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Ausgabe:

1911 Nr. 20

Spalte:

634-635

Autor/Hrsg.:

Schäfer, Theodor

Titel/Untertitel:

Die weibliche Diakonie, in ihrem ganzen Umfange dargestellt. 3., verb. Aufl. 1. Bd.: Die Geschichte der weiblichen Diakonie 1911

Rezensent:

Goltz, Eduard Alexander

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 20.

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wägung über den Anteil der Kirche und des Haufes an
der Erfüllung diefer Aufgabe in der Hauptfache aus-
gefchaltet, nur nebenher wird darauf hingedeutet. Es
handelt fich daher für den Redner im wefentlichen nur
um Erörterungen, welche fich mit dem Anteil des Staates
bezw. der von ihm relevierenden Schule an diefem Gegen-
ftande befchäftigen. Seinen Ausgangspunkt der Behandlung
des Themas nimmt Profi Smend dabei nicht,
wie man vielleicht erwarten könnte, von den bekannten
religions-pädagogifchen Beftrebungen eines Teiles der
Lehrer in Bremen und Sachfen, fondern er fucht dadurch
eine Bafis für feine bezüglichen Vorfchläge zu gewinnen,
daß er zunächft eingehender über die Beftimmungen des
preußifchen Generallandfchulreglements 1763 fpricht, die
ihm als Prototyp eines verfehlten Unternehmens, dem
Volke die Religion zu erhalten, erfcheinen. Vortreftlich
find hier feine Unterfuchungen und Erwägungen zur Beantwortung
der Frage, wie es fich erklärt, daß Friedrich IL,
der perfönlich kaum eine pofitive Stellung gegenüber
der überlieferten Religion feiner Untertanen hatte, das
erwähnte durch und durch pietiftifch gehaltene Reglement
unter feinem Namen mit Gefetzeskraft ausgehen laffen
konnte. Vielleicht hat Smend bei der Beantwortung
diefer Frage das Gewicht der perfönlichen Entfcheidung
des Königs zu hoch angefchlagen. Diefer wird bei feiner
Zuftimmung zu dem Erlaß des Reglements ftärker durch
die pädagogifche Autorität Heckers, der dasfelbe ausgearbeitet
hat, beeinflußt worden fein, als es den An-
fchein hat, und wird fich auch bei diefem Regierungsakte
als erften Diener des Staates angefehen haben. Nicht
zutreffend ift es, wenn Smend zur Charakterifierung des
Reglements S. 10 fagt: .Die Kinder haben fich in den
Schulen Friedrichs d. Gr. in 30, fage 30 wöchentlichen
Stunden ausfchließlich religiöfen Gegenftänden zu widmen;
täglich 5 Stunden! Dazu kommen nochmals 5 Stunden
am Sonntag'. Eine genauere Zählung befchränkt die Zahl
der religiöfer Befchäftigung zugewiefenen Schulftunden
auf 16'/2 im Winter und ermäßigt fie auf die Hälfte im
Sommer. Am Sonntag haben die Kinder nur am Haupt-
gottesdienfte und der Katechismuslehre des Predigers
teilzunehmen; 5 Stunden kann man doch daraus nicht
zufammenrechnen. Diefe Beanftandung der Smendfchen
Zahlen foll natürlich nicht in dem Sinne verftanden
werden, als habe Hecker das richtige Zeitmaß für den
Religionsunterricht auch in der Gegenwart vorgefehen;
fie foll nur eine tatfächliche Berichtigung fein. — In dem
zweiten Teile feiner Rede entwickelt Smend dann feine
Anflehten darüber, wie dem Volke die Religion durch
die Schule erhalten werden kann und foll.

Hier wird u. a. getagt: .Auch der Staat, dem wir angehören, ift
Religionslehrer' S. 20. .Weil er Träger der allgemein menfehlichen
Kultur ift, fo geht feine Lehraufgabe auch im Religionsunterrichte über
die der Kirchen hinaus' (ibi). Es ergibt fich ,die notwendige Forderung,
daß innerhalb unterer Schulen die Religion aus dem Rahmen des rein
Kirchlichen heraus und als das wichtigfte Ingredienz und Ferment unferer
allgemeinen Bildung und Kultur in die Erfcheinung trete' S. 23. Im
Zufammenhang damit wird ,der Gedanke der Einheitsfchule . . . fich recht
dringend dem allgemeinen Nachdenken empfehlen' (ibi). ,Der mit dem
fchulmäßigen Religionsunterrichte betraute Lehrer muß viele freie Bewegung
haben' S. 24. ,Es ift von keinem Lehrer zu verlangen, daß er
Religionslehrer fei, wenn er Gewiffensbedenken zu erkennen gibt'. Er
muß dann davon befreit werden. ,Ich würde fogar ein befonderes
Honorar für diefe Fälle in Vorfchlag bringen, müßte ich nicht fürchten,
dadurch etwa einen falfchen Ehrgeiz zu erwecken' S. 25. In Sachen des
zwangweifen Religionsunterrichtes von Diffidentenkindem .leiftet der Staat
den Kirchen Dienfte, die fie nicht begehren dürfen, um der Religion
willen' | S. 26. Die eigenartige Würde des Staates ift bedroht, ,fo lange
er an irgend einem Punkte das Odium des Kirchendieners auf fich ladet,
oder gar das des Religionszwanges erträgt' S. 27.

