spalte:

635-636

Autor/Hrsg.:

Fulci, Fr. P.

Titel/Untertitel:

Die Ethik des Positivismus in Italien 1911

Rezensent:

Kirn, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 20.

636

ftalten find forgfältig regiftriert, und fo ift der Umfang |
diefer beiden Abfchnitte um 50 Seiten gewachfen. Auch
das Schlußkapitel ift etwas umfangreicher; aber die Über-
fchrift ,Die Stellung der Diakonie in der Gegenwart und
ihre Aufgaben für die Zukunft' verfpricht mehr als die
Ausführungen halten. Wer die ftarke Bewegung auf dem
Gebiet der chriftlichen Frauenarbeit kennt, wird hier
mehr verlangen als Verf. bietet. Er druckt zunächft die
Ausführungen der 2. Autlage von 1886 nur unter Veränderung
der ftatiftifchen Angaben wieder ab und fügt
dann einige kurze Ausführungen hinzu, die fich wefent-
lich nur auf einige Veränderungen im Krankenpflegeberuf
beziehen. Irgend ein Hinweis auf die gewaltige Entwicklung
der Gemeindepflege, der Landpflege und eine
gerechte Auseinanderfetzung mit anderen Beftrebungen
chriftlichen Frauendienftes im evangelifchen Gemeindeleben
fehlt. Das Monopol der Diakoniffenhäufer hat aber
auch auffpezififch kirchlichem Gebiet aufgehört. Min-
deftens der Evangelifche Diakonieverein hätte eine
gerechte Würdigung verdient (er wird S. 296 in wenig
freundlicher Weife in eine fummarifche Aufzählung eingereiht
). Mag man noch fo fehr das Eigenwefen der
Diakoniffenhäufer des Kaiferswerther Verbandes fchätzen,
man kann eine ,Gefchichte der weiblichen Diakonie'
nicht mehr fchreiben, ohne wenigftens die wichtigften
Zweige organifierter chriftlicher Frauenarbeit in der
evangelifchen Kirche zu erwähnen. Es geht nicht
mehr an, den Begriff der /Diakonie' allein auf das fegens-
reiche Werk Fliedners und feine Nachwirkungen zu <
befchränken. Wo immer neue Organifationen fleh bilden,
die von evangelifcher Gefinnung ausgehend fleh bewußt
in den Dienft des Reiches Gottes ftellen, da wird man
auch von evangelifcher Diakonie reden müffen.

So ift Schäfer auf dem Standpunkte ftehen geblieben,
der im Jahre 1886 noch als gerechtfertigt angefehen
werden konnte. Ähnliches muß von den erften gefchicht-
lichen Kapiteln gefagt werden. Sie find ungefähr fo
ftehen geblieben, wie fie in den erften Auflagen lauteten,
während die wiffenfehaftliche Arbeit auf diefem Gebiet
inzwifchen nach vielen Seiten ausgebaut worden ift.
Überdies hat das Buch durch Weglaffung der reichen
Anmerkungen der zweiten Auflage für die wiffenfehaftliche
Benutzung fehr viel verloren; fie wären kein unnützer
Ballaft gewefen.

Niemand wird dem ehrwürdigen Verfaffer darob
zürnen, der weiß, daß Befchwerden des Alters und der
Krankheit ihn jetzt an einer gründlicheren Neubearbeitung
des großen Stoffes gehindert haben; aber wünfehen
möchte man umfomehr, daß es ihm noch vergönnt
fei, feine Stellung zu der in den letzten beiden
Jahrzehnten erfchienenen Literatur im Zufammenhang zu
charakterifleren. Solange müffen feine zahlreichen Be-
fprechungen in feiner Monatsfchrift diefem Buche zur
Ergänzung dienen.

Wittenburg i. Weftpr. Ed. von der Goltz.

Referate.

