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Ausgabe:

1911 Nr. 18

Spalte:

569-570

Autor/Hrsg.:

l‘Houet, A.

Titel/Untertitel:

Zur Psychologie der Kultur. Briefe an die Großstadt 1911

Rezensent:

Drews, Paul

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Seite 1

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569

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 18.

570

fche Ethik den Frauen und der Ehe und damit auch dem
Familienleben nicht die ihm gebührende Stelle anweift.

Im zweiten Auffatz gibt M. eine gerechte und klare
Darftellung und Widerlegung der Gedanken von Ellen
Key. Gelegentliche Bemerkungen (z. B. S. 60) zeigen
freilich, daß er für die kirchliche proteftantifche Ethik
kein Verftändnis hat. Es wird aber eine durchfchlagende
Kritik gerade des modern-naturaliftifchen Standpunkts nur
da möglich fein, wo die Anerkennung der fittlichen Naturgrundlagen
des Gefchlechtslebens und der Ehe zu einer
pofitiven Würdigung ihres fozialethifchen Wertes kommt.
Dies ift bei M. nicht erreicht.

Sehr intereffant ift der letzte Auffatz über Pietätspflicht
und freie Berufswahl für den Hiftoriker nicht
weniger wie für den Sozialethiker. Nach M. ift grade
die Kirche nicht nur die Befchützerin der Frauenrechte
gewefen, fondern ihre Geltendmachung der Vorrechte
individueller Berufswahl (seil, zum Ordensftand) hat erft
dem Mädchen die Freiheit eigener Entfcheidung für Ehe
oder Klofter und damit auch für moderne Berufsfragen
erkämpft 1 — Man muß es dem Verf. laffen, daß er für
ethifche Konflikte in der Gegenwart (Ausgleich zwifchen
Freiheit und Gehorfam) befonnene, von einem edlen Geift
getragene Ratfchläge gibt. Aber prinzipiell ift jeder
mögliche Konflikt zu Gunften der katholifch-kirchlichen
Ideale entfehieden. Auch das chriftliche Familienleben ift
hochgefchätzt, aber es bleibt ein Faktor zweiten Ranges.
Wittenburg i. Weftpr. Ed. v. d. Goltz.

l'Houet, A.: Zur Plychologie der Kultur. Briefe an die
Großftadt. Bremen, C. Schünemann 1910. (VIII, 370 S.)
gr. 8° M. 5—; geb. M. 6 —

Wer l'Houets geiftvolles und intereffantes Buch ,Zur
Pfychologie des Bauerntums' (Tübingen 1905) kennt, der
weiß fofort, auf welchen Ton diefe .Briefe an die Großftadt
' geftimmt fein werden. Die moderne Großftadt ift:
für l'Houet, weil der Inbegriff der Hochkultur, zugleich
der Inbegriff aller Fäulnis, der Decadence, des vergifteten,
hinfiechenden Lebens. Dagegen ift das Bauerntum, ift
die Vergangenheit, vor allem das Mittelalter der Boden
jugendlichen, gefunden, echten Lebens. Auf diefen Gegen-
fatz ift alles geftellt, und fo find auch alle Uberfchriften der
einzelnen kleinen Stücke, deren das Buch 67 bietet, faft
ausnahmslos fchon gegenfätzlich formuliert. Z. B. .Raffe
und Mengerei'; .Häuslichkeit und Öffentlichkeit'; .Lebens-
fatt und lebenshungrig'; .Baumgott und Kulturgott'; .Bibel
und Zeitung' u. f. f. Diefe Stücke find unter vier Haupt-
gefichtspunkte geordnet: .Natur' (S. 22—95); .Religion'
(S. 96—176); .Moral' (S. 177—272); .Übrige Lebensgebiete'
(S. 273—339). Eine .Einleitung' (S. 1—21) und ein .Ausblick
' (S. 340—370) bilden den Anfang und den Ab-
fchluß. Es liegt von vornherein auf der Hand, daß diefe
fchroffe Gegenüberftellung vielfach auf Konftruktion beruht
und zu manchen Übertreibungen und falfchen Verallgemeinerungen
führt. Aber das fchließt nicht aus, daß
das fcharfe Auge l'Houets vieles, fehr vieles richtig fieht,
daß feine lebendige Empfindung inftinktiv in vielem das
Richtige wittert, daß feine gewandte, wenn auch nicht
immer flüffige Feder vieles in fchlagendfter und reizvollfter
Weife darftellt. Aber das Verkehrte feiner Anfchauung
einrenken zu wollen, ift verlorene Mühe. Man muß l'Houet
nehmen, wie er ift. Debattieren läßt fich mit ihm nicht. Zu
überzeugen ift er erft recht nicht. Er ift eben ein Mann
ausgeprägtefter Eigenart. Wer folche Erfcheinungen nicht
erträgt, der wird l'Houets Bücher ärgerlich zur Seite werfen.
AbST daß er fich damit um einen hohen Gewinn bringt,
>ft ficher. Es fteckt wirklich ein Goldgehalt in diefen
°ft wunderlichen Gedankengängen. Und langweilig wird
l'Houet nie. Dazu ift er zu belefen, zu vielfeitig gebildet
, zu ernft, zu innerlich bewegt. Wie das erfte Buch

l'Houets, fo ift auch diefes ein wertvoller Beitrag zur
religiöfen Volkskunde.

