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Ausgabe:

1911

Spalte:

593-596

Autor/Hrsg.:

Beyerhaus, Gisbert

Titel/Untertitel:

Studien zur Staatsanschauung Calvins mit besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffs 1911

Rezensent:

Lobstein, Paul

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hinaus vermehren will; aber von Anfängen der Pentateuch-
kritik nicht eine Spur! Auf die Frage: kann die Kirche
einen neuen Artikel zum Glauben erheben, der vorher
nicht Glaube war?, antwortet Pecock: einen von Gott geoffenbarten
Glauben kann die Kirche nicht neu dekretieren
, fondern bloß Glauben an kirchliche Verordnungen
wie Fafttage, Fefttage etc. auf Grund menfchlicher Zu-
verläffigkeit. Endlich auf die Frage: muß die Kirche als
zum Heil notwendigen Glauben einen Artikel annehmen,
der nicht wörtlich in der Schrift fteht oder aus ihr folgt?,
antwortet Pekock ebenfalls verneinend und weift deutlich
der Kanonifation der Heiligen eine gegenüber den Arti-
culi fidei untergeordnete Stellung zu, ja er geht direkt
zum Angriff über auf die Glaubensverpfüchtung auf Chrifti
Höllenfahrt mit dem hiftorifchen Argument, daß diefer
Satz im urfprünglichen Apoftolikum nicht enthalten fei
und darum nicht zu den von den Apofteln erhobenen
Glaubensfätzen gehöre. Dies wie auch die Unterfcheidung
verfchiedener Rechtsbeftandteile im NT, der unfehlbaren
Worte Chrifti und der apoftolifchen Gefetze, von denen
der Papft dispenfieren kann (weil der Papft von gleicher
Autorität ift mit jedem oder mit dem größten der Apo-
ftel) und ähnliches mehr läßt uns die relative Freiheit
diefes Klerikers in bezug auf die zu feiner Zeit lebhaft
verhandelten kirchlichen Rechtsfragen erkennen. Wie er
im Eingang die angebliche Irrtumslofigkeit des Klerus
verwirft, fo fucht er auch den kirchlichen Glaubens- und
Sittengesetzen gegenüber das Vernünftige, Maßvolle, Einfachere
dem Extravaganten überall vorzuziehen, er gehört
zu den modernen und klugen Kirchenmännern, welche
das Anfehen der Kirche durch eine gewiffe Rationalität und
Moderation zu wahren fachen; aber irgend etwas Refor-
matorifches oder Revolutionäres liegt auch hier nirgends
vor, und eine wirklich hiftorifche Würdigung müßte überall
ftatt der Analogien aus Renaiffance und Aufklärung
diejenigen aus der Spätfcholaftik und der fpäteren mittelalterlichen
Rechtsgefchichte herbeiziehen. Die finguläre
Stellung des Autors inmitten des englifchen Klerus feiner
Zeit foll mit all dem nicht beftritten werden, fie ift allein
fchon durch feinen berühmten Prozeß uns verbürgt, aber
man muß fich hüten, aus der Singularität nun gleich eine
Modernität zu machen und aller Welt diefen grundkatho-
lifchen Bifchof als einen erften Renaiffancemenfchen vorzufallen
. Das ift nur da möglich, wo man fich vom
mittelalterlichen Katholizismus eine zu kleine und enge
Vorftellung macht, wo man für das reiche Maß des Rationalen
, das im Katholizismus Platz hat, der Nüchternheit
und Moderation, kein Verftändnis hat und die vortri-
dentinifche Flüffigkeit und Unabgefclftoffenheit der dog-
matifchen und juriftifchen Elemente geringer taxiert, als
fie wirklich war. Eine außerordentlich charakteriftifche
und individuelle Erfcheinung des englifchen Kirchentums
jm 15 s. wird Pecock bleiben, je gründlicher, d.h. je mehr
•m Zufammenhang mit der Kirche und Theologie feiner
Zeit man ihn ftudieren wird, wozu bis jetzt kaum ein
Anfang gemacht ift; ihn modernifieren dagegen heißt ihn
in feinem ganzen Sein und Wollen gründlich mißverftehen.

Bafel. Wernle.

Beyerhaus, Gisbert: Studien zur Staatsanfchauung Calvins

mit befonderer Berückfichtigung feines Souveränitätsbegriffs
. (Neue Studien z. Gefch. d. Theologie u. d.
Kirche. 7. Stück.) Berlin, Trowitzfch & Sohn 1910.
XVI, 162 S.) gr. 8° M. 5.60

Die Schrift B.s ift aus der mehrjährigen Teilnahme
•m Übungen erwachfen, die v. Bezold in feinem hiftorifchen
Seminar über die ,Publiziftik des 16. Jahrhunderts'
abhielt, und in deren Mittelpunkt die Perfönlichkeit
Jean Bodins ftand.