Fuloi, Fr. F.: Die Ethik des Pofitivismus in Italien. Autorifierte Über-

fetzg. v. N. C. Wolff. Supplement zum 2. Bde. v. Fr. Jodls Gefchichte
der Ethik. Hrsg. v. Wilhelm Börner. Stuttgart, J. C. Cottafche
Buchh. Nachf. 1911. (X, 74 S.) gr. 8» M. 2 —

Francesco Paolo Fulci hat Jodls Gefchichte der Ethik in der
neueren Philofophie ins Italienifche überfetzt (Meffina 1909) und bei
diefer Gelegenheit das deutfehe Werk durch den Hinweis auf italienifche
Denker pofitiviftifcher Richtung ergänzt. Befonders ift es der 1835 in
Mailand verdorbene Giovanni Domenico Romagnofi, ein gelehrter Jurift
und fruchtbarer philofophifcher Schriftfteller, den fein Landsmann einer
vermehrten Beachtung empfehlen will. Er Hellt ihn als einen Begründer
der pofitiviftifchen Ethik neben den Deutfchen Feuerbach, den Engländer
Mill und den Franzofen Comte. Diefe Erweiterung der italienifcheu Ausgabe
auch dem deutfchen Publikum zugänglich zu machen, ift der Zweck
diefer Schrift. Sie läßt uns in Romagnofi einen Moralphilofophen erkennen
, der in der Verwertung der Entwicklungslehre fich dem Standpunkt
Spencers nähert und in der Ableitung der fozialen Gefühle aus
dem egoiftifchen Glückstrieb an Feuerbach erinnert. Ganz leicht macht

es uns Fulci freilich nicht, von der Gedankenwelt Romagnofis ein
deutliches Bild zu gewinnen, da feine ftark rhetorifch gefärbte Dar-
ftellung meift nur fragmentarifche Äußerungen des behandelten Autors
anführt und er fein Referat zu oft durch Seitenblicke auf verwandte und
gegenfätzliche Anfchauungen unterbricht. Immerhin ift fo viel erfichtlich,
daß Romagnofi in der menfehlichen Perfönlichkeit nur die .empfindend
und bewußt gewordene Natur' fieht, die aber eben damit einer gewiffen
Selbftvervollkommnung fähig geworden fein foll, und daß er aus der
unwillkürlich auftretenden Nachbildung der Gefühle anderer Menfchen,
die er nicht Mitgefühl — diefer Name erfcheint ihm zu myftifch —
fondern ,Gleichgefühl' nennt, einen Kollektivegoismus hervorgehen läßt,
den er als die Wurzel des (im Grunde immer nur fcheinbaren) Altruismus
betrachtet. Das Urteil über den Wert diefer Gedanken hängt davon
ab, wie man die Zulänglichkeit diefer naturaliftifch-egoiftifchen Begründung
der Moral einfehätzt. Daß man fich in einem Lande, das den
ethifchen Idealismus fall nur im Gewände einer kirchlichen Autoritätsmoral
zu fehen gewohnt ift, für eine folche Theorie intereffieren mag,
ift begreiflich. Ob fie dem deutfchen Publikum etwas Bedeutfames zu
fagen hat, erfcheint mir zweifelhaft. Meines Erachtens führt Romagnofi
feine naturaliftifche Anfchauung weder konfequent durch, denn ein Ich,
das feine Natur zu korrigieren vermag, ift kein bloßes Naturwefen mehr,
noch erreicht er auf feinem Wege die Begründung einer Ethik, denn
ein Egoift, der andere Menfchen nur infoweit liebt, als fie Mittel für
feine Zwecke find (S. 60), fteht noch völlig außerhalb des eigentlich
fittlichen Gebiets. Auch würde ich weder Romagnofi noch Feuerbach
als Pofitiviften bezeichnen; fie teilen wohl mit dem Pofitivismus den
Gegenfatz gegen die überlieferte idealiftifche Metaphyfik, find aber
ihrerfeits Anhänger eines viel unzulänglicheren metaphyfifchen, ja dog-
matifchen Naturalismus.

Leipzig. | O. Kirn.

Elsner, Lic Bruno: Der ermländifche Bilchof Stanislaus Holius als

Polemiker. (Schriften der Synodalkommiffion f. oftpreuß. Kirchen-
gefch. Ii. Heft.) (VIII, 114 S.) gr. 8°. Königsberg, F. Beyer 1911.

