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Ausgabe:

1911 Nr. 19

Spalte:

599-601

Autor/Hrsg.:

Lemme, Ludwig

Titel/Untertitel:

Theologische Enzyklopädie nebst Hermeneutik 1911

Rezensent:

Eck, Samuel

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 19.

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ftiftet, fo ift er geneigt, im Anfchluß an Herrmann und
die Marburger Kantfchule die religiofe Wahrheit nur im Gebiet
der Ethik zu begründen. Der Ubergang dazu in diefen
fchwankenden Sätzen ift nicht recht überzeugend: ,Bei
diefem Ergebnis fcheint es ratfam zu fein, den Begriff
der Wahrheit für die Religion völlig beifeite zu lauen,
jedenfalls ihm nicht die Herrfchaft im Gebiete der Religion
einzuräumen, fondern ihm höchftens ein Teilgebiet in der
Sphäre des religiöfen Lebens zuzuweifen' (S. 52).

Aber es würde über den Rahmen einer Befprechung
hinausführen, auf diefen ftrittigen Punkt näher einzugehen.
Wir begnügen uns mit einem nachdrücklichen Hinweis
auf die wertvolle und an fachlichen Bemerkungen reiche
Studie B.s. Sie leiftet trotz der fcharfen Kritik an Euckens
Religionsphilofophie doch im Grunde mehr für ein wirkliches
Verftändnis derfelben als die übliche kritiklofe
Verehrung des berühmten Schriftftellers. Sie fchließt
auch durchaus nicht eine Würdigung der bedeutfamen
Leiftungen Euckens auf dem Gebiete der Weltanfchau-
ung und Philofophie aus, fondern ermöglicht es vielleicht
erft recht, fich der hinreißenden Begeifterung und der
warmherzigen Religiofität, die die Schriften Euckens durchweht
, zu erfreuen, auch wenn die erkenntnistheoretifche
Begründung feiner letzten Ergebniffe fich als nicht zureichend
erweifen follte.

Köln. L. Vietor.

Lemme, Prof. Geh. Kirchenr. Dr. Ludw.: Theologifche
Enzyklopädie nebft Hermeneutik. (X, 196 S.) 8°. Berlin,
M. Warneck 1909. Geb. M. 3.60

Diefe Enzyklopädie zerfällt, von der Hermeneutik
abgefehen, in zwei Hauptteile: 1. die Begründung der
Theologie als Wiffenfchaft S. 10-62; 2. der Organismus
der theologifchen Wiffenfchaften S. 62—160. Dem Verf.
ift der erfte Teil der wichtigfte. Auf ihn bezieht es
fich, wenn er im Vorwort von einem neuen Wege redet,
den er eingefchlagen habe (vgl. S. 13). Der Weg Poll
der gegenwärtigen Lage der Theologie entsprechen, die
die Abwehr der profanen Bestreitungen ihres wiffen-
fchaftlichen Charakters fordert. Die Säkularisierung der
Theologie (S. 9) durch die allgemeine Religionswiffen-
fchaft bedeutet die Aufhebung der Geltung der christlichen
Lehre oder gar des gefchichtlichen Christentums
(S. 26. 28). Gegen fie wird der einft von Lemme fo
heftig befehdete A. Ritfehl mit und neben Schleiermacher
als willkommener Kronzeuge aufgerufen (S. 21.
27 f. 31. 7g) trotz Seitenblicken auf feinen gefchichtlich
orientierten Rationalismus (127) oder feine entwickelungs-
gefchichtliche Auffaffung (39; aber der Entwickelungs-
gedanke foll fchon Akt. 14, 16. 17,26. Rom. 1. Gal. 4 für
das Verftändnis der Menfchheitsgefchichte fruchtbar gemacht
fein 18!) Wo der Feind zu fuchen ift, darüber
bleibt man in diefem Buche nicht im Unklaren. Die Begründung
der Theologie als Wiffenfchaft wird in vier
Abfchnitten geboten: 1. Ableitung der Religionswiffen-
fchaft aus dem Gefamtwiffen: die Möglichkeit eines folchen
oder einer Einheit alles Wiffens fordert Verf. gleich im
erften Satze feines Buches aus der Abfolutheit Gottes, die
eine Einheit in fich fchließt und die Welteinheit ficher-
ftellt. In der nicht ganz deutlichen Gliederung diefes
Wiffens gehört die Religionswiffenfchaft einerfeits der Ge-
fchichtskunde, andrerfeits der Pfychologie an. Da aber
diefe auf eine Dialektik zurückblickt und, wie es fcheint,
in Metaphysik ausläuft, zu der fich die Gefchichtsphilo-
fophie nur als Ableger verhält, fo fleht die Religionswiffenfchaft
mit fehr verfchiedenen Einzelwiffenfchaften
in Verbindung. Allein fo weit bildet fie oder wenigstens
ihr grundlegend philofophifcher Teil trotz allem gefchich-
lichen Inhalt eine rein formale Disziplin. Erft 2. auf dem
Grunde einer pofitiven religiöfen Überzeugung oder der
Identifizierung der religiöfen Selbftgewißheit mit einer be-