Die in diefem zweiten Teile der Rede vorgetragenen
Gedanken find an fich nicht neu. Der begrenzte Umfang
einer Rede fchließt eine erfchöpfende Begründung der-
felben aus. Es konnte nur einige Schlaglichter nach
diefer Seite hin zu werfen verfucht werden, Schlaglichter,
die weniger blenden, als das Unterfuchungsfeld aufhellen
wollen. Dafür wird auch derjenige dem Redner dankbar
fein, welcher die Dinge, um die es fich handelt, anders

als diefer beurteilt. Ich greife nur einen Punkt heraus.
So lange die Staatsfchule gefetzlich überwiegend als
Konfeffionsfchule organifiert fein wird, kann doch kein
Zweifel darüber beftehen, daß wenigftens der Lehrer der
einklaffigen Schule auch konfeffionellen Religionsunterricht
an ihr zu erteilen haben wird. Es ift fchlechthin
undenkbar, daß er an ihr vollwertig feinen Dienft ohne
denfelben ausrichten kann. Wer fich dem Lehrerberufe
widmet, muß wiffen, welche Verpflichtungen derfelbe in
allen feinen Einzelheiten in fich fchließt. Mit demfelben
Rechte, mit welchem er feine Entbindung vom Religionsunterrichte
beanfpruchen dürfte, könnte ein undeutfeh
denkender Lehrer wegen feiner franzöfifchen, dänifchen,
polnifchen oder fozialdemokratifchen Gefinnung den An-
fbruch erheben, von der Erteilung des nationaldeutfchen
Gefinnungsunterrichtes befreit zu werden. Gewiß wird die
Schulverwaltung in vereinzelten Fällen billige Rückficht
auf bezügliche Gewiffensbedenken der Lehrer nehmen
dürfen, wo es, wie an mehrklaffigen Schulen, ermöglicht
werden kann. Aber es darf fich dabei doch immer nur,
fo lange die gegenwärtigen Schulorganismen beftehen,
um vereinzelte Ausnahmefälle handeln, die als folche
auch zu charakterifieren fein werden. Eine ganz andere
Frage ift es, ob fich diefe Schulorganismen mit konfeffio-
nellem Religionsunterrichte, wie fie der Staat gefchaften
hat, auf die Dauer halten werden, ob wir uns nicht vielmehr
einer Zeit entgegenbewegen werden, wo die Kirchen
die Erteilung des religiöfen Unterrichtes auch der Schulkinder
ganz wieder in die Hand zu nehmen haben werden.
Die Leitung diefes Unterrichtes ift ihnen ja in Preußen
verfaffungsmäßig zugefichert. Aber, ehrlich geftanden,
in der Praxis hat diefe Beftimmung die evangelifchen
Kirchengemeinfchaften diefes Landes nur bis zu dem
Grethchenempfinden herabgedrückt, welches fich in dem
Bekenntnis ausfpricht: ,Und fag' zu allen Sachen ja'!
Man darf hoffen, daß das in der Zukunft anders wird,
und dann wird fich die Erfüllung der Aufgabe, dem Volke
die Religion zu erhalten, naturgemäß anders geftalten,
als fie von Smend in feiner Rede fkizziert ift.

Göttingen. K. Knoke.

Schäfer, Paft. Diakoniffenanft.-Dir. D. Theodor: Die weibliche
Diakonie, in ihrem ganzen Umfange dargeftellt.
Dritte, verb. u. bis auf die Gegenwart fortgeführte Aufl.
1. Bd. Die Gefchichte der weiblichen Diakonie.
Potsdam, Stiftungsverlag 1911. (VIII, 302 S.) 8°

M. 4.50; geb. M. 5.50

Jeder, der das Schäferfche Buch fchätzen gelernt hat,
wird mit dem Verfaffer die Freude teilen, daß fein Werk
trotz feines Umfanges eine dritte Auflage erleben darf.
Nicht ohne Erwartung lieft man auf dem Titel ,ver-
befferte und bis auf die Gegenwart fortgeführte Auflage'.
Spricht doch in diefem Buch ein ehrwürdiger Altmeifter
auf dem Gebiet der weiblichen Diakonie zu uns. Die
bewährten Vorzüge der auch für ein einfaches Verftänd-
nis berechneten Darfteilung find in der Tat auch der neuen
Auflage erhalten geblieben. Nicht nur den Diakoniffen-
Häufern felbft, fondern jedem Freund der Sache wird es
willkommen fein, daß in dem Kapitel ,Das Wachstum der
Diakonie in Deutfchland' (VI) und in dem ,Die Geftaltung
der Diakonie in den außerdeutfehen Ländern' (VII) die
Überficht bis zur Gegenwart durchgeführt worden ift.
Ausführliche Darftellung erfuhren jetzt mit einer bio-
graphifchen Skizze Bodelfchwinghs Bethel und Dresden
außer den älteren Häufern Elifabeth-Berlin, Straßburg
(Härter) und Neuendettelsau (Löhe) und felbftverftändlich
Kaiferswerth. Die übrigen Häufer find kürzer charak-
terifiert, aber auch ihre wichtigften Arbeitsgebiete und
Perfonalien bis einfchließlich 1910 ergänzt. Schäfer ift
diefer Aufgabe mit großer Sachkenntnis und feiner Diskretion
nachgekommen. Auch die ausländifchen An-