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Ausgabe:

1911 Nr. 18

Spalte:

563-564

Autor/Hrsg.:

Ewald, Oskar

Titel/Untertitel:

Lebensfragen 1911

Rezensent:

Kirn, Otto

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Seite 1

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563

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 18.

564

hat. Hier lag der richtige Ausgangspunkt für eine zarte
und würdige Behandlung der Sache. Die Entschuldigung
mit der irdifchen Gebrechlichkeit ift in tieferen fittlichen
Fragen nicht weniger flach und feil als pharifäifche Verdammung
.

Eine Verfenkung in R.s Religion ift für uns überaus
intereffant. Sie ift typifch für eine gute Art von Aufklärungsfrömmigkeit
, die unfer Volk weithin befeelte, bis
im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einerfeits die neue
.Gläubigkeit' und anderfeits die Abkehr vom Chriftentum
die Herrfchaft an fleh zu reißen begannen. Es ift eine
Frömmigkeit, die dem nüchternen gefunden Hausbrot
gleicht. Sie erreicht weder die höchften Höhen noch die
tiefften Tiefen, hat aber doch Kraft genug bewiefen, breite
Kreife unferes Volkes geiftig zu tragen. Sie verdient darum
die Geringfehätzung nicht, die ihr feit dem gemeinfamen
Siege ihrer gläubigen und fkeptifchen Gegner in den meilten
Fällen zuteil wird.

Marburg a. d. L. H. Stephan.

Ewald, Oskar: Lebensfragen. Leipzig, S. Hirzel 1910.
(X, 213 S.) 80 M. 3-

Diefe Schrift, das Werk eines begabten philofophi-
lchen Schriftftellers, der fleh S. 18 fpeziell zu den Anregungen
Georg Simmeis bekennt, bietet eine Reihe
pfychologifcher Studien zur Ethik und Gefellfchaftslehre.
Die Einleitung, die in diefem Falle wirklich eine Einladung
zur Lektüre des Buches ift, zeichnet in feffelnder Weife
die heutige Lage. Soll die riefenhafte Entwicklung der
Technik das freie Geiftesleben nicht erdrücken, fo bedürfen
wir einer erhöhten Kultur der Innerlichkeit. Die
Wiffenfchaft kann dazu den Weg zeigen, indem fie uns
durch pfychologifche Unterfuchung mit dem Reichtum
unferer inneren Welt bekannt macht (S. 19). Ein Grundgedanke
des Verfaffers, der da und dort in neuer Beleuchtung
wiederkehrt, begegnet uns fchon hier an der
Schwelle des Buchs, daß nämlich Perfönlichkeit und Ge-
fellfchaft, weit entfernt Gegenfätze zu fein, vielmehr untrennbare
Korrelate darftellen, fofern der wahre Individualismus
nicht bloß das eigene Ich zur Geltung
bringt, fondern als Liebe zur Individualität auch andern
gerecht wird und ihre Entfaltung zu fördern ftrebt
(S. 15 f. 21). Die im Buche behandelten Themen find:
Selbfterhaltung, Tapferkeit, Egoismus, einfame Menfchen,
das Gefetz der Zahl, Gefellfchaft, Aufrichtigkeit, über
Tugenden und Lafter, der Rhythmus der Sympathie,
das Ideal der Vornehmheit, Erfüllung. Wir heben aus
der Fülle des hier Gebotenen nur einige Gedanken heraus.
Das Wefen des Egoismus wird durch die landläufige
Formel, er beftehe im Erftreben des eigenen Vorteils,
nicht getroffen, denn diefe befagt bei der Dehnbarkeit
und Leerheit des Begriffs .Vorteil' nichts beftimmtes; was
ihm zugrunde liegt, ift Stumpfheit des Gefühls ebenfo
für das eigene wie für das fremde Ich (S. 55). Auch
die Einfamkeit beruht nicht auf der äußeren Abge-
fchloffenheit von Menfchen — diefer kann das intenfivfte
Arbeiten für die Gefamtheit zur Seite gehen —, fondern
auf der inneren Verfchloffenheit für die Gefellfchaft.
Darum kann Einfamkeit im Plural und vollends Einfamkeit
zu zweien die tieffte Einfamkeit fein (S. 73 f.). In
origineller Weife zeigt der fünfte Auffatz, daß — entgegen
dem Sprichwort tres faciunt collegium — erft mit der
Vierzahl der Begriff der Gefellfchaft beginnt. Erft jetzt
können zwei Gefpräche geführt werden, Parteien ent-
ftehen und die Diftanz einen Grad gewinnen, der eine
Vermittlung notwendig macht. Über die Gefelligkeit
wird im folgenden Auffatz manches Treffende gefagt,
insbefondere, daß fie zwar die Darfteilung der Perfönlichkeit
fordert, aber doch nur in .gebundener Form', d. h.
in taktvoller Selbftbefcheidung erträgt (S. 116). Von der
Aufrichtigkeit fagt der Verf., daß fie zwar die Grundbedingung
der Gemeinfchaft bildet, aber in der Praxis

