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Ausgabe:

1911 Nr. 18

Spalte:

551-555

Autor/Hrsg.:

Schilling, Otto

Titel/Untertitel:

Die Staats- und Soziallehre des hl. Augustinus 1911

Rezensent:

Koch, Hugo

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Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 18.

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fucht und unter denen er auch die neuteftamentlichen
Namen bei paffender Gelegenheit wieder eingeführt hat:
Lydia in Thyatira und Appia in Koloffä-Chonä.

Die wertvollften Teile des Buches bilden die Material-
fammlungen in dem jeweiligen zweiten Abfchnitt. Die
Zuverläffigkeit der Angaben nachzuprüfen ift mir nicht
möglich und auch im Rahmen diefer Zeitfchrift nicht
angängig. Mehr als eine Materialfammlung vermag L.
übrigens nicht vorzulegen. Es gelingt ihm trotz aller
Wärme der Empfindung und trotz aller Überfchweng-
lichkeit des Tones nicht, das Leben aus den Ruinen
hervorzuzaubern; eine Orientierung an der antiken Kultur-
und Religionsgefchichte, die gerade für die Gefchichte
der chriftlichen Anfänge in Kleinafien notwendig und
fruchtbar wäre, wird nicht einmal verfucht; überhaupt
tritt ein tieferes Intereffe an der vorchriftlichen Vergangenheit
nicht hervor. Der pergamenifche Zeusaltar
ift ihm doch nur der ,Satansthron' der Apokalyfe, und
er photographiert die Trümmerftätte, während ein Priefter
auf einem Steine fteht, dem Sieg des Chriftentums zum
Zeichen!!

Noch weniger Wert haben die gefchichtlichen Ab-
fchnitte. Denn vor allem fehlt es hier an jeder Kritik
der Überlieferung; wo einmal eine Frage aufgerollt wird,
wie in der Gefchichte von Ephefus das Johannes-Problem,
fällt die Behandlung kläglich aus. Sodann hat der Autor
den wiffenfchaftlichen Wert feines Buches wefentlich herabgemindert
durch den an vielen Stellen gehäuften, wert-
lofen, weil auf ganz perfönliche Verhältniffe fich beziehenden
Notizenkram, durch den der Lefer fich hindurchzuarbeiten
hat. So ift ihm nur ein halbwiffenfchaftliches
Buch geraten, das anderfeits für eine populäre Reife-
befchreibung doch viel zu umfangreich geworden ift.
Einen ähnlichen Eindruck machen die Bilder, die dem
Werk in großer Zahl, aber in zum Teil ganz ungenügenden
Reproduktionen beigegeben find: biblifche Szenen
und Reifeerlebniffe, Denkmäler und Perfonen aus des
Autors Familie, Landfchaften und griechifche Priefter
der Gegenwart — fo wird man in buntem Wechfel von
einem zum andern geführt.

Einen originellen und fympathifchen Eindruck wird
gerade bei dem wefteuropäifchen Lefer der nationale
Unterton des Ganzen hinterlaffen. Es herrfcht bisweilen
eine ganz eigenartige Stimmung, aus chriftlichem und
hellenifchem Empfinden wunderfam gemifcht. In be-
geifterten Worten gibt der Verf. feiner glühenden Verehrung
für die neuteftamentlichen Schriften Ausdruck,
die ihm Denkmäler nicht nur feiner Religion, fondern
auch feiner Mutterfprache find. Es hat etwas Rührendes,
zu lefen, wie der Autor den Spuren diefer Sprache nachgeht
und wie er es z. B. in Koloffä-Chonä beklagt, daß
mit dem Griechifchen auch die Erinnerung an die Paulusbriefe
gefchwunden ift. Und wir wundern uns nicht, auf
den erften Blättern des Buches die ftolzen Worte zu lefen:
öogaöaxe top &eov, ort eyevvrj&rjTE EXXrjvEß, xsxva xrjg
tvyevEOxsQag xal svöo^oxsQag (pvXrjg xov KoO/iov.

Berlin. Martin Dibelius.

Weinand, Heinrich: Die Gottesidee der Grundzug der Welt-
anlchauung des hl. Auguftinus. (Forfchungen z. chriftl.
Literatur- und Dogmengefch. X. Bd. 2. Heft.) Paderborn
, F. Schöningh 1910. (VIII, 135 S.) gr. 8° M. 4.50

Schilling, Dr. sc. pol. Otto: Die Staats- und Soziallehre
des hl. Auguftinus. Freiburg i. B., Herder 1910. (X,
280 S.) gr. 8° M. 5.60; geb. M. 6.50

