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Ausgabe: | 1911 |
Spalte: | 558-559 |
Autor/Hrsg.: | Reichert, Otto |
Titel/Untertitel: | D. Martin Luthers Deutsche Bibel 1911 |
Rezensent: | Drescher, Karl |
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Theologifche Literaturzeitung 191-1 Nr. 18.
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Leibs noch manche Lücke. Namentlich wäre die Frage
einer Unterfuchung wert gewefen, ob Leib nicht auf der
Univerfität Ingolftadt, die doch Rebdorf nahe genug lag,
den Grund zu feiner reichen humaniftifchen Bildung
gelegt hat, war doch diefe Univerfität am Ende des 15.
Jahrhunderts eine Pflegerin der humaniftifchen Studien.
Zwar ift die Matrikel immer noch nicht erfchienen, aber
eine Nachfrage hätte fleh gelohnt. Die Wendung in den
Anfchauungen Leibs, der fleh erft für Hutten begeiftert
hatte und, wie Deutfch wahrfcheinlich macht, auch für
Luther Sympathien hegte, aber dann mit andern Humani-
ften völlig andere Wege einfehlug und fogar ein Schmähgedicht
auf Hutten machte, wäre in ihrem Beginn und
Verlauf noch fchärfer zu Unteraichen. Es ift auffallend,
daß ein Mann, der die Schäden der Kirche klar erkannte
und befonders die Habgier der Kurie verabfeheute, für
das eigentliche Wefen der Reformation und ihre tiefften
Wurzeln kein Verftändnis hatte. Wer, wie Leib, den
Stolz, die Überhebung und den daraus fleh ergebenden
Eigenfinn für die letzte Triebfeder im Werk Luthers an-
fehen kann, der kann ,ein treuer und überzeugter Sohn
der Kirche'(S. 48) fein, aber die Religion in ihrem innerften
Kern als eigene Überzeugung, als Glaubensgewißheit ift
ihm ein verfchleiertes Bild. Leib ift ein neues Beifpiel
für die Unfähigkeit des Humanismus zur Reformation
der Kirche. Ift aber einmal die Kirche mit ihrer Tradition
, ihren Ordnungen und ihren Hilfskräften, den Orden,
der beherrfchende Gefichtspunkt geworden, dann fehlt es
auch an der Fähigkeit den abweichenden Standpunkt
billig zu beurteilen. Diefen Mangel des objektiven Ürteils
hat Deutfch fowohl bei den polemifchen wie den hifto-
rifchen Schriften Leibs ehrlich anerkannt. Er gefleht zu,
daß Leibs Kritik an Luther manchmal zum .kleinlichen
Mäkeln' wird (S. 136). Es ift fchon bezeichnend, daß bei
feiner Kritik der Lutherbibel ein Emfer zur Autorität
wird. Der Mann, der fleh einft von Ecks Wefen ab-
geftoßen fühlte, tritt ihm etwas näher, der verbitterte
Cochläus wird fein Freund, den heftigfiten Gegnern der
Reformatoren fchließt er in Regensburg fleh an, Melanchthon
ift ihm ein ,iniquum sathanae instrumentum' (S. 128), in
dem der Dämon fleckt (S. 99), Luther ein Sohn des
Teufels, ein Verbrecher (S. 163). Beim Regensburger
Gefpräch fitzt er als Gaft des Bifchofs von Eichftätt
zwifchen Butzer und Piftorius, ohne ein Wort mit ihnen
zu wechfeln (S. 129). Die Schranke, welche der kirchliche
Standpunkt für Leib bildete, machte fich in feinen Schriften
überall bemerklich. ,Die polemifche Schriftftellerei', bekennt
Deutfch, .erhebt fich nicht irgendwie' ,über den
Durchfchnitt der katholifchen Kontroversliteratur feiner
Zeit' (S. 144). In feinen hiftorifchen Schriften beherrfcht
Reichert, Pfr. Lic. O.: D. Martin Luthers Deutfche Bibel.
1.—6.Taufend. Mit 1 Fakfimiletafel. (Religionsgefchicht-
liche Volksbücher f. die deutfche chriftl. Gegenwart.
