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Ausgabe:

1911 Nr. 20

Spalte:

624-625

Autor/Hrsg.:

Horodezky, S. A.

Titel/Untertitel:

Rabbi Nachman v. Brazlaw. Beitrag zur Geschichte d. jüdischen Mystik 1911

Rezensent:

Bloch, Philipp

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 20.

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läßt B. fich abfichtlich nicht ein. Es genügt ihm mitzuteilen
, was die Berater Benedikts XIV über die Glaubwürdigkeit
der Legenden und Rechtmäßigkeit gewiffer
Fefte geurteilt haben (Vorr. S. VIIf.). Aber man begreift
es, daß diefer Mann, der eine wirklich wiffenfchaft-
liche Methode des Forfchens mit aufrichtiger Liebe zu
feiner Kirche, ja glühender Begeifterung für die alte
römifche lex orandi verbindet, eins der erften Opfer der
Enzyklika Pascendi geworden ift.

Breslau. P. Gennrich.

Erasmus Rotterdamus, Defiderius: De libero arbitrio Aia-
TQißi} sive collatio. Hrsg. von Prof. Lic.Johs. v. Walter.
(Quellenfchriften zur Gefch. des Proteftantismus. 8.Heft.)
(XXXIII, 92 S.) 8°. Leipzig, A. Deichert Nachf. 1910.

M. 2.80

Wieder eine neue Schrift zum Erasmusproblem! Zwar
Unterfuchung nur in der Einleitung, im übrigen Textausgabe
; für diefe aber find wir fehr dankbar, denn es ift
wohl fehr viel über die Kontroverfe Erasmus — Luther
gefchrieben worden, aber wie wenig die Texte gekannt
waren, zeigte die manchen neuen Auffchluß bietende
Unterfuchung von Zickendraht (vgl. diefe Zeitung 1910
Nr. 25); fie waren eben nicht allzuleicht zugänglich,
namentlich nicht die Erasmusfchrift. (Die Lutherfchrift
foll übrigens in derfelben Sammlung folgen, von Stange
herausgegeben.)

v. Walters Einleitung erläutert zunächft die Ent-
ftehungsverhältniffe der Diatribe, im Wefentlichen mit
Zickendraht übereinftimmend, doch lehnt er ab, daß Erasmus
die Anregung, über den freien Willen zu fchreiben,
aus England bekommen habe. Es mag fein, daß er Recht
hat, ganz ficher ift die Frage nicht zu entscheiden. Gut
hebt v. W. heraus, daß die Diatribe auch gegen Karl-
ftadt fich richtet, doch benutzt Erasmus Karlftadt mehr
als Folie, um ungereimte Konfequenzen aus Luthers Gedanken
zu brandmarken, als daß er ihn felbftändig wertete.
Mir fcheint nicht, daß Erasmus (fo v. W.) den Gedanken
gehabt habe, den Reformator auf eine Stufe mit dem
Orlamünder Schwärmer zu (teilen; er trifft in dem Dog-
matiker Karlftadt den Dogmatiker Luther. Große Mühe
hat fich v. W. gegeben in der Beftimmung der Uraus-
gabe der Diatribe; zu ganz ficheren Refultaten ift er
nicht gekommen, da ihm nicht alle in Betracht kommenden
Ausgaben zugänglich waren; doch hat er zu ziemlicher
Sicherheit erhoben, daß die 1524 bei Froben erfchienene
Ausgabe der Urdruck ift. Im Texte find übrigens die
Varianten herangezogen. Der Text ift tadellos hergeftellt
(nur S. 60 Z. 21 habe ich Bedenken, ob nicht die Lesart
instinctu richtiger ift und S. 6 Z. 20 lies quae ftatt qua),
die Lektüre bei dem eleganten, nur an einigen Stellen
nicht glatten Latein ein Genuß. Eine forgfame Inhaltsangabe
und Klarlegung der dogmatifchen Gedanken unter
BerückfichtigungderfcholaftifchenProblemftellungen bietet
die Einleitung. Die Erläuterungen unter dem Texte find
ausreichend, eher noch zu reichlich als zu knapp.

S. 2 Anra. 3 ift das avw norafiwv aber mit ,der Lauf der Welt
ändert fich' fchlecht wiedergegeben, es muß heißen: gegen den Strom
fchwimmen! S. 9 Anm. 2 hätte bei dem Ilade im blute unfchuldiger
Kinder zwecks Heilung vom Ausfatz beffer auf die Legende von der
donatio Constantiui hingewiefen werden muffen anftatt auf den .armen
Heinrich'. S. 79 Z. 7 ift die Anfpielung auf 1 Kor. 9, 24. überfehen.

