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Ausgabe:

1911

Spalte:

561-562

Autor/Hrsg.:

Ernst, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Der Zweckbegriff bei Kant und sein Verhältnis zu den Kategorien 1911

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 18.

562

Erfteren bezeichnet werden könnte. Aber auch abgefehen
davon und angenommen, der Verfaffer hätte Luthers
Gedanken unverkürzt zum Ausdruck gebracht, fo erheben
fich gegen den im letzten Teil des Büchleins angeflehten
Vergleich, oder vielmehr verflachten Ausgleich von Luther
und Kant, noch andere Bedenken. Laffen wir es offen,
ob man die ftarke Differenz, die auch nach K. zwifchen
Luther und Kant z. B. in der ,Chriftologie', nämlich nicht
nur in der Chriftuslehre, fondern vor allem in der religiöfen
Stellung zu Chriftus, befteht, als etwas Nebenfächliches
betrachten darf, und achten wir nur auf den als Hauptfache
hervorgehobenen Vergleichspunkt, das Werden des
neuen, freien, fittlichen Menfchen. Wir flammen K. bei,
wenn er Luthers ,du follft wohl, aber du kannft nicht' und
Kants ,du kannft, denn du follft' nicht als fleh ausfchließende
Gegenfätze beurteilt; denn auch Kant verbietet es nicht,
die Kraft des guten Willens als Gottes Gnadengabe anzuflehen
. Es ift auch richtig, daß Theonomie und Autonomie
nur verfchiedene Ausdrücke für diefelbe Sache
fein können. Dennoch bleibt ein tiefgehender Gegenfatz
beliehen, weil nach Kant die befreiende, meinetwegen
erlöfende Kraft vom Gefetz ausgeht, während für Luther
ein religiöfes Erlebnis, die am Evangelium erfahrene
Gottesgnade, auf der Schwelle des neuen Lebens fteht.
Gewiß ift eine innere Verwandtfchaft zwifchen Luther
und Kant zuzugeben, — eine Anzahl der vom Verf. gezogenen
Parallelen können wir anftandslos und gern
paffieren laffen —, gewiß ift Kant der größte Philofoph
des Proteftantismus: trotzdem klafft zwifchen den beiden
ein tiefer Riß, bedingt vor allem teils durch zwei Jahrhunderte
, die in dem Aufgeklärten der Periode Kants
das Weltbild und den Bibelglauben der Periode Luthers
zerftört hatten, teils durch die moraliftifche Einfeitigkeit
des Königsbergers, ein Riß, der auch durch das vorliegende
Büchlein nicht hat überbrückt werden können.

Fallersleben. W. Thimme.

Ernft, Dr. Wilh.: Der Zweckbegriff bei Kant und fein Verhältnis
zu den Kategorien. (Kantftudien. Ergänzungshefte
, Nr. 14.) (IV, 82 S.) gr. 8°. Berlin, Reuther &
Reichard 1910. M. 3 —

Das Verhältnis von Zweckbegriff und Kategorien foll
in diefer Schrift fo betrachtet werden, daß nicht der
Zweckbegriff an die Kategorien, fondern diefe an den
Zweckbegriff zur Vergleichung herangebracht werden.
M. a. W., der Verf. will nachweifen, daß die Kategorien
bei Kant allmählich zu dem Niveau lediglich regulativer
Ideen der erkennenden Vernunft herabfinken. Nach einem
Überblick über die Fmtwickelung der Teleologie Kants
ftellt er feft, daß der Zweckbegriff unter die Gefichts-
punkte, nach denen die Kategorientafel aufgeftellt ift,
nicht paßt. Er ift nur auf Organismen anwendbar und
dient als regulatives heuriftifches Prinzip. Umgekehrt
aber follen die Kategorien einen andern Charakter befitzen,
aE Kant ihnen zugefchrieben hat. 1) ift ihre Ableitung
aus der Urteilstafel verfehlt (S. 43 fr.), weil die Urteile der
formalen Logik, einer ,analy tifchen Wiffenfchaft' angehören,
alfo dort keine neue Erkenntnis zu finden ift. Aber
Kants ,tranfzendentale Logik' und .Analytik der Begriffe'
ift in der Tat nichts anderes als die Vernunftkritik felbft
(,daß wir fie — die Begriffe — im Verftande allein als
ihrem Geburtsorte auffuchen', Kr. d. r. V.2 90). Zuzugeben
ift, daß Kant fleh nicht klar wurde, inwiefern die formal-
logifchen Urteile diefen tranfzendentalen Verknüpfungen
parallel laufen. Dies ift der Fall, weil die Urteile nur
eine Bewußtmachung der vom Verftand vorher vollzogenen
fynthetifchen Verknüpfungen find. Infofern bringen die
Urteile keine neue Erkenntnis, fondern nur eine Aufhellung
dunkler unmittelbarer Erkenntnis und dienen mit Recht
als Leitfaden zur Auffindung jener an fich dunklen Ver-
k'uipfungsformen in den Kategorien. Auch die Kritik, die I

der Verf. an der Ableitung mehrerer einzelner Kategorien
aus beftimmten Urteilsformen übt, dürfte fich widerlegen
laffen.

