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Ausgabe: | 1911 |
Spalte: | 625-627 |
Autor/Hrsg.: | Fliedner, Georg |
Titel/Untertitel: | Theodor Fliedner. Leben und Wirken. II. Band 1911 |
Rezensent: | Achelis, Ernst Christian |
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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 20.
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fchied, dies alles tritt in der Darlegung nicht deutlich
genug hervor. Der wefentliehe Unterfchied lag gar nicht
in der Theorie feines Myftizismus, fondern in der Praxis,
auf die er feinen Anhängerkreis verpflichtete; fo verlangte
er von feinen Jüngern talmudifches Wiffen und Sichte
folches unter feinen Anhängern zu verbreiten. Er befaß
nämlich, im Gegenfatz zu den andern Häuptern des
Chaffidismus, eine ausgebreitete Belefenheit im talmu-
difchen Schrifttum und verftand fich auf geiftvolle Auslegung
desfelben. Jedoch von neuen Impulfen oder
fchöpferifchen Gedanken ift nirgends eine Spur zu entdecken
. Selbft feine Märchen und feine phantaftifchen
Erzählungen, denen er feine große Popularität verdankt,
find nur weit ausgefponnene Gleichniffe, wie fich ihrer
die chaffidifchen Prediger zu bedienen pflegten. Dabei
fehlt den Märchen meift der frifche, anschauliche, farbenreiche
Zug, es laufen zu viele abftrakte oder abftrufe
Trivialitäten zwifchen mit. Er war ein fcharffinniger
Phantaft, kein wirklicher Denker, ebenfo wenig ein My-
ftiker von tiefer Intuition. Wie die chaffidifche Sekte
überhaupt, verhielt er fich bildungsfeindlich und ging
über fie noch hinaus, wenn er die rechtgläubige Philo-
fophie des Maimonides verketzerte, obfchon er aus deffen
Werken feinen ganzen philofophifchen Befitz gefchöpft
hatte. Über die literarifchen Produktionen Nachmans
hat fich der Verfaffer gar nicht geäußert, obwohl ein Verzeichnis
und eine Befprechung der in Deutfchland fchwer
zu erlangenden Bücher fehr wünfchenswert gewefen wäre.
Nachmans fchriftftellerifche Geftaltungskraft fcheint nicht
fehr bedeutend gewefen zu fein, denn felbft der noch zu
feinen Lebzeiten 1809 erfchienene 1. Teil feines ,Likute
Mahran' (S. 79) ift von feinem Jünger Nathan geordnet
und herausgegeben (merkwürdig ift dabei, daß der Druckort
nicht angegeben wird). Sämtliche übrigen Schriften
wurden erft nach feinem Tode veröffentlicht und find
von demfelben Nathan redigiert, ohne daß man beftimmen
kann, wie weit fein Anteil an der ftiliftifchen Fixierung
reicht. Wir haben dies wenige hervorheben müffen, um
nachzuweifen, daß es der Darfteilung an Klarheit und an
Objektivität fehlt; fie glorifiziert den Mann, vielleicht in
dem Beftreben, recht objektiv zu fein, und verwifcht
Bild und Stimmung durch ganz unpaffende Parallelen.
Wie kann man nur von einem Verhältnis der deutfchen
Romantik zum Chaffidismus fprechen! Schleiermacher
hat es dem Verfaffer befonders angetan. Allen Refpekt
vor R. Nachman aus Brazlawl Gewiß, er war ein geift-
voller Talmudift und Myftiker. Ihn aber mit einem
Schleiermacher, diefem fchöpferifchen Genius erften Ranges,
der auf mannigfachen Gebieten der Geifteswiffenfchaft mit
feiner Geiftesfackel auf neue Wege hingeleuchtet hat, fo
ohne jede mildernde Bemerkung in Vergleich zu ftellen,
ift ebenfo abgefchmackt wie unverftändig. Auch der
deutfche Ausdruck läßt viel zu wünfchen. Trotz folcher
Mängel ift die Schrift jedem zu empfehlen, der fich über
diefe noch heute exiftierende Gruppe der Anhänger Nachmans
und ihr Verhältnis zum Chaffidismus informieren
will; fie enthält viel Neues und Belehrendes. Es wäre zu
wünfchen, daß der Verfaffer diefe feine Studien fortfetzt
und weiter veröffentlicht. Wir fetzen voraus, daß er
künftighin von einem gelehrten Kram, der feine Ausführungen
nicht fördert, fondern den Sachverhalt in ein
fchiefes Licht rückt, fich frei halten wird.
Pofen. Philipp Bloch.
