Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1911 Nr. 1

Spalte:

529-530

Autor/Hrsg.:

Vietor, Lukas

Titel/Untertitel:

Schleiermachers Auffassung von Freundschaft, Liebe und Ehe in der Auseinandersetzung mit Kant und Fichte 1911

Rezensent:

Scholz, Heinrich

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

529

Theologifche Literaturzeitung 1911 Nr. 17.

der Habsburger auf dem Breslauer Stuhl Karl (1608 ff.)
wünfcht auch die Einmifchung des Polenkönigs, alfo einer
fremden Macht, in deutfche Verhältniffe (S. 195), wie im
Werten die Spanier als Nothelfer herbeigezogen wurden.

Das Bild, das wir erhalten, ift vielfach zu ergänzen
und neu zu prüfen. Die oben genannten Akten des Züricher
Staatsarchivs bieten nicht nur für Konftanz, fondern auch
von 1592 an für Oberelfaß, Thann, Murbach, Morand fehr
viel. Die vom Ref. veröffentlichten Konftanzer Vifitations-
protokolle von 1574—1586 (Bl. f. w. K.G. 1891, 1 ff.) kennt
Schmidlin nicht. S. 97 ff. find die Kämpfe um .Weilder-
ftadt' einfeitig dargeftellt. Das Patronatrecht des Herzogs
von Württemberg und die große Zahl der Proteftanten
dort ift ganz überfehen. Die Eile der Arbeit ift da und
dort fpürbar. S. 29 ift die ,monatliche Heiligenverteilung'
unverftändlich. S. 2 Anm. 2 L Sargans, Hohenberg. S. 5
Anm. 2 Schwendi. S. 27 Bühl ftatt Bickel. S. 112 Eberbach
ift im Rheingau, Ebrach in Franken. S. 28 ift Buchau
unrichtig.

Stuttgart. G. Boffert.

Schleiermacher: Über Freundfchaft, Liebe u. Ehe. Eine
Auswahl aus Schleiermachers Briefen, Schriften u.
Reden. (Bibliothek der Gefamtliteratur Nr. 2187—2190.)
Halle a. S, O. Hendel 1910. (XXXII, 238 S.) Kl. 8°
M. —80; geb. M. 1.35; in Gefchenkbd. M. 2 —

Vietor, Lukas: Schleiermachers Auffaflung von Freundfchaft,
Liebe und Ehe in der Auseinanderfetzung mit Kant
und Fichte. Eine Unterfuchung zur Ethik Schleiermachers
. Diff. (Erlangen). Tübingen, (J. C. B. Mohr)
1910. (III, 72 S.) 8°

Der fittliche Genius Schleiermachers, von deffen
eminenter Kraft durch das Zeugnis vorzüglicher Geifter
eine fortwirkende Überlieferung auf die Gegenwart gekommen
ift, bietet fich uns in einem felbftgefchliffenen
Spiegel eindrucksvoll und plaftifch dar. Der Spiegel ift
die Dokumentenreihe, die der Göttinger Paftor A. Saat-
h o ff mit gründlicher Kenntnis und feinem Gefühl gefammelt
und für die Hendelfche Bibliothek zu einem Ganzen vereinigt
hat. Durch forgfältig ausgewählte Stücke aus dem
Briefwechfel werden wir in dem erften Teil mit dem
Lebenskreife bekannt, aus deffen Erdreich die fchöne
Blüte Schleiermacherfcher Ich-Befeelung frei und kräftig
aufgeftiegen ift. Wir lernen den Freund und die Freundin
kennen, die ihn aus der Verborgenheit auf den Marktplatz
des Lebens zogen, Friedrich Schlegel, den Plänemacher
, und Henriette Herz, die vornehme, bildend-empfängliche
Seele, die ihn durch ein langes Leben als freund-
lichfter Genius begleitet hat. Wir nehmen teil an der
fchwerften Erfahrung, die Jahre der Kraft und fortfchrei-
tenden Begabung zuerft, als beglückende Hoffnung, erhöht
, dann, durch die gebrochene Haltung der Freundin,
fchmerzlich getrübt, zuletzt, durch Eleonorens Verzicht, in
der Wurzel erfchüttert hat. Wir fehen endlich den mächtigen
Mann mit einer in fchwerfter Seelennot geftählten
und geläuterten Kraft die neue reiche Welt aufbauen, in
der fich das vielfeitige Werk feines Lebens zu überragender
Größe erheben follte. Ein fpätes Glück, der Hausftand
mit Henriette von Willich, wirft ein freundlich-verklären-
des Licht auf die lange Strecke perfönlichften Lebens von
1796—1808, die wir in diefen charakteriftifchen Dokumenten
mit Schleiermacher durchfchreiten.

