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Ausgabe:

1911 Nr. 17

Spalte:

534

Autor/Hrsg.:

Die Religion im Leben der Gegenwart. Vier Vorträge von K. Sell, M. Rade

Titel/Untertitel:

G. Traub, H. Geffcken 1911

Rezensent:

Foerster, Erich

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Seite 1

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533

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 17.

534

und ihre wichtigften Triebkräfte find Veränderungen der
fozialen Verhältniffe und ethifche Ideen. Wenn auch
Gefühl, Wille und Intellekt zugleich am religiöfen Leben
beteiligt find, fo überwiegt doch, namentlich in früheren
Zeiten, das Gefühl. Es ift das fundamentale Element.
Aus Furcht und Vertrauen gemifcht und ftets von fozialen
Beftrebungen irgend welcher Art begleitet, ift es
anfangs heftiger und ungeftümer, fpäter gleichmäßiger
und ruhiger und wirkt bald als ,ftimulierender', bald als
,konfervativer' Faktor. Etwas anders das intellektuelle
Element, das Denken. Urfprünglich fchwächer, fpäter
ftärker am religiöfen Leben beteiligt, urfprünglich naiver,
fpäter mehr reflektiert, aber immer auf die Bildung und
Geftaltung einer, wefentlich durch emotionale Vorgänge
beftimmten, Weltanfchauung gerichtet, erzeugt es erft
einfache, unverbundene religiöfe Vorftellungen, dann
Mythen, Kosmogonien, fchließlich eine Theologie, die es
auf die Deutung der religiöfen Erfahrung abgefehen hat,
jedoch zum Zweck der Auseinanderfetzung mit demWiffen
der Religionsphilofophie bedarf. Was endlich den Willen
betrifft, fo wird er durch das religiöfe Gefühl und die
religiöfe Überzeugung beeinflußt, ift aber auch umgekehrt
nicht ohne Einwirkung auf fie. Zum Ausdruck
kommt er vor allem im Kultus, der je länger je mehr
fleh vergeiftigt und ethifiert.

Nachdem der Autor noch einmal auf die Bedingungen
der religiöfen Entwicklung zurückgegriffen und feftgeftellt
hat, daß, was dahinterfteckt, letzterdings die ,menfchliche
Natur' fei, ,die fleh weigert mit irgend einer nur teilweifen
Vollendung ihrer felbft fleh zufrieden zu geben',
wendet er fleh, anders als die meiften mit der religiöfen
Evolution fleh befchäftigenden englifchen Religionsphilo-
fophen, der Frage nach dem Wert und der Geltung der
Religion zu. Er legt erft dar, daß zwifchen Religion
und Ethik, .wenn fie fleh gleich allmählich differenziert
haben, ein innerer Zufammenhang beftehe, daß die eine
die andere gleichfam fordere, und führt dann, vielfach an
Lotze fleh anlehnend, vermittelft zweier Poftulate, deren
eines auf die Tatfache der Wechfelwirkung, deren anderes
auf den Wert des fittlich Guten fleh ftützt, eine Art
Beweis für das Dafein Gottes. Ein letztes Kapitel befaßt
fleh noch kurz mit dem Problem des Übels, der
Unfterblichkeitslehre und der Frage nach dem Verhältnis
der religiöfen Entwicklung zur Gottesidee.

Im einzelnen enthält die Publikation nicht viel Neues;
aber als Ganzes ift fie originell und beachtenswert allein
fchon infofern, als fie auf die hiftorifch-pfychologifche
Betrachtung eine erkenntnistheoretifch-apologetifche folgen
läßt. Gerade der zweite Teil, der von ausgezeichneter
Kenntnis der deutfehen Philofophie zeugt, enthält manche
feine Beobachtung und Reflexion, die hier unerwähnt
bleiben mußte. Aber nicht minder intereffant ift der
erfte Teil, weil er mit den Durchfchnittsanfchauungen,
die er enthält, zeigt, welche Wandlung fpeziell auch die
an die Ergebniffe der Anthropologie anknüpfende eng-
lifche Religionsphilofophie durchgemacht hat. Wie weit
ift doch die vorgetragene, die emotionale Grundlage fo
ftark betonende, Auffaflung vom Wefen der Religion
entfernt von der durch A. Comte beeinflußten Anfchau-
ung Tylors und notabene auch Spencers, daß es fich
in erfter Linie um einen primitiven Verfuch der Welterklärung
handle 1 Es ift weiter der Mühe wert, zu vermerken
, wie rückhaltlos vom Autor anerkannt wird,
daß es keine Religion gebe ohne ,Vertrauen': ,even in
the rude beginnings of religion trust is the antidote of
fear'. Aber auch darauf fei verwiefen, daß Galloway
die Meinung, es exiftierten primitive Religionen ohne
jeden ethifchen Gehalt, fallen läßt und bekämpft. In
Deutfchland begegnet man noch immer der auf Waitz'
Anthropologie fich ftützenden Anficht, bei den Naturvölkern
habe die Religion mit der Moral nichts zu tun;
während doch fchon Gerland, der Fortfetzer und Vollender
des fonft fo vortrefflichen Waitzfchen Werks, eine
diametral entgegengefetzte Lehre vertritt.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Die Religion im Leben der Gegenwart, Vier Vorträge von
K. Seil, M. Rade, G. Traub, H. Geffcken. Leipzig
, Quelle & Meyer 1910. (VI, 137 S.) 8°