Fliedner, P. em. Georg: Theodor Fliedner. Leben u. Wirken
. II. Band. (IX, 365 S. m. 1 Bildn.) 8°. Kaiferswerth
, Diakoniffen-Anftalt 1910. M. 3.50; geb. M. 4.50
Der erfte Band des Werkes (1908) ift in diefer Zeit-
fchrift 1910 Nr. 5, Sp. 152 f. zur Anzeige gebracht. Er
ftellte das Werden des Diakoniffenvaters dar bis zu den
erften Liebesanftalten in Kaiferswerth, dem Afyl und I
Magdalenenftift und der Kleinkinderfchule. Der zweite
Band, der Kaiferin und Königin Augufte Victoria zugeeignet
, zeigt uns Th. Fliedner in der Erfüllung feiner
großen Lebensaufgabe, die ihm nach und nach zuwächft
bis zu einer geradezu weltumfaffenden Wirkfamkeit. Die
tatfächlichen Verhältniffe find es, die kundwerdenden
Bedürfniffe und Notftände, von denen er als den von Gott
ihm gewiefenen Wegen fich leiten läßt, und keinem weicht
er aus; in Gehorfam gegen Gottes Leitung, in nie raftender
Arbeitsfreudigkeit und ftets wachfendem Liebesmut, ohne
auf feine Leibesfchwachheit und auf den Mangel an
Geldmitteln Rückficht zu nehmen, wird er von einer Unternehmung
zur andern geführt und hat überall trotz fchwerer
Drangfalszeiten die Durchhilfe Gottes zu rühmen. Mit
wachfendem Intereffe, das durch die ftreng fachliche und
warm beredte Darfteilung des Verfaffers in angenehmer
Weife belebt wird, fehen wir das erfte Diakoniffenhaus in
Kaiferswerth mit feinen Zweiganftalten, dem Krankenhaus,
dem Lehrerinnenfeminar, dem Waifenhaus entliehen, begleiten
wir Fliedner auf feinen zahlreichen Reifen in Deutfchland
, nach England, nach Nordamerika, nach Jerufalem
und fehen feine Diakoniffen überall bis Pittsburg und
Baltimore, Jerufalem und Konftantinopel, Smyrna und
Alexandrien, Bukareft und Beirut in ihrer felbftverleug-
nungsvollen Liebesarbeit durch Werk und Wandel ihren
Zeugenberuf für die Sache Chrifti erfüllen. Die zahlreichen
Briefe Fliedners, feine Reifebefchreibungen geben der
fachlichen Darftellung einen wertvollen perfönlichen Ein-
fchlag, und das fachliche Intereffe verbindet fich mit
ehrfürchtiger Hochfehätzung des feltenen und in feiner
Art wahrhaft großen Mannes. Es ift überaus anziehend
zu beobachten, wie Fliedner perfönlich mit feinem Werke
wächft und fich evangelifch vertieft. Der gefetzlich ftrenge,
wohl einmal auch fchrofife Zug feines Wefens bleibt unvermindert
; allein durch die Nötigung, unermüdlich an
die Liebe und die Gebefreudigkeit weiter Kreife zu
appellieren, durch die Erfahrung, welch reiche Liebe ihm
und feinem Werke entgegenkommt, verbindet fich mit
jener Strenge eine Lindigkeit und Liebenswürdigkeit feines
Charakters, die uns von der Bewunderung feines Wirkens
zur liebenden perfönlichen Teilnahme erhebt. Ein felbft-
lofer unermüdlicher Kollektant für feine Anftalten und
Unternehmungen, weiß er die weiteften Kreife bis zu den
höchften Spitzen für feine Sache zu erwärmen; befonders
an dem König Friedrich Wilhelm IV., an feiner Gemahlin,
der Königin Elifabeth, an Prinzeß Wilhelm und manchen
anderen hochgeftellten Perfönlichkeiten gewinnt er tatkräftige
Helfer und Förderer, wie anderfeits er durch feine
Erfahrungen und praktischen Ratfchläge, durch Sendung
feiner Diakoniffen nach der Charite und nach Bethanien in
Berlin und mehreren anderen Städten auch den Großen der
Erde unentbehrlich wurde. Nehmen wir dazu feine fchriftftellerifche
Wirkfamkeit in der Herausgabe einer Bilderbibel
, eines jährlichen Kalenders, des .Armen-und Krankenfreundes
' ufw., dazu feine ausgebreitete Korrefpondenz,
fo enthüllt fich uns eine Arbeitskraft und Arbeitslaft, die
uns befonders angefichts feines gebrechlichen Körpers
Bewunderung abnötigt.
Im 40. Kapitel: ,In Gottes Wort gegründet' wider-
fpricht der Verfaffer der weitverbreiteten Auffaffung, daß
Fliedner und das Kaiferswerther Diakoniffenhaus ein reformiertes
Gepräge trügen. Er fei von Herzen ein Mann
der Union gewefen, am liebften habe er an Luthers Schriften
fich gehalten, aber vor allem fei er ein Bibelchrift gewefen
. Wir bezweifeln das nicht; allein das Schließt das
reformierte Gepräge feiner Perfönlichkeit und feiner Anftalten
nicht aus. Die Bibel, die ganze Bibel, nur die
Bibel ift fein Palladium; das Alte Teftament fleht ihm
auf gleicher Stufe der Offenbarung, wie das Neue Teftament,
und unter den vielen Zitaten der hl. Schrift in feinen
Briefen und Reden wird das Alte Teftament bis zur Aus-
fchheßlichkeit bevorzugt. Bei neuen Unternehmungen wie
bei einfachen Entscheidungen fühlt Fliedner erft dann