B.richtetfein Augenmerk hauptfächlich auf das Verhält-
nt-s der Calvinifchen Schriften zu einander und fucht den

Gedankengehalt derfelben klar herauszuarbeiten. Die eingehende
Berückfichtigung, die dabei Jean Bodin erfährt,
erklärt fich zunächft aus dem Gang der im hiftorifchen
Seminar geführten Unterfuchungen; fie findet aber auch
darin ,eine genügende Rechtfertigung, daß die Heranziehung
ähnlicher, mehr noch die Gegenüberftellung abweichender
Anflehten des franzöfifchen Publiziften die
Gedanken Calvins in größerer Klarheit erkennen läßt.'

Das erfte Kapitel ift der Prüfung der Erftlingsfchrift
Calvins, des Kommentars zu Senecas De dementia, gewidmet
(1—25). Sehr gefchickt bemüht fich B., die eigenen
Gedanken des Reformators aus dem Rahmen des von
Seneca gegebenen Stoffs zu löfen und aus ihren .oft
widerfpruchsvollen Wendungen, die durch den jeweiligen
Zufammenhang der zu analyfierenden Einzelftelle geboten
waren, ein klares Bild zu gewinnen. Die Betrachtungsweife
des Kommentars ift nicht nur von pofitiv-rechtlichen,
fondern auch von ethifch-politifchen Elementen beftimmt,
letztere treten uns in der Verpflichtung des Herrfchers
zur Verwirklichung des Gemeinwohls, in der Verherrlichung
der libertas fowie in der praktifchen Verwertung des fehr
eingehend erörterten Tyrannenbegriffs entgegen. Kamp-
fchultes und Doumergues Urteil über die antiabfolutifti-
fche Richtung des Seneca-Kommentars lehnt B. zwar im
allgemeinen ab; er will fie aber nicht gänzlich von der
Hand weifen, denn die von Calvin vertretene formelle
Entbundenheit des Herrfchers vom Gefetz findet ein
Gegengewicht und eine gewiffe Abfchwächung in den
gleichfalls ftark betonten ethifch-politifchen Forderungen.

Die im zweiten Kapitel behandelten .Probleme der
juriftifchen Bildungsgefchichte Calvins' (26—47) betreffen
Calvins Verhältnis zu den wiffenfehaftlichen Vertretern
der Jurisprudenz, vornehmlich die Beziehungen zu feinen
beiden Lehrern, Pierre Taifan de l'Estoile und Andreas
Alciat, deren Einfluß auf Calvin wir nicht näher zu be-
ftimmen vermögen. Auch über das Verhältnis Calvins
zur Jurisprudenz als Wiffenfchaft laffen fich nur Vermutungen
aufftellen. Indeffen hat B. die von Kamp-
fchulte, A. Lang und andern gegebene Deutung des im
Senecakommentar zum Ausdruck gekommenen Studien-
wechfels Calvins mit einleuchtenden Gründen widerlegt: die
Abkehr vom juriftifchen Studium ift nicht als ein gewalt-
famer Bruch zu denken, den.C. als eine glückliche Befreiung
empfunden hat. Der Übergang zum Humanismus
erfcheint vielmehr als der Ausdruck einer ruhigen und
ftetigen wiffenfehaftlichen Fortentwicklung, deren Ziel in
der durch Alciat mit begründeten .Renaissance' bereits
mehr oder weniger deutlich vorgezeichnet war: von dem
Studium des klaffifchen Rechts zu einer umfaffenden
Kenntnis des klaffifchen Altertums vorzudringen.

Das dritte Kapitel, das von .Calvins Souveränitätslehre
' (48 — 129) handelt, bildet den Hauptftamm der
Schrift B.s und zerfällt in zwei Abfchnitte ,Die Souveränität
Gottes in der Theologie' und ,Die Souveränität
Gottes in der Staatslehre'. Den Gedanken der Souveränität
Gottes unterfucht B. nach feiner fprachlichen Grundlage
und nach feinem begrifflichen Inhalt. In el fter Beziehung
unterfcheidet er unter den Gott beigelegten Herrfchafts-
bezeichnungen fünf Gruppen: maiestas, summna maiestas,
maieste;— summus rex, roy souverain, prince souverain;
— summum imperium, summa potestas, summa imperii
potestas; empire souverain, puissance, prineipaute, iuris-
diction souveraine; — avToxQarcoQ — lege solutus, legibus
solutus. Als wefentliche Merkmale der .Souveränität
Gottes' ergeben fich die beiden Inbegriffe, höchfte Macht
und höchftes Recht. Gott ift der abfolute Gefetzgeber
und Richter, er ift der Herr fowohl über den ordo na-
turae als über das jus naturae. Der Gedanke der Einheit
von Macht und Recht, wie er in der Souveränität
Gottes feine höchfte Verwirklichung findet, kommt in
Calvins Predigten über das Buch Fliob befonders wirkungsvoll
zum Ausdruck. Den Schluß diefes Abfchnitts
bildet eine Erforfchung der Entftehungsgründe des Calvin-