In §4 der Einleitung behandelt v. W. ,die dogmatifchen
Gedanken der Diatribe' und geht hier auf die Theologie
des Erasmus näher ein. Er betont fehr ftark, daß Erasmus
mit fcholaftifchen Problemen arbeitet und auch inhaltlich
der Scholaftik nahe fteht. ,Wir werden Erasmus
nicht gerecht, wenn wir bei ihm einen optimiftifchen
Moralismus konftatieren wollten, wie etwa bei den eng-
lifchen Deiften; vielmehr fteht E. der Scholaftik näher als
dem Deismus'. Darin ftimme ich v. W. für diefen Punkt
zu. Auch dem kann ich beiftimmen: ,E. ift weit davon I

entfernt, die fcholaftifche Gnadenlehre überwunden zu
haben'. Aber wenn nun v. W. weiter fagt: ,über ein
Schwanken zwifchen Thomas, Alexander und Duns Scotus
ift er nicht hinausgekommen', fo ift das zwar inhaltlich
richtig, aber v. W. überfieht, daß gerade in diefem
Schwanken etwas Neues deckt. Erasmus hat hier Probleme
gefpürt, das hebt ihn über diefe Scholaftiker hinaus
, v. W. ift viel zu fchnell, offenbar im Anfchluß an
Hermelink, bereit, Erasmus auf die Seite der Reaktion
zu fetzen. ,Die Diatribe berechtigt uns, E. trotz aller
feiner Kritik an Theologie und Kirche denjenigen Hu-
maniften zuzuzählen, welche den Übergang zur Gegenreformation
haben vorbereiten helfen' (S. XXXI), ja, es
heißt, ,daß bei E. antifupranaturaliftifcheTendenzen, wenn
überhaupt (!, von mir gefperrt), fo doch nur in befchränk-
tem Maße anzunehmen find'. Ein folches Urteil wird aber
nur möglich, wenn man über die Feinheiten bei E. hinweglieft
.

Ich kann hier die einzelnen Stellen aus der Diatribe nicht alle
analyfieren, aber einige möchte ich doch namhaft machen. Z. B. S. 9
die ängftliche Scheu vor öffentlicher Polemik gegen die Beichte quod
videam plerosque mortales mire propensos ad flagitia, quos nunc ut-
cunque cohibet aut certe moderatur confitendi necessitas —■ fo kann nur
urteilen, wer relativiert und Bildungsfchichtungen annimmt. Quantam
fenestram haec vulgo prodita vox innumeris mortalibus aperiret ad im-
pietatem! (S. 10). Vor allem S. 14fr. die außerordentlich feinen Ausführungen
über das Ungenügende des Prinzipes der dilucida scriptum. Ad
haec, cum Spiritus non iisdem suggerat omuia, labi fallique potest alicubi
etiam is, qui habet spiritum. Mag das Erasmus dann auch Empfehlung
der Tradition werden und mag er auch von der Einheit der Schrift
überzeugt fein (S. 19 Z. 4L), er hat doch hier Probleme gefpürt, die
Luther überhaupt nicht fühlte. Wie klar ftellt er S. 86 f. die Frage der
Theodizee auf Grund der verfchiedenartigen Verteilung der Geiftes- und
Körpergaben in der Menfchheit! Oder die Kritik des Sündenpeffimismus
S. 88: cum aiunt etiam illos, qui per fidem iustificati sunt, nihil aliud
quam peccare adeo, ut amando deum et fidendo deo reddamur digni
odio dei, nonne vehementer hic faciunt parcam dei gratiam, quae sie
iustificat hominem per fidem, ut tarnen adhuc nihil aliud sit quam ipsum
peccatum? Das klingt ganz ähnlich wie Semmlers Abneigung gegen
Auguftin in feiner Autobiographie und liegt auf der Linie der Aufklärung.

Und was das Grundproblem betrifft, Gnade und freier
Wille, fo kann ich nur wiederholen, was ich zu Zickendrahts
Auffaffung fagte: Erasmus hat den Vorzug vor
Luther, daß er die Zweiheit der Faktoren beibehält. Und
daß er — was v. W. übrigens auch mit Recht betont —
kein kraffer Pelagianer ift, zeigen feine tiefen und frommen
Ausführungen z. B. S. 74h, 78, 82 u. ö.

Zürich. Walther Köhler.

Horodezky, S. A.: Rabbi Nachman v. Brazlaw. Beitrag
zur Gefchichte der jüd. Myftik. Berlin, M. Poppelauer
1910. (87 S. m. 1 Taf.) gr. 8° M. 2.50; geb. M. 3.20

Der Verfaffer hat das Verdienft, über die in Deutfch-
land fehr wenig gekannte Sekte der Chaffidim, zu der
fich die breiten Mafien der Judenfchaft in Galizien und
Halbafien bekennen, fchon manchen wertvollen Auffchluß
gegeben zu haben. In der vorliegenden Monographie
wird eine der hervorragendften Geftalten unter den
Führern des Chaffidismus, den ,Zaddikim', wie fie bezeichnet
werden, behandelt, Rabbi Nachman von Brazlaw
(oder eigentlich Boryslaw).

Nachman ben Sfimcha, geboren 1771 in Miedziborz
(Gouvernement Podolien), geftorben 1811 in Uman
(Gouvernement Kiew), war ein Urenkel des Stifters der
Chaffidimfekte, heiratete zu 14 Jahren, überließ fich bald
darauf einer übertriebenen Askefe und faßte den Plan,
eine Reform oder Verjüngung des Chaffidismus herbeizuführen
, der fich zugunften der Zaddikim verweltlicht
und fchematifiert hatte.

Ob er fich dadurch die heftige Feindfchaft und
leidenfehaftliche Verfolgung der Zaddikim zugezogen hat,
oder durch fein hochgefteigertes Selbftgefühl, das an
Größenwahn grenzte, oder durch Einführung der Beichte
vor dem Zaddik, überhaupt — worin feine Myftik von
| der des derzeitigen Chaffidismus fich grundfätzlich unter-