IV. Reihe. 13. Heft.) (44 S.) 8°. Tübingen, J. C. B.
Mohr 1910. M. — 50; geb. M. — 80
Die kleine, vortreffliche Schrift fchöpft zum Teile aus
völlig neuem Materiale, das für die Forfchung über Luthers
deutfche Bibelüberfetzung in Zukunft mit grundlegend
fein wird. Im Jahre 1894 hatte D. G. Buchwald auf eine
Reihe von Handfchriften in Jena aufmerkfam gemacht,
die zwar nicht unbekannt, aber unbeachtet dort ruhten
und die wohl für die Gefchichte der Bibelüberfetzung
Ausbeute erhoffen ließen. Seit 1905 hat dann O. Reichert
diefe Handfchriften fyftematifch unterfucht. Es handelte
fich hierbei in erfter Linie um die Originalprotokolle der
Sitzungen, die Luther mit feinen Freunden in den Jahren
des mühfamen, zum Teil erneuten Ringens um den deut-
fchen Bibeltext 1531 ff., fowie 1539—41, in Neufchöpfung
des Alten und in fteter Befferung am Neuen Teftamente,
abgehalten hat. Die Niederfchriften beziehen fich auf
das ganze Alte Teftament (die Pfalmen in zweifacher Behandlung
) und Teile des Neuen; bei letzteren find leider
einzelne Stücke der Handfchrift verloren. Zu diefem
Materiale kommt aber noch mehr: der Inhalt der beiden
bisher noch nicht ausgefchöpften Handexemplare Luthers
(AT. 1538: N.T. 1540). Sie verdanken ihre Wichtigkeit
den zahlreichen von Luthers Hand eingetragenen
Änderungen und unermüdlichen Befferungsverfuchen, gehören
mit jenen Protokollen organifch zufammen und
begründen mit ihnen durch die Bedeutsamkeit des beider-
feitigen Inhaltes geradezu einen neuen Abfchnitt in der
Gefchichte des Lutherfchen Bibeltextes. Dies gefamte
Material wird demnächft von Reichert in der großen
Weimarer Lutherausgabe in kritifch-hiftorifcher Behandlung
der Öffentlichkeit vorgelegt werden (beginnt mit Bibel
Bd. III, der im Herbft 1911 erfcheint).
Durch diefe kritifche Arbeit ift nun Reichert zur Zeit
allerdings wie kein Anderer im Stande, Neues über Luthers
Bibelüberfetzung beizubringen, und es ift ihm auch gelungen
, diefes Neue in höchft überfichtlicher und klarer
Weife herauszuarbeiten und mit dem fchon Bekannten
organifch zu verfchmelzen. Kurz und knapp und doch
im allgemeinen erfchöpfend werden in dem kleinen Heftchen,
deffen befcheidener Ümfang den reichen Inhalt nicht von
vorneherein vermuten läßt, die hiftorifchen, kritifchen,
exegetifchen und fprachlichen Vorausfetzungen zur Bibel
aufgewiefen. Zunächft wird Luthers Verhältnis zur la-
teinifchen Kirchenbibel und zur vorreformatorifchen deut-
fchen Bibel, dann Luthers eigene Vorfchule zu feinem Werk
das Dogma die Auffaffung der Gefchichte. Es ift für ! erörtert, fo feine Kenntniffe des Griechifchen, Hebräifchen
Leib .geradezu unmöglich', ,die Reformation kritifch zu und — wobei R. mit Recht länger verweilt — feine
beurteilen' (S. 162). ,Was er von Luther wußte, rührte [ Stellung zum Deutfchen. Es folgt dann eine gefonderte
größtenteils von lutherfeindlichen Schriften' her oder auch Befprechung der vollendeten erften Überfetzung des Alten,
>vom Hörenfagen' (S. 163). Aber doch verdanken wir
Leib eine Reihe wertvoller Nachrichten. So ift die Angabe
von Luthers Worten bei Verbrennung der Bann-
fowie des Neuen Teftamentes und der Vollbibeln, und
hieran fchließt fich die eingehende Würdigung der Tätigkeit
der Bibelrevifionskommiffion von 1531 fowie derjenigen
bulle (S. 176) beachtenswert. Durchaus anzuerkennen ift , von 1539—41 und die Befprechung des Handexemplars
die Lauterkeit des Charakters und die Sittenreinheit des 1 des Alten Teftamentes. Für das Neue Teftament find beim
Propfts von Rebdorf hart neben der durch ihre Unfittlich- Fehlen eines gefchloffenen Protokolles die Verhältniffe
keit verrufenen hohen Geiftlichkeit in Eichftätt (Zimmerifche augenblicklich noch nicht ganz geklärt. Man kann es dem
Chronik 3,131). Kein Wunder, daß es Leib gelingt, fein
Klofter auch wirtfehaftlich über Waffer zu halten, während
die moralifche Verkommenheit anderer Klöfter fich im
Ruin ihrer Einkünfte rächt
Deutfch hat fich ein offenes Auge und ein nüchternes
Urteil gegenüber feinem Gegenftand bewahrt.
Vgl. z. B. fein von O. Clemen (RE. 18, 783) abweichendes Urteil
über Leibs Nachricht von Luthers Doktorpromotion (S. 93 ff.). Bifchof
Chrifloph von Pappenheim war Marfchall, aber nicht Landgraf (S. Iii),
diefen Titel erbte fein Gefchlecht erft 1582.
Stuttgart. G. B offert.
Verfaffer wohl nachfühlen, wenn er hier, von feinem neuen
Materiale getragen, feinen Ausführungen etwas breiteren
Raum gönnt und man wird das bei der völligen Neuheit
des Vorgetragenen nicht als Nachteil empfinden, fpürt
man doch auf Schritt und Tritt in der fchlagenden,
manchmal geradezu fpannend wirkenden Auswahl der
Beifpiele, die oft lange Auseinanderfetzungen fehr gefchickt
erfetzen, wie fehr der Verfaffer fein reiches Material beherrfcht
. Auf die ganze Arbeit an der Bibelüberfetzung
feit 1531 fällt durch diefe Darlegungen R.s ein völlig
neues Licht, und niemand wird die kleine Schrift ohne
reiche Belehrung lefen. Ich felbft freue mich befonders,