I ftimmtenReligion kommt es zu einer Auseinanderfetzung
zwifchen allgemeiner Religionswiffenfchaft und chriftlicher
Theologie oder zu einer Umwandlung jener in diefe. Nur
wer religös im Reiche Gottes lebt, kann es wahrhaft verliehen
oder feine Urkunden ihrem Wefen gemäß auslegen (180 f.),
nur ihm wird der Unterfchied der einen Heilsgefchichte von
allgemeiner Religionsgefchichte deutlich (70). Ift alfo eben
diefe oder die religionsgefchichtliche Methode oder die
moderne religionsgefchichtliche Schule (Bouffet, Wernle,
Weinel, A. Meyer, Gunkel, Heitmüller [27] — Troeltfchs
Name ift vermieden; über Wrede vgl. 31) der PVind, fo
bedeutet die Behauptung, daß fich Theologie von allgemeiner
Religionswiffenfchaft durch den grundlegenden
Zufatz perfönlicher religiöfer Überzeugung unterfcheidet,
die runde Verneinung des christlichen Charakters der genannten
Forfcher. Ich nehme an, daß dem Verf. in feinem
fyftematifchen Unterfcheidungsdrang gar nicht zum Bewußtfein
gekommen ift, welche unerhörte Befchuldigung
er damit ausfpricht — und das in einem Buche, das für
Studenten gefchrieben ift! Diefe Theologie als Wiffenfchaft
hängt 3. an der Abfolutheit des Chriftentums, diefe
wieder an der Abfolutheit des Begründers der chrift-
lichen Religion. Gleiche Anfprüche andrer Religionen werden
abgelehnt, derjenige des Chriftentums aus dem, allem
religionsgefchichtlichen Prozeß und aller evolutioniftifchen
Erklärung entrückten, himmlifchenUrfprung des eingebor-
nen Sohnes Gottes begründet^). Wir ftehenauf dem Boden
des alten Dogmas. Und zwar wird diefes ausdrücklich
in der Formulierung gebilligt, die es durch Irenäus, Atha-
nafius, Gregor v. Nyffa erfahren habe, daß Gott Menfch
geworden ift im Gottmenfchen, damit die Menfchen vergottet
werden. Allerdings ift der Ausdruck Vergottung
unvorfichtig; aber inhaltlich wird er von apoftolifchen
Ausfagen gedeckt: 2 Tim. 1, io> 2 Petr. 2,2; Akt. 2: Geiftes-
ausgießung = Entstehung einer neuen Kreatur oder pneu-
matifcher Perfönlichkeit aus unvergänglichem Samen 45 f.
Aber wie weit diefe Rehabilitation des Dogmas von
altproteftantifcher Orthodoxie abliegt, zeigen die wiederholten
Invektiven gegen die Infpirationslehre; 15: Götzendienst
oder Apotheofe des heiligen Buchstabens; 19, 69:
Wortgötzendienft; 169 fr. Nicht mehr die Bibel garantiert
das Dogma, fondern umgekehrt das Dogma die Bibel,
denn L. trägt eine wunderliche Unterfcheidung der reproduktiven
wiffenfehaftlichen Exegefe von der produktiven
Auslegung des Religionsftifters (vgl. 35: religiöfe
Genialität des Religionsftifters) vor, der in fouveräner
Schriftbeherrfchung die, übrigens zweifelhafte, gefchicht-
liche Bedeutung der A.T.lichen Schriften bestimmt (165).
Uber die Not freilich, die für den reproduktiven Exe-
geten nun entlieht, unterrichtet L. feine Lefer nicht.
Denn die des Schutzes der Infpiration beraubten biblifchen
,Urkunden' (68 f. 181) können nun von fich aus natürlich
keine Bürgfchaft für die ,abfolute Offenbarung' bieten,
und doch wird die Abfolutheit des ,Selbftbewußtfeins
Jefu'42ff. durch unterfchiedslofe Benutzung der Synoptiker
und des Jon., der Paulinen und der Paftoralbriefe ficher-
geftellt. Wenn das nur keinen gefährlichen Zirkel ergibt!
Endlich folgt 4. ,Die Entftehung der Theologie auf dem Boden
der abfoluten Religion'. Was in fabulierenden Anfätzen
fchon die Naturreligionen, ernfthafter die Gefetzesreli-
gionen anstreben, das Weltbewußtfein in der Richtung auf
Wahrheitserkenntnis in Bewegung zu fetzen, gelangt allein
auf Grund der Verkündigung des fleifchgewordenen Wortes
Gottes zum Ziel. Alfo ift Theologie als Glaubens-
wiffenfehaft nur im Christentum nicht nur möglich, fondern
notwendig. Sie entspringt hier unmittelbar aus
,der christlichen Gewißheit und Überzeugung „des"
Wahrheitsbefitzes' (58 f.). Allerdings hat L. nun an der
Gefchichte diefer Theologie mancherlei auszufetzen. Wenn
er es aber (59) nicht ausdrücklich rügt, daß fie in der
alten Kirche wenigstens auch in .Wechselwirkung mit der
helleniftifchen Kultur' entftanden ift, fo wird es Lefer
feines Buches geben, die die ständige Wechfelwirkung