In einem zweiten Teil find prägnante Stücke aus den
Schriften der romantifchen Epoche gefammelt: revolutionäre
Athenäumsfragmente und Stücke aus den Lucindebriefen
, in denen die neuen Frauenideale und die ethifierten
Naturgrundlagen der Wahlverwandtfchaft und Gefchlechter-
Anziehung mit vielfach verwegener Kühnheit enthüllt
werden, ferner charakteriftifche Abfchnitte aus den Reden
und den Monologen über Freundfchaft und Lebenserhöhung.

Es fpricht der Philofoph und Prophet, der den Menfchen
im Menfchen fuchte und fand, weil er, nach Friedrich Schlegels
treffendem Urteil, felber des hohen Vorrechtes genoß,
ein Menfch zu fein, in dem der Menfch gebildet war.

Endlich, in einem dritten Teil, formt fich aus Traureden
und Predigten das eindrucksvolle Bild der Gefin-
nungen und Gedanken, mit denen die reife Kraft des
Meifters das Wefen und die Störungen der Ehe im Geifte
des Chriftentums durchdacht hat. Das Ganze ift durch
erläuternde Anmerkungen, ein gutes Regifter und eine
wohl gelungeneEinleitung umrahmt und kann allen Schleiermacherfreunden
, den nahen und fernen, warm empfohlen
werden. Nur das verzerrte Porträt am Eingang wäre
beffer fortgeblieben.

Eine kritifch referierende Studie über denfelben
Gegenftand bietet die an zweiter Stelle genannte Differ-
tation. Der Verfaffer geht aus von der Kritik der Sittenlehre
, um an ihr zu zeigen, wie Schleiermacher von Kant
und Fichte abrücken mußte, um Raum zu gewinnen für
den Neubau der fittlich-perfönlichen Welt auf der Grundlage
des Individualitätsprinzips. Es wird deutlich, wie
gerade das Eheproblem den Gegenfatz zur Erfcheinung
bringt. Kant hat die Ehe eigentlich nur als einen Not-
ftand aufgefaßt, der durch die Unwiderftehlichkeit und
Zweckmäßigkeit der gefchlechtlichen Anziehung zu einem
erlaubten Rechtsftand wird. Fichte will fie ethifieren, aber
unter der verwegenen Vorausfetzung, daß die Frau ganz
Aufopferung und Hingebung, der Mann ganz Großmut
und Achtung fei. Schleiermacher, völlig modern, fordert
die Ergänzungsehe auf der Bafis der Ebenbürtigkeit, wie
fie durch das Phänomen der Gefchlechtsdifferenz und das
principium individuationis als ethifcher Ziel- und Vollendungspunkt
durch die Natur felbft vorgezeichnet fei.

Die in den Vorunterfuchungen niedergelegten Beobachtungen
über die Individualitätsidee bei Schleiermacher
und die religiöfe Verankerung feiner ethifchen Prinzipien
find zwar nicht überrafchend neu, aber klar und
richtig gefehen. Befonders zu loben ift die nachdrückliche
Hervorhebung des Punktes, an dem die Religion
der ,Reden' die fittliche Welt der Monologen aus ihrem
eigenften Schöße hervortreibt. Es ift der Zufammenhang
von Weltanfchauung, Selbftanfchauung und Menfchheits-
anfchauung bei Schleiermacher, in dem fich der ,höhere
Realismus' der Religion gegenüber dem .vollendeten und
gerundeten Idealismus der Philofophie' als überlegene
Wahrheit entfaltet, und der, in der Form der Menfchheits-
anfchauung, nur möglich wird durch die hingebendfte Liebe,
deren Preislied die Monologen fingen (S. 43).

Berlin. Heinrich Scholz.

Schleich, Carl Ludwig: Von der Seele. Effays. Berlin,
S.Fifcher Verlag 1910. (334 S.) 8» M. 5 —; geb. M. 6 —

Die Lektüre diefer 17 Effays ift überaus anregend
und genußreich, für den Theologen von befonderem In-
tereffe als Meinungsäußerung eines namhaften praktifchen
Naturforfchers auch zu allerlei Weltanfchauungsfragen.
Den "weiteften Raum freilich hat die Behandlung pfycho-
phyfifcher Probleme.

Schleich lehnt den Materialismus als Weltanfchauung
ab. Seine pfychologifchen Ausführungen klingen freilich
fehr materialiftifch: ,daß jeder unferer Gedanken in feiner
Entftehung genau fo materiell fein muß wie eine vorbeifliegende
Bleikugel' (S. 256); anftatt von Seelen wird
einfach von Gehirnen geredet (261); oder von .Seelenfunktion
' des Organismus (157); .unfere Haut ift ein Teil
unferer Seele' (330); es wird überhaupt durchweg ver-
fucht, dem feelifchen Gefchehen von der phyfiologifchen
Seite aus beizukommen, und mitunter will es beinahe fo
Rheinen, als meine der Verf. in Ernft, mit feinen immer
wiederkehrenden Bildern aus dem Gebiet der elektrifchen
Vorgänge das Pfychifche wirklich reftlos durchleuchtet
zu haben, zumal feine .Hemmungstherorie', auf welche er