M. 1.50

Es wird noch immer von Bedeutung fein, aus der Lebenswirkfam-
keit bedeutender Männer einzelne Seiten herauszugreifen und fie eingehender
zu beleuchten. So hat Lic. Bruno Elsner als Heft 11 der Schriften
der Synodalkommiffion für oftpreußifche Kirchengefchichte den ermläu-
difchen Bifchof Stanislaus Hofius als Polemiker darzuftellen gefucht.
Hofius ift zwar als Polemiker nicht bedeutend. Hier war er nur, wie
Verfaffer auch nachweift, ein fehr gefchickter Kompilator und galt auch,
— der Verfaffer ift freilich entgegengefetzter Anficht — feiner Zeit nicht
allzu viel. Aber es ift doch eine dankenswerte Aufgabe, den Mann, der
als Kirchenfürft und fkrupellofer Politiker durch feine energievolle Perfönlichkeit
für die Gegenreformation eine große Bedeutung hat, namentlich
in Ermland und Polen, auch als Polemiker zur Darfteilung zu bringen.
Der Verfaffer gibt einen Überblick über Leben und Wirken des Bifchofs,
geb. 5. 5. 1504, geft. 5. 8. 1579, über feine Gegner und die Beurteilung, die
er gefunden. Dann zeigt er des Hofius Standpunkt in den Hauptftreit-
fragen feiner Zeit (Urteil in kirchlichen Angelegenheiten, die Heilige
Schrift, die Traditionen, die Kirche), feine Beurteilung der Reformation,
feine Auseinanderfetzung mit dem Proteftantismus und mit Brenz, feine
Polemik nach ihrer äußern Form. Nachdem der Verfaffer fo den Hofius
fehr ausführlich hat zu Wort kommen laffen, gibt er ein fehr kurzes
Schlußurteil. Es ift in der Hauptfache zutreffend, die abweichende Beurteilung
ift oben fchon berührt. Eine reiche Literatur ift durchgearbeitet
und verwertet worden. Die Darftellung ift überfichtlich und
das Wefentliche betonend und verrät fichere Beherrfchung der Quellen.
Umfaffend herangezogen und berückfichtigt ift die diesbezügliche Literatur
freilich nicht. Z. B. kommen dem Verfaffer die neueren Forfchungen
über Laski nicht in Betracht und darum werden des Hofius Beziehungen
zu Laski auch nur fehr kurz berührt. Die Schrift ift preiswert und fehr
zu empfehlen.

Oftrowo (Pofeu). Naunin.

Poppelreuter, Jofeph: Das Kölnilche Philofophen-Mofaik. (Zeit-

fchrift f. Chriftl. Kunft 1909, Nr. 8, Sp. 231—244).
Der um die topographifche und monumentale Erfchließung des
römifchen Köln verdiente dortige Mufeumsdirektor Dr. P. (vgl. ThLZ 1908,
Nr. 4) bringt hier den Vorfchlag, in dem Kölnifchen Philofophen-Mofaik,
welches 1844 in der Nähe der Cäcilienkirche gefunden wurde und in
7 Medaillons Porträtfiguren enthält, wovon das mittlere (Diogenes) und
4 (urfprünglich 6) umgebende (Sokrates, Kleobulos, Sophokles, . . .,
Cheilou, . . .) erhalten find, die beiden ausgebrochenen Medaillons mit
biblifchen Geftalten — er fagt nicht welche, verweift aber auf die bekannte
Stelle bei Lampridius über Alex. Severas — zu identifizieren;
denn in das 3. Jhrh., früheftens feverifche Zeit, fei das Mofaik zu ver-
fetzen, Köln aber in diefer Zeit bereits zu gutem Teile chriftlich gewefen
. Speziell fucht er durch eine Stelle bei Ammianus Marcellinus zu
erweifen, daß die Fundftätte das dort bezeugte conventiculum ritus chri-
stiani, und zwar ein Bibliotheks- oder Schulraum dcsfelben gewefen fei.
Doch hält er die von Vorgängern geäußerte Möglichkeit offen; daß auch
zwei andere griechifche Weife und Dichter abgebildet fein konnten. Eine
direkte Beftätigung feiner Hypothefe fieht aber P., wie er mir mitteilt,
in dem Nachweife von A. Elter (Prolegomena zu Minucius Felix, Programm
zur Feier von Kaifers Geburtstag 1909, Bonn), daß kynifche Philofophie
— Mittelfigur des Mofaiks! — direkt gleich gefetzt werde mit
chriftlicher Lehre.

Betheln (Hann.). E. Hennecke.