Halle a. S. Paul Drews.

Speculum Humanae Salvationis. Kritifche Ausgabe. Über-
fetzung von Jean Miedot (1448). Die Quellen des
Speculums und feine Bedeutung in der Ikonographie,
befonders in der elfäffifchen Kunft des XIV. Jahrhunderts
. Mit der Wiedergabe in Lichtdruck (140 Tafeln)
der Schlettftadter Handfchrift, ferner fämtlicher alten
Mülhaufer Glasmalereien, fowie einiger Scheiben aus
Colmar, Weißenburg etc. von J. Lutz und P. Perdrizet.
I.Bd. (XX,351 S.) 1907/09- — H.Bd. (140 u. 1 farb.Taf.)
1907/09. Fol. Leipzig, C. Beck. M. 120 —

Das Speculum humanae salvationis war feit langem
mehr genannt als gelefen. Ift es doch ,feit den Inkunabeldrucken
des XVI. Jahrhunderts nicht mehr in neuer Ausgabe
erfchienen' (VII). Ehedem war es anders. Das
bezeugt die einfache Tatfache, daß die Herausgeber Lutz
und Perdrizet nicht weniger als 205 Handfchriften allein
mit dem urfprünglichen lateinifchen Text zu verzeichnen
haben, ohne daß diefe Lifte irgend die Gewähr hätte, alle
noch exiftierenden Hff. zu umfaffen, und ohne die fehr
zahlreichen Überfetzungen, die noch vorhanden find, ins
Deutfche (31 Nummern, teilweife in Verfen, find feft-
geftellt), Franzöfifche, Englifche, Niederländifche und
Böhmifche. Es ift darum ein hohes Verdienft des Pfarrers
Lutz in Illzach und des Profeffors Perdrizet in Nancy,
daß fie in dreijähriger gemeinfamer Arbeit der Wiffen-
fchaft eine alte Quelle wieder aufgetan und zugänglich
gemacht haben, deren Kenntnis für die Gefchichte der kirchlichen
Kultur, Bildung, Literatur, Predigt und Frömmigkeit
einerfeits, der Kunft und Ikonographie am Ausgange des
Mittelalters andererfeits von grundlegender Bedeutung ift.

Die Verfaffer find mit hingebendem Fleiß und aller erforderlichen
Umficht der Überlieferung wie den im Stoff
gegebenen Problemen nachgegangen und ihre Unterfuch-
ungen und Forfchungen haben überrafchende und reiche
Ergebniffe. Vor allem dürfte ihnen der Nachweis gelungen
fein, daß das Speculum humanae salvationis 1324
in Straßburg von demfelben Ludolf von Sachfen verfaßt
ift, der fpäterhin, nachdem er 1340 aus dem Dominikanerorden
in den der Kartäufer übergetreten war, die Vita
Christi fchrieb; diefe Schlußfolgerung ift notwendig auf
Grund der Einficht, daß Ludolf in feine, in Profa ge-
fchriebene, Vita unbeforgt Verfe aus dem bzw. feinem
älteren Werke, dem in Reimen verfaßten Speculum, ohne
irgend eine Namensnennung herübernahm. Schon das
15. Jahrhundert kannte nicht mehr den wirklichen Verfaffer
: Jean Mielot, der Überfetzer des Herzogs Philipp
des Guten von Burgund, der 1448 das Speculum des
Ludolf ins Franzöfifche übertrug, nennt als Verfaffer
Vincenz von Beauvais; immerhin auch einen Dominikaner.
Lutz und Perdrizet veröffentlichen den Text des Speculum
nach einer Hf. der Hof- und Staatsbibliothek in
München, die fie als im Schlettftadter Johanniterklofter
gefchrieben nachweifen, im Textband und famt Bildern
in Fakfimile im Tafelband, außerdem den Text der fran-
zofifchen uberfetzung Mielots, geben aber dazu Erläuterungen
, Erklärungen und Unterfuchungen, deren Refultate
im Vorftehenden zum Teil bereits erwähnt oder angedeutet
find und die allen mit der Sache fich berührenden Frage-
ftellungen wie z. B. namentlich der fpätmittelalterlichen
Typologie und Ikonographie aufs förderlichfte dienen.
Es ift zu erwarten, daß das fchöne, auch in der Aus-
ftattung vortreffliche Werk nun noch andere proteftantifche
Gelehrte anlockt ähnlichen Studien aus dem fpäten
Mittelalter nachzugehen, und zu wünfehen, daß vor allem
die Verfaffer felbft, von denen Perdrizet bereits ein auch
hier einfehlägiges ausgezeichnetes Buch: La vierge de