2) Der Nerv des Beweifes aber liegt in dem Gedanken
daß die Kategorien unvermerkt zu .Poftulaten' werden.
Die ,Dinge an fich' geben den erften Anhalt hierbei: die
Kategorien find nur Gefetze, die die objektiven Verknüpfungen
der Dinge wiedergeben, alfo nicht Naturgefetze
fondern Denkgefetze, d. h. ,Poftulate'. Zugegeben, daß
das ,Ding an fich' Kants Lehre verwickelt und wider-
fpruchsvoll macht, fo fcheint obige Schlußfolgerung doch
nicht berechtigt, da die Kategorien eben dann die objektiven
Gefetze der Dinge an fich wiedergeben, alfo eben
keine bloßen Poftulate find. Ebenfo heißen die aus den
.dynamifchen Kategorien' hergeleiteten Grundfätze (Kr.
d. r. V.2 220ff.) regulativ doch nicht in dem Sinn wie die
Zweckidee; diefe lenkt den Verftand auf andere, kate-
goriale Verknüpfungen, ohne felbft die gleiche Dignität
zu befitzen, die dynam. Grundfätze aber haben diefelbe
Gewißheit wie die mathematifchen (Kr. d. r. V.2 221) und
dienen nicht regulativ für den Verftand, um ihm den
Weg zu weifen, fondern für das Dafein der Gegenftände,
alfo höchft objektiv. Es ift nur der gleiche Ausdruck,
der hier verleiten kann die dynam. Kategorien der Zweckidee
gleichzufetzen. Mehr Gewicht für die Anficht des
Verf. hat allein die .Antinomie der Urteilskraft' (Kr. d. U.
§ 70), wo Kant dem Kaufalgefetz wie der Finalverknüpfung
nur regulative Bedeutung zugefteht ftatt konftitutiver.
Aber wohlverftanden für die (fubjektive) reflektierende
Urteilskraft als Wegweifer für zwei verfchiedene Bahnen
der Reflektion, aber nicht für das Wefen der Dinge. Daher
find beide Wege, der kaufale wie der finale als fubjektive
Prinzipien vereinbar. Das objektive Prinzip der
Möglichkeit der Dinge für die beftimmende Urteilskraft
bleibt nach wie vor die kaufale Verbindung. Die Teleologie
ift eine Idee (Kr. d. U. § 70. 71. 81). So behält
auch hier die Kategorie der Kaufalität ihre Dignität. Zum
Schluß leitet Verf. den Zweckbegriff aus dem Bereich der
Ethik ab und zeigt feine Ausmündung in die Gottesidee
(moralifcher Beweis). Hierdurch zeigen fich am klarften
die beiden grundverfchiedenen Sphären, in denen Kategorien
und Zweckbegriff gültig find: das Reich des Natur-
gefetzes und das Reich der Idee.

Göttingen. E. Kohlmeyer.

Hanne, Paft. emer. Lic. Dr. J. R.: Fritz Reuters Religion. Ein

Gedenkblatt zum ioojähr. Geburtstage des Dichters.
Wismar, Hinftorff 1910. (31 S.) gr. 8» M. —50

Die Schrift gibt eine anfpruchslofe, fchlichte und fym-
pathifche Überficht über die wichtigften Züge in Reuters
Frömmigkeit. Gottvertrauen, Liebe, Hoffnung und Un-
fterblichkeitsglaube find die wichtigften Merkmale; frohe
Weltoffenheit und Verehrung für die Bibel verleihen ihnen
eine befondere Färbung; dabei ift das Ganze kein totes
Abftraktum, fondern ein lebendiger Quell, der den Idealismus
R.s innerlich befruchtet. Hanne fchildert fo, daß
der Lefer zugleich eine fchöne Blütenlefe von Stellen
und eine gewiffe Fühlung mit den wichtigften Perfönlich-
keiten in R.s Dichtung erhält.

Nicht ganz richtig fcheint mir die Behandlung des
vielgenannten wunden Punktes im Leben des fittlich und
religiös fo hochftehenden Mannes. Gewiß ift lieblofe
Sittenrichterei pharifäifch. Aber wenn man im religiöfen
Zufammenhang einmal die periodifche Trunkfucht R.s berührt
, dann darf man es nicht als eine .Erledigung' der
Sache bezeichnen, wenn A. Wilbrandt hier im ausdrücklichen
Gegenfätze zur Einzelfchuld lediglich von einer
.fchmerzlichen Folge der gebrechlichen Welteinrichtung'
fpneht (S. 5 f.) Hanne ftraft fich felber Lügen, indem er
gleich darauf fehr richtig betont, daß R. fich felbft diefe
feine Krankheit durchaus als fittliche Schuld angerechnet