M. 1.80; geb. M. 2.40

Die in diefem hübfeh ausgeftatteten Bändchen vereinigten
vier Vorträge find aus der rheinifch-weftfälifchen
Bewegung der Freunde evangelifcher Freiheit entftanden;
fie bilden zufammen eine Vortragsreihe und find im Winter
1909/10 in Köln gehalten. Alle vier Vorträge haben ein
Gemeinfames: fie ftellen der Religion geiftige Mächte
gegenüber, erweifen die Unabhängigkeit und Selbftän-
digkeit jeder derfelben und zeigen dann, wie fie fich mit
der Religion als verfchiedene Betätigungen desfelben
Menfchengeiftes vertragen, fie ftützen und von ihr Stütze
empfangen. Eine innere Einheit ift vorhanden, fie befteht
in der Methode, in der Betrachtungsweife der behandelten
Dinge. Um fo reizvoller ift dann die Verfchiedenheit der
Temperamente der einzelnen Redner und ihrer Redeweifen.

Ich verzichte darauf, den Inhalt diefer Vorträge zu
befprechen. Dagegen muß ich als Einer, der fich felbft
in ähnlicher Vortragstätigkeit verflicht hat, ein Wort
darüber fagen, ob diefe Vorträge ihrem Zweck ent-
fprechen, der nicht nur Anregung des Intereffes an religiöfen
Fragen, fondern auch Erweckung praktifchen
religiöfen Sinnes fein foll. In diefer Hinficht fcheint mir
der dritte Vortrag, von Traub, der gelungenfte zu fein.
Aus ihm muß der Hörer eine Fülle von Gewiffensfragen
und Impulfen zum Handeln mit weggenommen haben.
Die Betrachtung läuft hier aus in eine Darftellung deffen,
was fein follte und was wir tun follen, während die beiden
erften Vorträge fich vielmehr darauf befchränken, zu zeigen,
was ift und immer fein wird, und auch der letzte den warmherzigen
Appell, mit dem er fchließt, mehr anfügt, denn
als Ziel hervorgehen läßt. Ich zweifle daran, daß die
Hörer ohne weiteres imftande find, felbft die Anwendung
der im erften Vortrage enthaltenen Grundfätze, z. B. auf
Häckels Naturphilofophie zu vollziehen, und nach den
Darlegungen des zweiten Vortrages eine Zeiterfcheinung,
wie die ,Neue Ethik', zu durchfehauen.

Eine zweite Frage, die ich doch nicht ganz unterdrücken
kann, ift die, ob die Vorträge nicht zu hoch
oder zu fchwer find. Daß wir immer noch nicht genug
gelernt haben, ganz einfach und verftändlich zu fein, ift
mein ftarker Eindruck, wie von diefer, fo von mancher
I ähnlichen Vortragsreihe. Auch hierbei wieder fcheint mir
Traub den Ton am glücklichften getroffen zu haben,
nur ift fein Vortrag reichlich lang und holt weit aus.
Rades Vortrag hat vor allen andern den einer äußerft
deutlichen Dispofition und Abfetzung der einzelnen Teile
gegeneinander voraus. Seil ift ein Meifter in wundervollen
Formulierungen, aber der Gedankengang ift viel
fchwerer zu erkennen. Geffcken fpricht am einfachften,
aber er fpannt nicht. Jedenfalls muß der Hörerkreis,
der diefe vier Vorträge, wie ich weiß, mit gleichbleibendem
Intereffe gehört hat, als ein fehr hochftehender anerkannt
werden. Es ift ein erfreuliches Zeichen für den
Ernft der rheinifchen Bewegung, daß folche Vorträge
Anklang finden. Weder blendende Apologetik noch
aufregende Agitation wird hier geboten, fondern eine
Gedankenarbeit, die Refpekt abnötigt. Gewiß ift das
ein Weg zur Erweckung und Belebung der Religion,
der Verheißung hat.

Frankfurt a. M. E. Foerfter.