Es war ein glücklicher Gedanke, die Weltanfchauung
Auguftins, diefer eminent religiöfen Perfönlichkeit, einmal
prinzipiell und im Zufammenhang unter den Gefichtspunkt
der Idee zu rücken, von der fie wie von einer Königin
beherrfcht, wie von einer Zentralfonne durchwärmt und

durchleuchtet ift, feiner Gottesidee. W. zeigt in , feiner
fchönen und gehaltvollen Studie, wie die Gottesidee fchon
Auguftins Entwicklung bis zu feiner Bekehrung beherrfcht,
wie fie von da an in feinen Gedanken über das wahre
Glück, die Wiffenfchaft, die Tugend, das Böfe, die Welt,
die Seele, die Kirche, die Gnade, noch viel mehr die
Dominante bildet und fo feiner ganzen Weltanfchauung
die Grundftimmung gibt. Dabei ift W. — im Unter-
fchied von Bardenhewer, Patrologie3 1910, 413 — in der
Streitfrage über Auguftins geiftige Entwicklung kritifch
genug, um die Diskrepanz zwifchen den philofophifchen
Schriften, die Auguftin gleich nach feiner Bekehrung in
Cafficiacum verfaßt hat, und feinen Ausfagen in den bedeutend
fpäter gefchriebenen Konfeffionen zur Geltung
zu bringen und erfteren als Quellen in mancher Beziehung
den Vorzug zu geben (S. 3 f. 33), kritifch genug, um zu
fehen, daß Auguftins Entwicklung eigentlich nie aufhörte,
daß er nie zu den Fertigen gehörte, denen nichts recht zu
machen ift, fondern zu den ftets dankbaren Werdenden.

Der Neuplatonismus war für Auguftin Brücke und
Vorhalle zum Chriftentum. ,Da kam auch ihm die
Stunde von Damaskus. Nicht Plato oder Plotin, nicht
Paulus oder Ambrofiius gaben ihm feinen Gott — der-
felbe Gott, der dem Leben des Paulus feine Wendung
gegeben, griff ein, ebenfo unmittelbar in jenem Garten
zu Mailand, wie einft vor den Toren von Damaskus'
(S. 25). Auguftins ,Bekehrung' faßt aber W. mit Recht
nicht als augenblicklichen völligen Bruch mit feiner
philofophifchen Vergangenheit. Er gibt zu, daß ,nicht
ohne eine gewiffe Berechtigung behauptet werden konnte',
die unmittelbar darnach verfaßten Schriften feien nichts
anderes als eine Repriftinierung heidnifch-philofophifcher
Gedanken mit chriftlichem Einfchlag und chriftlicher Färbung
(S. 34). Selbft die platonifche Präexiftenz der
Seelen hat Auguftin damals noch feilgehalten (S. 36.
38. 86 f.), wie ihm auch die katholifche Kirche fall nur
als Lehrerin der Wahrheit, noch nicht als Gnadenvermittlerin
erfchien (S. 100). ,A11 diefe Äußerungen erklären
fich daraus, daß damals für Auguftinus, ganz im
Geifte der neuplatonifchen Philofophie, philofophifches
Denken und religiöfes Erfaffen identifch war' (S. 36).
Damals war ihm noch die Vernunft dux ad Deum (S. 36),
noch in den Konfeffionen bekennt er, daß die Philofophie
ihn dem Chriftentum nahe gebracht, freilich auch aufgebläht
und ftolz gemacht habe (S. 44), in den Retrak-
tationen aber findet er kein Wort des Lobes mehr für
fie; er weiß nur, daß fie den Stolz nähre (S.45). Auguftin
war eben ein anderer geworden und von der Höhe feines
religiöfen Denkens aus verachtete er nun die natürlichen
Stützen, die ihm emporgeholfen hatten. Auch in feiner
Gnadenlehre ,welch ein Wandel von jener Zeit, wo er
fchrieb: Nihil tarn in nostra potestate quam ipsa volun-
tas est, bis zu feinem: Non enim in potestate nostra
cor nostrum et nostrae cogitationes!' Gerade hierin hat
Auguftin fein Motto ,Totum Deo dandum est' bis zum
letzten Punkt durchgeführt.

Die Literaturbenützung ift nicht auf der Höhe, obwohl
es Weinand, der feine Studie bei der theologifchen Fakultät
zu Freiburg i. Br. mit Erfolg als Promotionsarbeit einreichte
und das Vorwort aus Schlachtenfee b. Berlin datiert
, an Gelegenheit dazu kaum gefehlt hat. So vermiffe
ich zu S. 123 das Buch Scheels, die Anfchauung Auguftins
über Chrifti Perfon und Werk 1901, zu S. nof. die in
denfelben ,Forfchungen zur chriftl. Literatur- und Dogmengefch
.' erfchienene Schrift von Romeis, das Heil des
Chriften außerhalb der wahren Kirche nach der Lehre
des hl. Auguftin 1908, und wo er vom Einfluß des Neuplatonismus
auf Auguftin handelt, hätte er in meinem
ebenfalls den ,Forfchungen' angehörenden Buche über
Pf.-Dionyfius 1900 manch einfchlägigen Gedanken gefunden
. Bardenhewers Patrologie ift im Literaturverzeichnis
S. VII nach der erften Auflage 1894 angegeben,
S. 23 A. 1 nach der zweiten Auflage 1901 zitiert.