manche Einfchränkungen erleidet, nicht nur durch eine
nicht feltene krankhafte Suggeftibilität, fondern auch
durch das unverwerfliche Motiv der Scham. Der Auffatz
über den Rhythmus der Sympathie erörtert u. a. den
Unterfchied von Freundfchaft und Liebe im engeren Sinn
und bezeichnet die Sympathie als das Vermögen, feeli-
fche Möglichkeiten zur Wirklichkeit zu erheben (S. 179).
Nur feiten hat man den Eindruck, daß das Beftreben,
auch die verborgenen Unterftrömungen des Seelenlebens
an das Tageslicht zu heben, den Verf. zu gefliehten Deutungen
geführt hätte; in dem Auffatz über Tugenden
und Lafter fcheint mir diefe Gefahr nicht ganz vermieden
zu fein. Was diefe mannigfaltigen Studien zufammenhält
und ihren Titel .Lebensfragen' rechtfertigt, ift der einheitliche
Grundzug einer edlen Lebensauffaffung, die vielleicht
am anziehendften in der Studie über das Ideal der
Vornehmheit zum Ausdruck kommt. Der wahrhaft vornehme
Menfch, wird hier gefagt, ift nicht darauf ange-
wiefen, fich auf Koften anderer geltend zu machen; er
opfert fich auf und fchöpft feine Kraft aus einer idealen
Welt. Eben damit aber verneint er feine Perfönlichkeit
nicht; er bejaht fie vielmehr im ftärkften Maße dadurch,
daß er einen höheren Wert in fie aufnimmt (S. 194 ff).
Endlich darf nicht unerwähnt bleiben, daß eine lebendige
und anfehauliche Darfteilung, die nirgends an den ab-
ftrakten Ton der Schule erinnert, die Lektüre des Buchs,
dem auch der Verlag eine vornehme Ausftattung gegeben
hat, für nachdenkliche Menfchen zum Genuß macht.

Leipzig. O. Kirn.

Dunkmann, Pred.-Sem.-Dir. Lic. K.: Syftem theologifcher

Erkenntnislehre. (VI, 166 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert
Nachf. 1909. M. 3.50

Der Unterzeichnete hat vor kurzem eine andere
Schrift des felben Autors über ,Das religiöfe Apriori und
die Gefchichte' (Bertelsmann, 1910) zu lefen gehabt. Sie
erfchien ihm als ein wenig erfreuliches Zeugnis dafür,
was alles heutzutage von einzelnen Theologen in den
Begriff des Apriori hineingelegt, und welcher Mißbrauch
mit diefem Wort getrieben werden kann. So will er nicht
verhehlen, daß er nicht ohne Bangen an das vorliegende
Buch herangetreten ift. Der Gefamteindruck war fchließ-
lich doch ein erheblich günftigerer, als befürchtet wurde.
Immerhin ift eine knappe und klare Wiedergabe der
Grundgedanken mit einigen Schwierigkeiten verknüpft.
Wo irgend möglich, foll der Autor felbft reden.

Was diefer geben will, ift eine .theologifche Erkenntnislehre
', das heißt ,ein folches Syftem der Erkenntnislehre
, in welchem neben den Bedingungen aller möglichen
Erkenntnis, zugleich die Unterfchiedenheiten aller gegebenen
Erkenntnis, unter der herrfchenden Überordnung der
chriftlichen Erkenntnis, zum klaren Erweis gelangen'.

Vier Kapitell

Das erfte handelt von den .Kriterien der möglichen
Erkenntnis'. Verf. lehnt es ab von der Frage auszugehen,
was in der Erkenntnis fubjektiv, und was objektiv fei;
ebenfo von der Kantifchen Frage, was in der Erkenntnis
notwendig, und was zufällig fei; er erfetzt beide durch
das Problem: ,wie ift folche Erkenntnis, die Falfches und
Wahres enthält, möglich? das heißt genauer: welches find
die Maßftäbe, nach denen wir Falfches und Wahres unter-
fcheiden?' Die letztere Frage nimmt dann auch wohl die
Form an: ,wie ift Erkenntnis vom Realen im Unterfchied
von falfcher Erkenntnis möglich?' Darauf wird die Antwort
erteilt, daß, da ,das Reale' ,mit dem, was beftimmt
werden kann', zufammenfällt, es zwei .kritifche Maßftäbe
alles Realen oder alles Beftimmbaren' gebe: .nämlich die
Ideen des Unterfchiedenen und des Gleichen'. Denn ,was
nicht unterfchieden werden kann, kann nicht beftimmt
werden und alfo nicht erkannt werden'. Anderfeits könnte
.nichts unterfchieden werden, wenn gar keine Gleichheit
vorhanden wäre'. ,Wo nur ein Reales ift, da ift es' alfo